Nicht nur beim Arbeiten für den Staat, sondern auch darüber hinaus erfüllen wir – bis hin zur eigenen linksradikalen Politik – Aufgaben des Staates. Wie das funktioniert, was das mit uns macht und welche Konsequenzen sich daraus für uns als radikale Linke ergeben, zeigt im folgender der Club Communism.
Sommerzeit. Das bedeutet für viele jüngere Menschen, entweder den Start eines neuen Schuljahres, eines neuen Semesters oder, wenn sie eines von beiden gerade hinter sich gebracht haben, die Zeit für die Suche nach einer Arbeitsstelle. Zumindest zeichnete sich dies in den letzten Jahren in unserem politischen und sozialen Umfeld ab. Nicht wenige Genoss*innen gehen nach Schule oder Studium in Berufe, die nach oder angelehnt an TVöD oder TV-L bezahlt werden. Um es anders auszudrücken: Wir und viele Leute, mit denen wir linke Politik machen, arbeiten in Berufen, die Aufgaben des Staates ausführen. Sei es an Hochschulen, Schulen oder in Kindergärten, Kultureinrichtungen wie Museen oder gar bei linken Fraktionen oder Parteien. Wie aber geht das zusammen? Für die Überwindung der Verhältnisse kämpfen, einen postnazistischen deutschen Staat kritisieren und am nächsten Morgen wieder in seinem Dienst stehen. Was macht das mit denen von uns, die wir direkt – oder auch indirekt, etwa durch Fördergelder – vom Staat bezahlt werden? Und was, die Funktionen des Staats zu erfüllen, auch da, wo wir nicht von ihm bezahlt werden? Dieser Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen und damit Anschluss an die bisher gelaufene Deradikalisierungsdebatte in Thüringen, die hauptsächlich vom BiKo geführt wird, suchen. Zu diesem Zweck werden wir uns mit dem Staat als Konzept und Wirklichkeit kritisch auseinandersetzen, unsere Arbeit auf diesen Einfluss hin reflektieren und abschließend überlegen, welche Konsequenzen sich daraus für uns als radikale Linke ergeben.
TEIL 1: Programme staatlicher Deradikalisierung
Die Deradikalisierungsdebatte wurde in der näheren Vergangenheit vorrangig geführt, um die Auswirkung staatlich geförderter und strukturierter politischer Bildungsarbeit zu reflektieren. Insbesondere als sogenannte „Demokratiebildung“ hat diese nicht nur Auswirkungen auf Schulen und Jugendsozialarbeit, sondern hat in den letzten 15 Jahren ein ganzes Feld von Anti-Rechts-Projekten geschaffen, das von der radikalen Linken teils spöttisch als „Staatsantifa“ bezeichnet wird, zugleich aber einige Genoss*innen in Lohn und Brot setzt. Letztere sprechen mittlerweile regelmäßig als Referent*innen und Expert*innen auf von der radikalen Linken organisierten Veranstaltungen, und referieren Wissen, das sie nicht zuletzt während dieser Tätigkeiten entwickelten.
