Welcome 2 the Danger-Zone

Vom Märchen des Angers als „gefährlichster Ort Thüringens“ und der Unsinnigkeit von Kameraüberwachung berichtet Efence (Rote Hilfe).

Kriminalitätshotspot Anger

Der Erfurter Anger ist einer der zentralen Plätze der Landeshauptstadt: Hier treffen sich die meisten Straßenbahnlinien, Menschen steigen um, gehen in den zahlreichen Geschäften einkaufen, arbeiten oder zum Arzt. Es wird gebettelt, Tauben werden gefüttert, Kinder rutschen vom kleinen blauen Elefanten und lassen sich mit der Maus fotografieren. Der Anger ist Kundgebungsplatz sämtlicher Anliegen, hier gehen auch Promotionteams auf Unterschriftenjagd und Junggesell:innenbschiede vermiesen einem den Tag. Hier treffen sich jung und alt, verweilen im Betondickicht oder am Brunnen im Schatten. Es wird Eis geleckt, unalkoholische Getränke geschlürft (alles andere verboten) und den Straßenmusiker:innen gelauscht. Nach Einbruch der Dunkelheit sind nur die Türen eines Clubs und einer Fastfood-Kette geöffnet.

Seit 2017 gilt der Anger als sogenanntes Gefahrengebiet. Begründet wird das durch das Thüringer Innenministerium mit einem „erhöhten Aufkommen an Körperverletzungs-, Sachbeschädigungs-, Diebstahls- und Beleidigungsdelikten“. Seitdem steht der Anger immer wieder als „Hotspot der Kriminalität“ oder „gefährlichster Ort Thüringens“ im Fokus der regionalen und überregionalen Presse. Der bisherige SPD-Oberbürgermeister Andreas Brausewein und sein CDU-Ordnungsdezernent Andreas Horn sahen sich berufen: So gilt seit Januar 2023 ein Alkoholverzehrverbot (mit Ausnahme der Gastronomie) und seit September 2023 gibt es eine kleine Polizeistation, in welcher der Kontaktbereichsbeamte das Sicherheitsempfinden erhöhen soll. Die Dichte an Polizei-Streifen – auch auftretend im Team mit Ordnungsamts-Leuten – hat enorm zugenommen. Für den Wahlkampf zwischen den beiden Andreasen eignet sich das Thema weiterhin. Der mittlerweile Ex-Bürgermeister Andreas Brausewein trat mit dem Kommunalwahlkampf-Motto „Erfurt in sicheren Händen“ an. So rühmt sich die Erfurter SPD auf ihrer Website damit, wie sehr ihnen „die Sicherheit aller Erfurterinnen und Erfurter am Herzen liegt“. Um die Sicherheit weiter zu erhöhen, habe man die Kameraüberwachung auf dem Anger ermöglicht und durch ein „Safe Space“ Konzept „sichere Orte auf Erfurts Stadtfesten“ geschaffen. Ob ein „Safe Space“ Konzept tatsächlich funktioniert, in dem man einfach nur alle drei Meter einen Guardian-Force-Secu und alle zehn Meter einen Sixer abstellt, dürfte fraglich sein. Zumindest beim diesjährigen Krämerbrückenfest hat man sich dazu entschieden, das „Safe-Space-Konzept“ unter Zuhilfenahme eines externen Awareness-Teams umzusetzen. So ist es zumindest einer Pressemitteilung der Stadt Erfurt vom 13.06. zu entnehmen. [1]

Aber auch Vertreter:innen der CDU und AfD haben sich im Kommunalwahlkampf am Thema Anger als Kriminalitätshotspot bedient. Die die Forderung war dann auch überall die gleiche. Andreas (alt), Andreas (neu) und die AfD sind sich einig: Der Erfurter Anger braucht dringend ganz viele Kameras! Hier und dort und da drüben und da hinten auch noch eine. Die Konsequenz wurde dann auch schon vor dem eigentlichen Wahlkampf gezogen: SPD und CDU haben sich „geeinigt“ (Bausi wollte den Posten behalten). Ab Ende 2024 soll der Anger mit Kameraüberwachung bestückt sein.

Gefahrenge-was?

