Für das Unbegreifbare Sprache finden

Am 3. August 2024 jährt sich der 74. Genozid an den Êzîd:innen im Norden des Irak zum zehnten Mal. Ronya Othmann hat einen dokumentarischen Roman zur Annäherung an diese Hölle geschrieben. Warum wir diesen lesen sollten und was das mit uns in Thüringen zu tun hat, beantwortet Eva Felidae.

Der Islamische Staat in Irak und Syrien (ISIS) rief im Juni 2014 erstmals im Nordwesten des Iraks und im Osten Syriens ein Kalifat aus. Mit dem Anspruch der unbedingten Vernichtung der als „ungläubig“ markierten Bevölkerungsgruppen fanden unzählige Gräueltaten statt, die von unfassbarer Brutalität geprägt waren. Vor allem die Angriffe auf die Êzîd:innen in der nordirakischen Provinz Sindschar und die kurdische selbstverwaltete Region Rojava stand vor zehn Jahren im tagesaktuellen Fokus der ganzen Welt. So auch in Erfurt. Aufmerksamkeit organisierte damals der kurdische Kulturverein Mesopotamien. Auch einige deutsche linke und linksradikale Strukturen beteiligten sich an den Solidaritätsaktionen. Die Lirabelle erschien mit den Ausgaben sechs und sieben mit thematischen Titelseiten und Beiträgen.
Zentral sind die Erinnerungen an den Widerstandsgeist der Kurd:innen, die weltweit zu Hunderttausenden auf die Straßen gingen, die Verkehrsadern lahmlegten und die forderten: Es braucht einen sicheren Fluchtkorridor und militärische Unterstützung gegen die islamistischen Schergen. Die Vorbereitungen der Aktionen in und um Erfurt haben mich als weiße deutsche radikale Linke geprägt und die Region in meinen politischen Fokus gerückt. Es ist eine tiefe Verbundenheit mit dem politischen Kampf der Kurd:innen entstanden.
Ja, ich kannte islamistischen Terror aus den Nachrichten und das al-Quaida-Attentat vom 11. September in den USA hat die radikale Linke und damit meine politische Sozialisation bereits stark geprägt. Doch mit 2014 erfolgte ein Einschnitt, den ich vor allem durch die Romane von Ronya Othmann nun retrospektiv besser verstehen kann.

„Die Sommer“

Ihr Debütroman „Die Sommer“ erschien 2020 und erzählt mit der Verwobenheit biografischer Bezüge die Lebensrealität von vielen (in Deutschland lebenden) Geflüchteten aus der Region Nordsyriens, von ihren Familien, deren Ängsten, Traumata und dem Umgang damit. Die Protagonistin lebt in Leipzig mit Bezügen zu linker und queerer Szene-Kultur, aufgewachsen ist sie jedoch in München. Ihr Vater ist im besten Wortsinn „ungläubig“, hat den religiösen Bräuchen, Sitten und Gepflogenheiten seiner Sozialisation abgeschworen – ein êzîdisch-kurdischer Kommunist, der von türkischer Folter betroffen ist. Die Mutter der Protagonistin ist Deutsche. Familienmitglieder leben von der Notwendigkeit der Flucht betroffen in verschiedenen Ländern. In Die Sommer nähert sich die Autorin auf berührende Art und Weise der Kultur ihrer Familie väterlicherseits. Was bedeutet es für eine in den 1990er-Jahren in Deutschland geborene junge Frau, Êzîdin zu sein? Die Antwort findet sich auch in den jährlichen Sommerferien, welche sie bei ihren Großeltern in einem kleinen kurdischen Dorf in Nordsyrien verbringt. Von der Zerrissenheit, den Zweifeln gegenüber der eigenen Identität, dem Privileg in physischer Sicherheit leben zu können im Gegensatz zu vielen Cousins und Cousinen.
Die Darstellung der Figur der Großmutter würdigt eine tapfere, eine mutige Frau, die nach der Ermordung ihres Bruders nie wieder tanzte und doch am êzîdischen Brauchtum festhielt. Von ihr lernt die Protagonistin in ganzer Ambivalenz, was es heißt Êzîd:in zu sein: Hoffnung und Trauer liegen als grundlegende Emotionen den Gesprächen und dem Nachahmen der Rituale eng beieinander. Die wiederkehrende existentielle Bedrohung, die Erzählungen um in Genoziden verstorbenen Verwandten und Freunden, aber auch das teils glückliche Überleben, nimmt die Protagonistin als Puzzlestücke auf und besieht sie von jeder Seite.
Im Êzîdentum wird Wissen mündlich weitergegeben, insofern hat die Auslöschung von Êzîd:innen – wie in der Geschichte vielfach durch Christentum und Islam geschehen – die Intention, die „Ungläubigen“, die „Gotteslästerer“ und ihre Kultur an sich zu eliminieren. Ehrlich gesagt, bin ich an religiösen Praktiken weniger interessiert, doch ist Religion ein ausschlaggebendes Motiv die Region und Beweggründe der Menschen zu verstehen. Die Frage nach êzîdischer Identität durchzieht das Werk von Othmann, auch ihrer Kolumnen. Êzîd:innen sprechen verschiedene Sprachen, sie leben in unterschiedlichen Regionen, es gibt kurdische und arabische Einflüsse.