In der Debatte wird zurecht darauf hingewiesen, dass die staatlichen Anti-Rechts-Programme bestimmten Programmlinien folgen. Programmlinien, die selbstverständlich keinesfalls Ausdruck eines konsequenten Antifaschismus sind, also nicht antikapitalistisch und antideutsch sind. Stattdessen dienen sie direkt oder indirekt meist der „Extremismusprävention“. Dazu trägt nicht nur ihr offizielles Programmziel bei, etwa wenn Projekte, die gegen Nazis sein sollen, offiziell „gegen Rechtsextremismus und für Demokratie“ ausgerichtet sind (erfreulicherweise konnten Programme gegen sogenannten „Linksextremismus“ in Thüringen bisher durch linksdemokratische Kräfte verhindert werden). Auch in der Struktur dieser Programme und Projekte selbst zeigt sich diese Ausrichtung. Nur wenige Projekte können sich auf so etwas wie die bloße Unterstützung von Gewaltbetroffenen begrenzen, die meisten bieten auch „Partizipationsangebote“ für „zivilgesellschaftlich Engagierte“ an und dienen damit der Eingemeindung emanzipatorischer Regungen in das Spielfeld „legitimer“ bzw. legitimierter Politik. Gefördertes „zivilgesellschaftliches Engagement“ gegen Rassist*innen und Antisemit*innen reicht vom Workshop bis zur Kundgebung – Fluchthilfe, Outings von Nazis und andere Formen des konsequenten Antifaschismus müssen allerdings ausgeschlossen bleiben, wenn man beim „demokratischen Kampf gegen Rechts“ dabei sein will. Auch auf theoretischer Ebene zeigt sich diese antiradikale Ausrichtung: So kann durch solche Programme zwar mangels anderer, förderfähiger Initiativen, immer mal wieder die Förderung vernünftiger Vorträge „unter der Hand“ ermöglicht werden; aber die Analyse, die staatlichen Anti-Rechts-Projekten zu Grunde liegt, bleibt linksliberal: Staatliche Programme konzentrieren sich auf einzelne Momente rechter Ideologien, anstatt ihre grundsätzliche Verbundenheit mit der herrschenden Ideologie und der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise herauszuarbeiten.
TEIL 2: Staat als Funktion
Doch auch die Kritik an Deradikalisierungsprogrammen, wie wir sie bisher wiederholt haben, bleibt auf halbem Weg stecken. In ihrer Kritik an den deradikalisierenden Programmen übernimmt sie die herrschende, ideologische Vorstellung davon, was der Staat ist. Kritisiert wird an den Programmen die Ausdehnung der staatlichen Kontrolle mittels Förderrichtlinien auf angeblich nicht-staatliche Akteure, insbesondere auf freie Träger. Staat ist für diese Form der Kritik dasjenige, was sich selbst den Stempel Staat gibt und nach juristischen Gesichtspunkten der Staat ist. Ihm gegenüber steht auch hier die angeblich staatsfreie Zivilgesellschaft.
Anstatt den Begriff, den der Staat sich von sich selbst gibt und der in Gesetzen und Verordnungen verankert ist, einfach zu übernehmen, wollen wir folgend versuchen, den Staat von seiner Funktion her zu bestimmten. Dabei sind wir nicht besonders kreativ oder erfinden das Rad neu. In der anarchistischen und kommunistischen Staatskritik (die ansonsten in ihrer Unterschiedlichkeit zu umfangreich sind, um sie hier abzubilden), wird der Staat von seiner Funktion im Kapitalismus aus verstanden: Er ist ein Instrument der Herrschaft, das die bestehende Eigentumsordnung und damit die bestehende Produktionsweise aufrechterhalten soll. Um diese Funktion zu erfüllen, zieht der Staat im Laufe seiner Geschichte in der Moderne eine Reihe von Aufgaben an sich, allen voran tritt an die Stelle der grundlegenden Ausbildung der Arbeitskräfte in den Familien und kirchlichem Unterricht die staatliche Schule. Später übernimmt der Staat noch weitere familiäre und kommunale Aufgaben als „Sozialstaat“, fängt selbst an Massenmedien zu betreiben usw.
Der Staat differenziert sich dabei also immer weiter aus und gewinnt auch gegenüber der ökonomisch herrschenden Klasse eine relative Unabhängigkeit. Louis Althusser, ein französischer Kommunist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert, beobachtete bei dieser Entwicklung des Staats vom 19. zum 20. Jahrhundert, dass der Staat seine Funktion für den Kapitalismus damit zweifach erfüllt, nicht nur repressiv (durch Gesetze, Polizei und Militär), sondern auch ideologisch. Der wichtigste „ideologische Staatsapparat“ ist für Althusser die Schule mit ihrer Erziehung (heute müsste man sagen: Von der Kindertagesstätte über die Schule und außerschulische Vereine und Jugendarbeit bis zur Hochschule). Darüber hinaus zählt er aber auch z.B. Massenmedien, Gewerkschaften und linke Parteien zu den „ideologischen Staatsapparaten“, weil auch in ihnen die herrschenden Spielregeln anerkannt und verbreitet werden und Bedürfnisse nach anderen Verhältnissen in die richtigen, d.h. ungefährlichen Bahnen gelenkt werden.