Was sind eigentlich diese Gefahrengebiete, von denen da immer gesprochen wird? Gefahrengebiete bzw. „kriminogene Orte“ sind laut Polizeiaufgabengesetz §14 Abs. 1 Nr. 2 (für die Nerds) Orte, an denen „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass dort Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich Personen ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen, oder sich Straftäter verbergen, oder an dem Personen der Prostitution nachgehen“. Die Klassifizierung eines solchen Ortes gibt der Polizei diverse Befugnisse im Rahmen von Polizeikontrollen. Bei Aufenthalt in so einem „Gefahrengebiet“ ist die Polizei z.B. berechtigt, OHNE TATVERDACHT Identitäts-feststellungen zu unternehmen oder Personen und Taschen zu kontrollieren. Das führt letztendlich zu stärkerer Repression, mehr Willkür und mehr Risiko für betroffene Personen.

Neben diesem enormen Eingriff in unserer aller Persönlichkeitsrechte ist die Legitimation dieser Gefahrengebiete ein weiteres Problem: Die Gefahrengebiete legitimieren sich nämlich selbst. Wo mehr und vor allem deutlich genauere Kontrollen stattfinden, gibt es mehr (Zufalls)Funde. Das wiederum führt zu mehr registrierten Delikten und damit höheren Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) mit Bezug auf das entsprechende Gefahrengebiet. Damit sehen sich Polizei und Innenministerium in ihrer Klassifizierung bestätigt und das Gefahrengebiet hat sich selbst legitimiert. Das gleiche lässt sich schon ähnlich lang auf der Magdeburger Allee oder dem Bahnhofsplatz beobachten. 

Vor allem auf dem Anger lässt sich dieses Prinzip sehr gut anhand der PKS 2022 nachvollziehen: In den Medienberichten ist von einem „Kriminalitätshotspot“ und „gefährlichem“ Ort die Rede. Um diese Bild zu stützen, wird die Gesamtzahl aller in 2022 im Raum Anger registrierten Straftaten aufgeführt: fast 1500 Delikte. Das sind fast sieben Prozent aller in Erfurt begangenen Delikte und knapp ein Prozent von ganz Thüringen. Schlüsselt man diese 1494 registrierten Delikte aber auf, zeigt sich ein anderes Bild: Auf dem ersten Platz steht mit 640 Delikten (über 40% aller Delikte!) Ladendiebstahl. Ein Delikt, das in einer riesigen Einkaufsmeile ganz gewiss häufiger vorkommt als in der Brühler Vorstadt. Mit sehr großem Abstand belegt die „einfache“ Körperverletzung mit 130 Delikten den zweiten und „einfacher“ Diebstahl mit 94 Delikten den dritten Platz. Platz vier belegen dann die 83 Leistungserschleichungen (i.d.R. Fahren ohne Fahrkarte). Insgesamt haben die opferlosen Delikte, also Delikte ohne zivile Schäden (Ladendiebstahl, Widerstand, Leistungserschleichung, BtmG & Hausfriedensbruch) im Jahr 2022 fast 60% aller auf dem Anger registrierten Delikte ausgemacht. Hier von „gefährlichster Ort Thüringens“ zu schreiben, wäre unter diesen Gesichtspunkten also nur angebracht, wenn die Leser:innen ausschließlich Eigentümer:innen und Cops wären. 

Der Anger als Teststrecke für neue Repressionsstrategien

Dass Presse und Politik immer wieder dieses Bild des regel- und gesetzlosen Angers zeichnen, macht vielen Bürger:innen Angst und spielt damit vor allem der Ordnungsbehörde und der Polizei in die Karten. Letztere hat damit nämlich nicht nur einen Ort, um den geliebten §14 Abs.1 Nr. 2 PAG zu nutzen, sie erhält auch eine große Spielwiese, um die neuesten Strategien und Gerätschaften des Repressionsapparates auszuprobieren – mit maximaler öffentlichen Wirksamkeit, denn die Öffentlichkeit bettelt förmlich darum. 

Der Anger wird dabei immer wieder als Bezugspunkt aufgeführt, wenn es darum geht neue Gerätschaften für die Polizei zu rechtfertigen. So wurde Ende letzten Jahres im Kontext einer größeren Schlägerei der Einsatz von Bodycams durchgesetzt, welche nun seit Mitte Dezember 2023 von Cops im Einsatz getragen und genutzt werden (dürfen). Außerdem gibt es eine neue Wache auf dem Anger (die sich der Kontaktbulle mit den Stadtwerken teilt), es kommt es zu deutlich mehr Streifenfahrten durch die Innenstadt und zu sogenannten verdachtsunabhängigen Kontrollen. Bei diesen Kontrollen, die oft als riesen Aktionen mit dutzenden Cops, Hunden etc. aufgezogen werden, geraten vor allem migrantisch gelesene Jugendliche ins Visier der Polizei. Diese werden unter den gaffenden Augen der Passant:innen zum Teil über Stunden in aufwändigen Maßnahmen kontrolliert und durchsucht. Meistens kommen dabei nur eine geringfügige Menge Weed rum. Ansonsten verschafft die Maßnahme den Betroffenen nur Stress, Angst und eine Menge urteilende Blicke umstehender Rassist:innen, die sich in ihrem Weltbild nur wieder bestätigt sehen.