„Vierundsiebzig“

Symbolträchtig kurz nach dem feministisch geprägten 8. März erscheint 2024 der zweite Roman „Vierundsiebzig“. Er berichtet von einer Spurensuche, von der Annäherung an eine Familien- bzw. Bevölkerungsgeschichte, die vom Sterben und Überleben geprägt ist. 2018 – vier Jahre nach dem 74. Ferman und der weitgehenden Niederschlagung der islamistischen Strukturen reist die Protagonistin durch den Irak. „Auch die Sprache ist eine Waffe“ wird die Protagonistin auf ihrer Reise bestärkt, auf der sie êzîdische Kulturstätten, Dörfer und vor allem Gesprächspartner:innen – eher Zeug:innen des Völkermords – sucht. Dabei fungiert der atheistische Vater häufig als Vertrauensbrücke – seine êzîdische Herkunft, seine Bekanntschaften, sein Wissen um die Region und Geschichten vieler Menschen, öffnet der Protagonistin Türen.
Die literarische Form soll dabei helfen, der Sprachlosigkeit über das Unbeschreibliche näherzukommen. Othmann schreibt: „Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist.“ Das liest sich beispielsweise so: „Mein Vater sagt: In Deutschland wurde ich einmal gefragt, wie hoch denn die Lebenserwartung sei bei den Êzîden, in unserem Herkunftsgebiet. Ich habe geantwortet, das kann keiner sagen. Wir sterben nicht, wir werden umgebracht. Mein Vater lacht. Wir erreichen Mossul um halb zwölf.“
Othmann hat eine „nüchterne“, sachliche, dokumentarische Sprache gefunden, die Gewaltiges und Schmerzvolles, Lebendiges und Vergangenes zu beschreiben sucht.
Othmann gelingt es, Lebenswelten zu verbinden und sie sichtbar zu machen – dieser Anspruch reicht in die Gegenwart. Sie schreibt bspw. von Gerichtsverhandlungen gegen angeklagte IS-Täter und Täterinnen. Hintergründe dafür sind die Verschleppung und Versklavung von tausenden Frauen und Mädchen sowie die brutale (Massen-) Ermordung von Jungen und Männern durch Angehörige des Islamischen Staates. Êzîdische Frauen und Mädchen sind bis heute verschwunden oder in Geflüchteten-Camps. Die geflohenen Angehörigen warten und bangen.
Othmann beschreibt, wie die Mutter eines fünfjährigen êzîdischen Mädchens über ihre eigene Versklavung und das grausame Sterben ihrer Tochter 2015 wiederholt am Oberlandesgericht München aussagen muss. Im August 2023 fällt das Urteil gegen die angeklagte Deutsche Jennifer W., die sich 2014 dem IS angeschlossen hatte. 14 Jahre Freiheitsstrafe, weil diese zugesehen und dazu beigetragen hat, dass das versklavte Kind gefesselt in der prallen Sonne qualvoll starb. Die Bundesanwaltschaft klagte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Völkerrechtlich ein wichtiges Signal und auch gesellschaftspolitisch: Es leben Täter:innen in Deutschland, die Mitschuld am Völkermord der Êzîd:innen tragen. Oftmals bleiben diese unerkannt und werden eher zufällig entdeckt. Dennoch finden immer wieder einzelne Verfahren statt, so auch im März 2023 am OLG Jena gegen die IS-Rückkehrerin Kristin L. aus Erfurt. Sie kam mit einem Kind zurück, nachdem sie 2019 von kurdischen Kämpfer:innen aufgegriffen wurde.
Othmann zeigt all diese Widersprüche auf, es geht um gegenwärtige Fragen von höchster Bedeutung. Diese Bedeutung und das Ausmaß des bereits vierundsiebzigsten Völkermords an den Êzîd:innen zu begreifen, dem versucht Othmanns Werk sich zu nähern.