Blickt man derart auf den Staat wird deutlich: Der Staat ist auch dort, wo er nicht als Arbeitgeber auf dem Gehaltszettel steht. Nicht nur Polizei und Verwaltung, auch Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen, Jugendzentren, Gewerkschaften, (linke) Medien und Parteien, Museen, Theater – und natürlich selbstverständlich auch die Anti-Rechts-Projekte – sie alle sind Teil des Staats, insofern sie die herrschende Ideologie reproduzieren, sie in alle Teile der Gesellschaft und insbesondere dorthin tragen, wo Widerstand erwachsen könnte.
TEIL 3: Wir (CC) als der Staat
Nun sind genau diese Bereiche auch die Arbeitsfelder, in denen wir oder unser Umfeld tätig ist: außerschulische Bildung und Erziehung, archivarische und museale Tätigkeiten, Öffentlichkeitsarbeit für Kultureinrichtungen, politischer Betrieb, öffentliche Verwaltung sowie Forschung und Lehre an Hochschulen. Was bedeutet es nun aber, dass wir – polemisch gesprochen – der Staat sind?
Uns ist klar, alle Lohnarbeit bringt es mit sich, dass man sich an sie anpassen muss. Das fängt beim Klingeln des Weckers an und bedeutet häufig auch, sich optisch in das Arbeitsumfeld einzufügen. Man trägt die Haare vielleicht nicht mehr grün, die Jogginghose bleibt im Schrank oder es erfolgt der Umstieg auf praktische Schuhe. Und ebenso hat alle Lohnarbeit Auswirkungen darauf, wie man denkt und handelt, einfach weil man einen Drittel des Tages unter ihre Regeln gezwungen wird und ihnen gemäß denken und handeln muss. Für die meiste Lohnarbeit heißt das nicht weniger und nicht mehr, als an der eigenen Ausbeutung mitzuwirken, sich und andere als bloße Waren, Arbeitskraftcontainer und Nummern zu begreifen. Im Falle einer Tätigkeit in einem „Staatsapparat“ (wie gesagt, egal wer oder was auf dem Gehaltszettel als „Arbeitgeber“ steht), bedeutet dieses denken und handeln, die Funktion des Staats zu erfüllen, die herrschende Ordnung am Laufen zu halten.
Es gibt Tätigkeiten für den Staat, bei denen die innere wie äußere Anpassung an ihn scheinbar zur Einstellungsvoraussetzung gehört. Sei es in der Verwaltung, in der man ja nichts anderes tut, als eben jenen Staat und seine Untertanen zu verwalten. Auch wenn wir hoffen, dass niemand der Lesenden bei expliziten Repressionsbehörden wie Polizei, Ausländerbehörde oder Arbeitsamt oder expliziten Propaganda-Agenturen wie der Bundeszentrale für politische Bildung arbeitet, ist selbst die stille Arbeit für den Staat in Uni-Verwaltung, Gartenbau- oder Patentamt selbstverständlich Arbeit, die die herrschende Ordnung aufrechterhält. Und auch im politischen Betrieb reproduziert man mit jedem Akt die sanktionierten Spielregeln legitimer Politik und damit die Illegitimität der Revolution.
Wer in einer Kindertagesstätte arbeitet, wird in der Regel die gesellschaftlichen Bedingungen – die Eltern müssen halt arbeiten – als normal und als nicht hintergehbare Bedingungen des Lebens darstellen (und damit Leid an den Verhältnissen individualisieren und privatisieren). Genauso wie Kinder im Kindergarten schulförmig gemacht werden, werden junge Erwachsene in der Hochschule arbeitsfähig gemacht. Forscht man staatlich gefördert, egal ob universitär oder außerakademisch, muss man die Wirklichkeit und selbst ihre Kritik nach bestimmten Regeln darstellen, seine Kritik bestimmten, diskursiv akzeptablen Formen und Konzepten angleichen und dabei ideologische Kategorien reproduzieren. Eine ähnliche Situation findet sich in der Öffentlichkeitsarbeit für kulturelle Einrichtungen, auch hier bestimmen Förderziele und -programme die Ausrichtung, ihr ideologischer Gehalt wird von einem selbst Tag für Tag reproduziert und beworben.
