Im Feuilleton und an der Uni ist der Begriff schon eine Weile angesagt, spätestens seit 2021 auch in der Lirabelle: Narrative legitimieren den Umgang mit Corona (Jens Störfried) oder das Kleben von CDU-Abgeordneten an ihrem Mandat (Ox Y. Moron); Geschlechterverhältnisse resultieren aus dem modernen Narrativ der Eindeutigkeit (trans*solidarische Vernetzung); die Repression im Antifa-Ost-Verfahren ist Ergebnis eines staatlichen Narrativs über die Täter*innen (Lirabelle-Redaktion); Homofeindlichkeit ist ein verbreitetes Narrativ der extremen Rechten (Fabian); den Überfall vor der Staatskanzlei als Massenschlägerei zu verkaufen, ist ein Narrativ der Behörden, dass von der Presse übernommen wurde (EZRA). Karl Meyerbeer fragt sich, wieso das Modewort jetzt auch in der Lirabelle dauernd vorkommt.
Einfach übersetzt handelt es sich bei Narrativen erst mal um Erzählungen, der Gebrauch legt nahe, dass diese Erzählungen Konsequenzen haben. Das lässt sich im politischen Raum wohl kaum bestreiten: Ob alternative Jugendliche einen Ort zur Selbstverwaltung suchen oder Zecken sich in einer Bruchbude besaufen wollen, macht einen großen Unterschied – obwohl beide Geschichten womöglich den selben Sachverhalt beschreiben. Geht es also einfach um eine Strategie der Außendarstellung? Die Art, wie Jens Störfried und Ox Y. Moron das Wort benutzen, legt das nahe, bei ihnen ist es ein Slogan, ein cooler Spruch, mit dem man das eigene Handeln in der Öffentlichkeit rechtfertigen kann, bei Fabian eine Ideologie der Ungleichheit, bei EZRA eine Rechtfertigung für zurückhaltendes Handeln. Eine eigenständige Geschichte haben die Narrative in diesen Texten nicht, sie sind den sozialen Prozessen, die einer Rechtfertigung oder Begründung bedürfen, nachgeordnet.
Bei der trans*solidarischen Vernetzung ist es nicht ganz so einfach: Das Argument ist hier (wenn ich die Genoss*innen richtig verstehe), dass die Aufklärung zu Beginn der europäischen Moderne Denkformen etabliert hat, die Eindeutigkeit vorgeben. Aufklärerisches Denken sortiert nach klaren Gegensatzpaaren wie Natur–Kultur, Mann–Frau, Geist–Körper. Die Rationalisierung der Verhältnisse, die damit einher ging, hat die Welt verändert und die Menschen verändert. Adorno hat es so gesagt, dass Aufklärung das Inkommensurable (das nicht-messbare) abschneidet. Und auch wenn dieser Jargon manchmal nervt, ist doch im wortwörtlichen Abschneiden eine Wahrheit darüber enthalten, wie Geschlechterverhältnisse bis heute hergestellt werden, nämlich durch chirurgische Eingriffe an nichtbinär geborenen Kindern. Wodurch klar sein sollte: Es geht hier beileibe nicht nur darum, welche Geschichten erzählt werden. Vielmehr sprechen wir darüber, im Umbruch zum Kapitalismus die ganze Welt neu (nämlich zweckrational) geordnet wurde. Das ging mit der Entfaltung einer modernen Philosophie einher, ist aber nicht darauf zurück zu führen: der Kapitalismus kam nicht, weil Mandeville oder Kant so überzeugende Geschichten erzählt haben.
Ähnlich verkürzt wird die Sache im Editorial zum Antifa-Ost-Verfahren dargestellt, hier heißt es, der Staat setze im Kampf gegen die Beklagten im Antifa-Ost-Verfahren auf das Narrativ „kriminelle Vereinigung“. Natürlich ist es für autoritäre Säcke in Politik, Polizei und Justiz hilfreich, diejenigen, die man verfolgen will, als Gangsterbande darzustellen – es verhindert z.B., dass sich allzuviele Leute solidarisieren, es sorgt auch für Jobs im und weitergehende Befugnisse für den Apparat. Die Frage, ob die Beschuldigten tatsächlich als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden, wird aber vor Gericht ausgefochten. Das geschieht auf der Basis von Gesetzen, die weitaus mehr sind als Narrative – ihre Entstehung ist im Rahmen der herrschenden Ordnung recht genau geregelt und sie werden im Zweifelsfall durch direkten Zwang durchgesetzt. Um zu begreifen, was da vor sich geht, muss man also mehr tun, als konkurrierende Erzählungen zu durchleuchten – man müsste sich schon die Mühe machen, die Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Akteur*innen zu analysieren. Dazu gehört natürlich auch eine Vorstellung davon, wie es bestimmten sozialen Gruppen gelingt, ihre Normen und Werte als allgemeine zu setzen. Das ist aber nur ein Aspekt politischer Kräfteverhältnisse. Daneben geht es darum, wer wie viele Leute mobilisieren kann, wer über Kapital und andere Ressourcen verfügt, wer wie viel Sachschaden erzeugen kann, wer in bestimmten Institutionen den Ton angibt, wem es gelingt, Bündnisse zu schmieden und nicht zuletzt wer schlichtweg dafür gewählt wurde, Fakten zu schaffen. Was alles nicht heißen, soll, dass es nicht hilfreich wäre, Deutungsmuster, Diskurse, Dispositive oder von mir aus auch Narrative zu analysieren. Wer das gut macht, fragt dabei aber auch danach, aus welchen Konstellationen heraus überhaupt die Möglichkeit erwächst, die eigenen Wahrheiten als allgemeingültige zu verkaufen, welche soziale Praxis daraus folgt und in welchen Institutionen sich die diskursive Macht institutionalisiert.
In der Regel werden die oft bemühten „Narrative“ aber gerade nicht mit Institutionen und Herrschaftsverhältnissen zusammen gedacht. Hier ist die Karriere des Modeworts Ausdruck herrschender Ideologie: Es legt eine Vorstellung von Gesellschaft nahe, in der das, was die Leute reden und Schreiben, losgelöst von Herrschaft funktioniert und aus sich selbst heraus Macht entfaltet. Woraus folgt, dass es am Ende nur noch darum geht, die überzeugenderen Geschichten zu erzählen. Politik wird so zum Wettbewerb der Werbeslogans. Damit legitimiert der Begriff den aktuellen Klicktivismus, bei dem es ja tatsächlich vor allem darum geht, die bessere Geschichte zu erzählen. Es ist also kein Zufall, dass gleichzeitig mit dem Aufgehen der Öffentlichkeit in der Verblödungsmaschinerie Social Media überall nur noch Narrative erzählt werden.