Dabei unterstützen die Aushilfscops der Ordnungsbehörde die Polizei, wo sie nur können und vor allem dürfen. Mehr als ohnehin schon werden die Parkwächter der Stadt mittlerweile dafür eingesetzt, die Polizei zu unterstützen und ihr auch die ein oder andere Aufgabe abzunehmen. Und dabei will man auch nach was aussehen, wie ein Jobwerbe-Image-Video zeigt.
Mit taktischer Schutzweste, Schlagschutzhandschuhen und Einsatzgürtel samt Pfeffer, Teli und Handschellen will man scheinbar martialischer wirken und endlich ernstgenommen werden. Im neuen Werbevideo zeigt man sich währenddessen „grimmig und gnadenlos“, wenn man die eigenen (verpixelten) Kollegen auf das Alkoholverbot am Anger hinweist und anschließend abführt. Dann wird noch im Club getanzt, weil man so nahbar und cool ist, bevor es dann (ohne Kamera natürlich) zurück in die Innenstadt geht, um arme Menschen aus den Tourismusmeilen zu vertreiben.

Am Ende ist es ganz gleich, ob es die rassistischen Polizeikontrollen sind, das martialische Auftreten der Ordnungsbehörde oder der Wahlkampf von CDU und AfD, die Ansage ist klar: Auf dem Anger haben der Staat und seine (peinlichen) Schergen das Sagen. Und da diese mit dieser Aufgabe scheinbar ziemlich überfordert sind, gibt es nun zwei Ideen, um das Anger-Problem zu lösen: Entweder Anzeigenhauptmeister einsetzen, um die überlasteten Behörden zu entlasten (TA, 16.04.2024), oder flächendeckende Kameraüberwachung, um Licht auf den dunklen Fleck im Stadtimage zu werfen.

„Big Brother“ auf dem Anger

Von einer flächendeckenden Kameraüberwachung des Angers erhoffen sich die Vertreter:innen reaktionärer-autoritärer Parteien sowie das Innenministerium und ein Großteil der Anwohner:innen vor allem eins: weniger Kriminalität dank mehr Sicherheit. Die CDU spricht sogar von Überwachung im „Big Brother“-Stil. Das bedeutet: kein toter Winkel, kein Ort, den die Kamera nicht sieht. Dabei dürfte sie sich mit der AfD recht einig sein, die im Grunde genau das gleiche fordert. Nachdem die CDU Anfang diesen Jahres auf dem Anger für Kameraüberwachung geworben hat, hat (damals Noch-OB) Brausewein kurz danach bekannt gegeben, dass es voraussichtlich ab Ende 2024 eine erste Probephase für eine Kameraüberwachung auf dem Anger geben soll. Dass die Kameras hierfür vermutlich erstmal geliehen werden sollen, spricht für sich. Die angebrachten Kameras sollen dann erstmal punktuell an Hotspots installiert und nur zu „Schlagzeiten“ personell überwacht werden. Also dann und dort, wenn/wo am ehesten mit Straftaten zu rechnen ist. Die restliche Zeit über sollen die Geräte nicht personell überwacht werden, sie können aber alles aufzeichnen und speichern. Perspektivisch soll sogar künstliche Intelligenz eingesetzt werden, um Bewegungsmuster zu erkennen und ggf. Gesichter zu scannen.