Die Zurichtung der Menschen zu Arbeitskräften wird besonders deutlich in Kindergarten, Schule und Hochschule. Arbeitet man dort, erzieht man andere Menschen dazu, sich dem kapitalistischen Zeitregime unterzuordnen. Das beginnt im Kindergarten, wo der Tag durch Spiel-, Ess- und Schlafzeiten strukturiert wird und in die sich alle dort Arbeitenden und Betreuten einfügen müssen. Die meisten jungen Menschen gehen so vorbereitet in die Schule, in der Anwesenheitspflicht von x bis y Uhr und ein Arbeitstakt in 45- oder 90 Minuten-Abschnitten herrscht. Nach 9, 10, 12 oder 13 Jahren durch dieses Regime vorbereitet, dürfen die einen auf den Arbeitsmarkt, andere müssen an die Hochschulen. Dort soll das Zeitregime weitgehend in Eigenverantwortung umgesetzt werden – wer als Student*in daran zu scheitern droht, kann sich mittels Zeitmanagement-Workshops optimieren oder durch die „Lange Nacht der Hausarbeiten“ motivieren. Auch unsere Genoss*innen in der staatlich finanzierten, außerschulischen Bildungsarbeit oder im Kulturbetrieb werden in der Regel ihre Angebote so ausrichten, dass diese in der sogenannten Freizeit wahrgenommen werden können.
Doch die ideologischen Staatsapparate stellen nicht nur die Menschen als Arbeitskräfte, sondern auch als Untertanen sicher, wie am Leitbild der „Partizipation“ deutlich wird. So ist die Teilhabe der Kinder ein Ziel, das in pädagogisch modernen Kitas angestrebt wird. Moderne Pädagogik erlaubt und fordert es von Kindern, sich auszusuchen, was sie essen (Nudeln oder Kartoffeln), anziehen (Gummistiefel oder Turnschuhe) oder spielerisch lernen (Mülltrennung oder Kuchenbacken) wollen. Am Ende lernen die Kinder vor allem eines: Ich bestimme nicht, an welchem Ort und mit welchen Menschen ich wenigstens 8 Stunden des Tages verbringe, sondern ich darf im abgesteckten Rahmen zwischen erlaubten Optionen wählen. In der Schule setzt sich die vermeintliche Teilhabe fort, Wahlfreiheit gibt es nur bei der Wahl von Klassensprecher*innen, die keine wirklichen Befugnisse haben, und wenn man alt genug ist im Rahmen des Wahlpflichtunterrichts im Lehrplan – und auch die progressivsten Lehrer*innen können maximal innerhalb von vorgegebenen Kompetenzzielen Variationen zur Auswahl stellen.
Wogegen sich sicher nicht entschieden werden kann, weder in der Schule noch im kritischsten Uni-Seminar, ist dass noch der letzte menschenfeindliche Nonsens in wohl gefeiten Worten Teil der Diskussion ist. Alles muss gehört und bedacht werden, wodurch Hochschullehrende an der Normalisierung des Beliebigkeitspluralismus beteiligt sind. Wie auch Lehrer*innen befördern sie Selektionen durch Benotungen und Bescheinigungen und alle Beteiligten akzeptieren, dass ihre Chancen im Leben hiervon abhängen werden. Dabei ist egal, wie cool und politisch eingefärbt ein Seminar ist. Mit Pech trägt hier die engagierte, linke Lehrperson noch dazu bei, die Simulation zu erschaffen, dass Studieren selbst schon eine politische Aktivität sei. Frei ist natürlich auch die universitäre Forschung nicht, weil über ihre Projekte externe Akteur*innen mit ihren ideologischen Interessen entscheiden. Zudem konkurrieren die Forschenden miteinander und reproduzieren damit den Kampf aller gegen alle.