„Import Export“

Othmann erkennt im Kleinen die Kontinuität der Bedingungen für die Ermordung an den Êzîd:innen. So mischt sie sich ins tagespolitische Geschäft der deutschen Debatten und Politik ein. Sie schafft es differenzierte Perspektiven einzunehmen, fokussiert und alltagsnah, Dinge auf den Punkt zu bringen. Ihre Kolumne „Import Export“ in der FAZ ist unbedingt zu empfehlen. So setzt sie sich bspw. mit türkischem Rechtsextremismus, jüdischen Perspektiven und feministischen sowie queeren Themen auseinander.
Sie greift auch immer wieder aktuelle Fragen zum Schutz der êzîdischen Community in Deutschland auf und kritisiert deutsche Doppelmoral: Während der Bundestag 2023 den Völkermord offiziell anerkannt hat, sind Betroffene von Abschiebungen bedroht. Erst im Juni fand dazu eine Demonstration anlässlich der Innenministerkonferenz in Potsdam statt. Wie können Überlebende angemessen unterstützt werden, die Qualen der sexualisierten Gewalt auch dauerhaft zu überleben? Während Deutschland mittlerweile eine große êzîdische Gemeinschaft beheimatet, können IS-Rückkehrer:innen nicht unbehelligt weiterleben. Zu allererst brauchen in Deutschland lebende Êzîd:innen einen sicheren Aufenthalt. In Thüringen sind Abschiebungen derzeit ausgesetzt, aber wie lange noch?

10 Jahre später

Der kurdische Kulturverein Mesopotamien tritt nur noch selten in Erscheinung. Sie waren die ersten, die sich für êzîdische Belange einsetzten. Mittlerweile gibt es in Nordhausen einen eigenen êzîdischen Verein. Der Kulturverein hinterlässt eine große Leerstelle. Demonstration und Vorträge werden von anderen Akteur:innen organisiert. Der deutsche Staat greift in seiner Kollaboration mit dem türkischen Regierungslager immer wieder kurdische Strukturen an. Razzien und 129b-Verfahren zerschlagen eine solidarische Gemeinschaft. So ist es auch in Erfurt passiert. Ich erinnere mich an die emotionalen Zusammenkünfte von Aktivist:innen in Erfurt. Dies waren jedoch weniger „meine“ linken Strukturen, sondern die Kurd:innen verschiedener politischer Couleur. Wut und Schmerz sind genauso allgegenwärtig wie die gegenseitige Zugewandtheit, die Gastfreundschaft, das Zelebrieren des Lebens im gemeinsamen Essen oder der Lebendigkeit des generationsübergreifenden Zusammenseins. Im Kleinen lebt dies weiter. Ich bin dankbar für die Einblicke, die Offenheit, das Vertrauen. Dabei wünsche ich mir, dass die weiterhin stattfindenden – leider sehr marginalisierten – Versammlungen der Kurd:innen und Êzîd:innen gesehen werden und sich die radikale Linke daran beteiligt.

Veröffentlichungen von Ronya Othmann:

  • Othmann, Ronya (2020): Die Sommer, 288 Seiten, 22€
  • Dies. (2021): die verbrechen. Gedichte, 112 Seiten, 20€
  • Dies. (2024): Vierundsiebzig, 512 Seiten, 26€
  • Dies. „Import Export“, Kolumne in der FAZ

Website: https://ronyaothmann.com/

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