Wie wenig Einfluss Kameraüberwachung in der Realität auf Gewaltkriminalität hat, haben wir alle 2020 am Beispiel des brutalen Überfalls vor der Staatskanzlei sehen können. Die umfangreiche Überwachung rund um die Staatskanzlei hat die 15 gewalttätigen Neonazis nicht davon abgehalten, auf ein Dutzend junger Menschen und zwei Zivicops einzuschlagen, einzutreten und dabei mehrere Menschen zum Teil lebensgefährlich zu verletzen. So viel zum Präventionsaspekt. Und wenn am Ende für so eine brutale Tat nur zwei Täter tatsächlich inhaftiert werden (sollen), kann man auch nicht von einer abschreckenden Wirkung sprechen, die immer wieder so gern in Argumentationen für eine Videoüberwachung angeführt wird. Es gibt dazu sogar mehrere Studien, die belegen, dass Kameraüberwachung in öffentlichen Räumen meist kaum bis keinen positiven Einfluss auf Kriminalitätsraten nehmen. Mitunter können Kameras sogar einen negativen Einfluss nehmen, da durch die Annahme „der Staat schaut schon hin“ die Bereitschaft zu Zivilcourage sinkt und Betroffene mit höherer Wahrscheinlichkeit keine akute Hilfe erhalten. Aber immerhin gibt es dann Aufnahmen, die nicht ausgewertet werden, zu schlecht sind oder an einem absolut unmotivierten Richter scheitern. Am Ende sorgt die Kameraüberwachung auch nicht dafür, dass Probleme gelöst werden, sondern nur dafür, dass sich die Probleme örtlich verlagern. Die Stadt will die Kriminalität offensichtlich gar nicht bekämpfen, sondern nur aus den Tourismusmeilen verdrängen und das Stadtimage irgendwie sauber halten. Andernfalls würde die Stadt mehr in Streetwork und soziale Einrichtungen investieren und nicht in Kamera-Leasing und halblegale Waffen für die Ordnungsbehörde. Auf die konkreten Deliktzahlen am Anger dürfte eine Kameraüberwachung ohnehin kaum einen nennenswerten Einfluss nehmen, schaut man sich die größten Deliktfelder an: Ladendiebstähle, Hausfriedensbrüche und Leistungserschleichungen finden in der Regel in Räumen statt, die ohnehin schon kameraüberwacht werden. Potenzielle Gewaltdelikte werden entweder auch vor Kameras stattfinden oder sich in die nächste Seitenstraße verlagern. Erste Stimmen für die Ausweitung der Befugnisse in die Schmidtstedter Straße werden bereits laut.

Dem großen Bruder die Augen ausstechen

Die kommende Kameraüberwachung auf dem Anger kann von uns also nur als Signal eines repressiveren Staats verstanden werden, der viel dafür tut, seine kommerziell relevanten Tourismusmeilen sauber zu halten. Es geht nicht um Gewaltprävention oder Sicherheitsgefühl, sondern um Überwachung, Machtdemonstration und Kontrolle. Wir haben immer wieder gesehen, welchen Zweck solche Kameraüberwachungen erfüllen – und welche nicht. Gewalt und vor allem rechte Gewalt passiert da, wo der Staat in der Regel wegschaut. In Erfurt Süd, in Sonneberg oder an den unzähligen anderen Orten, an denen Menschen, die nicht ins Ideal menschenfeindlicher Ideologien passen, in ihrer Sicherheit massiv bedroht sind. All diese Orte tauchen nirgendwo als „Kriminalitätshotspots“ oder „gefährliche Orte“ auf. Wenn der Staat mal hinschaut, dann weil er einen wirtschaftlichen Schaden befürchtet oder wirtschaftliche Potentiale sieht. Es geht darum, die Innenstadt der Landeshauptstadt „sauber“ zu halten und die Magdeburger Allee weiter zu gentrifizieren. Im Fokus stehen Populismus, Verdrängung und Überwachung.

Diese Ziele verfolgen wir nicht und wir haben auch keinen Bock auf staatliche Überwachung und Gefahrengebiete. Wir verlassen uns nicht auf die Landesregierung oder den Stadtrat, seien sie rot, grün, schwarz oder braun. Denn auch die ach so solidarischen Regierungen haben uns in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass wir nicht auf der gleichen Seite stehen, sobald die Lage ernst wird. Ihr schmeißt uns aus euren Häusern, schiebt unsere Freund:innen ab und überwacht jeden unserer Schritte? Wir organisieren uns, wir sind solidarisch und wir haben lange Leitern!

[1] Infos dazu findet man unter https://www.erfurt.de/ef/de/service/aktuelles/pm/2024/148035.html und direkt bei „Feuer & Flamme“ die das Awareness-Team wohl gestellt haben: https://feuer-flamme-ep.de/erstmalig-awareness-teams-auf-dem-erfurter-kraemerbrueckenfest

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