Ist man außerhalb von Hochschulen tätig (in Museen, Archiven, Gedenkstätten, etc.), wird politische Praxis objektiviert. Dokumentation und Vermittlung von Inhalten führen nicht dazu, dass begonnen wird, die Verhältnisse zum Besseren für alle zu verändern, stattdessen folgt die Vermittlung des Geforschten einer objektivierenden Ansprache. Ein plastisches Beispiel: Auf einem Dachboden wird ein Flugblatt aus revolutionäreren Zeiten entdeckt. Es wird geborgen, erschlossen, archiviert, beforscht, ausgestellt, beworben, beschaut – aber niemals aktualisiert!
Für den Staat zu arbeiten, kann sowohl bedeuten auf eine bestimmte Art politisch sein zu müssen als auch sich besonders unpolitisch zu geben. Es bedeutet als Angestellte einer Hochschule, einer Beratungsstelle oder eines Museums sich gegen die AfD zu positionieren, die die Tätigkeiten dort an sich mit ihrer Programmatik sowie deren Strahlkraft bedroht. Gleichzeitig ist es nicht opportun, die verräterische Sozialdemokratie oder die moralisierenden Grünen immer wieder aufs Neue zu verfluchen. Wer hingegen in einem Kindergarten arbeitet, muss allen Bezugspersonen der Kinder politisch neutralisiert gegenübertreten, Nazi-Shirt hin oder her. In beiden Fällen spaltet man sein politisches Handeln auf in zwei verschiedene Rollen: Arbeit und Freizeit. Radikale Politik reduziert sich auf eine Art Hobby nach Feierabend. Das führt nicht selten dazu, dass bei den einen, ihre beruflichen Aussagen für politische Aussagen gehalten werden, während die anderen einsam geworden, ihre politische Position verbergen. Auf beide Weisen tragen wir jedes Mal zur Normalisierung unradikaler politischer Positionen bei. Optimistisch gesprochen vertut man so auch eine Chance neue Genoss*innen kennen zu lernen oder das eigene Arbeitsumfeld zu radikalisieren.
TEIL 4: Was folgt daraus für eine radikale Linke?
Das heißt natürlich nicht, dass innerhalb der beruflichen Tätigkeit keine Spielräume existieren würden, hier und da etwas Vernünftiges zu tun (die Spielräume existieren) oder die Lohnarbeit Zugriff auf Ressourcen erlaubt (sie erlaubt ihn), deren Entwendung individuell immer mal wieder praktiziert wird (sie wird) und die kollektiv organisiert werden sollten (das sollten sie).
Die beispielhaften Ausführungen sollten uns aber klar machen, wie tief wir mit dem Staat verstrickt sind. Nicht nur sichert er ökonomisch mehr oder weniger gut unserer Leben ab, während unser Arbeit bauen wir auch vielfältige soziale Beziehungen auf. So prägt er unser Denken, unsere politische Praxis und auch unsere Bedürfnisse und Wünsche. Es reicht aber nicht nur darüber nachzudenken, was es heißt, vom Staat bezahlt zu werden. Wir sind auch Teil des Staates, wenn er uns nicht bezahlt.
Deshalb ist es zentral zu fragen, wie sich der Staat in linksradikaler Politik zeigt und wie gegenwärtige linksradikale Politik selbst zur Ideologieproduktion und dadurch zur Stützung der Verhältnisse beiträgt. Das fängt ganz subtil an, indem man sich selbst beschränkt – das „das geht doch nicht“ vom Werktag überträgt auf das Plenum am Abend – oder die eigene Politik genauso projektförmig als kleinteiliges Abarbeiten von evaluierbaren Zielen organisiert, wie man in der eigenen Arbeit selbst organisiert wird. Politische Praxis läuft Gefahr, entweder ein bloßes Hobby zu werden, dass man irgendwann ad acta legt, oder (noch schlimmer) zu einer Pseudopraxis zu werden, die nur dazu dient, dass für die eigene Lohnarbeit wichtige Netzwerk von Kontakten und Anschlusschancen zu reproduzieren.
Die „Verstaatlichung“ linksradikaler Politik kann man auch daran ablesen, dass sie ganz selbstverständlich die ihr vom Staat zugewiesene Rolle einnimmt, etwa indem sie an festen Gedenk- oder Feiertagen Demonstrationen mit passenden Redebeiträgen, Parolen, Fahnen, Flyern und gerne auch „politischer Musik“ organisiert. Sie kann die Rolle einer kritischen Zivilgesellschaft einnehmen, die in ihren Konsequenzen zwar zu „Denkanstößen“ beiträgt, aber sonst konsequenzlos bleibt. Ein paar routinemäßige Streitereien mit der Polizei gibt es, aber am Ende des Tages feiern alle ihre Erfolge. Die eigenen Demonstrationen werden wie im Projekt nicht inhaltlich ausgewertet, sondern nach formalen Prüfkriterien wie Größe, Dauer oder Medienreichweite evaluiert. Der Staat demonstriert, dass er sowohl liberal ist, indem er abweichende Meinungen zulässt und zugleich im Stande ist die Ordnung herzustellen, wenn die Demonstrierenden bestimmte Grenzen übertreten – so nehmen alle ihre jeweilige Rolle für die große Show ein, die schöne Bilder macht, aber keine praktische oder organisatorische Relevanz besitzt.
Abseits von Demonstrationen, in Hochschulen, Schulen, autonomen Zentren oder selbstverwalteten Läden herrschen ebenfalls immer gleiche, unhinterfragte Strukturen. Diese zeigen sich in den kritischen Einführungswochen zu Beginn der Semester mit ihrem austauschbaren Programm, das eine Vielfalt von linksradikalen Themen umfasst, die dabei nebeneinander stehen und unvermittelt bleiben. Oder in den immer gleichen Workshops zu den Grundlagen linksradikaler Politik. Die Organisation der Inhalte folgt den (Hoch-)Schulrhythmen mit ihrer Didaktik, die verschiedene Inhalte nur oberflächlich behandelt, lose nebeneinander sowie nacheinander abhandelt. Zudem steht der*die Referentin im Zentrum, die bestimmte Inhalte den Teilnehmer*innen vermitteln möchte, anstatt kollektiv eine radikale Praxis zu entwickeln. Nicht nur folgen diese Beispiele dem Zeitregime und dem uneingelösten Versprechen nach Partizipation, wie wir es bei der Produktion von Arbeitskräften und Untertanen kennen; auch ihre Pädagogisierung der Politik reproduziert Hierarchien.
Ist dieser inhaltliche Teil erledigt, beginnt die „Freizeit“, die scheinbar wenig mit den Inhalten zu tun hat. Der Veranstaltungsbetrieb mit den gleichen Rapkonzerten oder Technoparties bildet zur eben genannten Kritik keine Ausnahme. Bei ihnen geht es nun nicht mehr um den „richtigen“ Inhalt, sondern den „richtigen“ Lifestyle samt Konsumgewohnheiten, die oftmals nach dem inhaltlichen Teil am Tag, abends eingeübt werden können.
Diese politische Praxis reproduziert auf ganz unterschiedliche und vielfältige Art und Weise den Staat und die Lohnarbeit nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in ihrer Form. Sie entspricht den staatlichen Anforderungen, weil sie nach den immergleichen Routinen verläuft, die immergleichen Inhalte vermittelt und auch so organisiert ist. So ist linksradikale Politik Ideologieproduktion und ungefährlich. Sinnvoll wären Überlegungen dazu, an welchen Stellen wir das aufbrechen könnten, wo wir uns gemeinsam auf die Socken machen könnten, um nicht im Immergleichen zu verharren bis zur Rente.