Wohin am 1. Mai? Anna Nein grübelt über das, was dieses Jahr ging am Arbeiter:innenkampftag in Gera. Ein Jahr nach dem Kessel.
Ganz kurz nach Mitternacht werfen am Anger ein paar Jugendliche kleine süße Böller. Hat vermutlich gar nichts mit der Datum zu tun, aber ich denke: Hurra, der erste Mai ist eröffnet.
Rückblick: Lange zerbreche ich mir vorher den Kopf. Wo soll es am 1. Mai in Thüringen hingehen?
Da gäbe es die Option 1: Antifaschistisch „Kämpfe verbindend und Kapitalismus überwindend“ in Gera demonstrieren, wo allerdings die Nazis an diesem Tag ausgeflogen sind. Wo man aber das ganze restliche Jahr das astreine Naziproblem spürt. Wo wir uns allein schon aus Trotz und Prinzip die Straße nehmen können, nachdem der letzte 1. Mai in Gera so wild, frustrierend, schmerzhaft und die Repression im Nachgang so maßlos war. Wo wir dieses Mal nicht nur Nazis hinterherrennen würden, sondern den bedeutsamen Tag mit unseren eigenen antifaschistischen und antikapitalistischen Inhalten füllen. Wo wir das Scheißsystem radikaler und konsequenter ins Visier nehmen statt Burgfrieden zu wahren mit irgendwelchen Sozialdemokratischen und Neoliberalen bei irgendeinem bunten Demokratiefest – nur wegen des kleinsten gemeinsamen Nenners, dass Faschismus bäh ist.
Option 2: Die bummelige Gewerkschaftsdemo – bestimmt mit Bratwurststand und dem dummen August von der „Gewerkschaft“ der Polizei. Stand nicht wirklich zur Debatte für mich, habe nicht viel dazu zu sagen. Belehrt mich eines besseren – als Option sei es erwähnt.
Option 3: In Sondershausen auf die Straße gegen das Potpourri aus Rechten von bis, NationalistInnen, RassistInnen, Verschwörungsbewegten und Neonazis, das dort für den 1. Mai hinmobilisiert. Die Antifaschistischen Gruppen Nordthüringen haben zwei Tage vorher zum Gegenprotest gerufen. Und sogar die Jusos einen Bus gechartert, hört hört.
Option 4: Antifaschistisch und solidarisch ins finstere Sonneberg zu Hilfe eilen. Da will der Dritte Weg auflaufen. Die Info verbreitet sich kurzfristig und erwischt Kackstädter:innen, die schon zwischen der Entscheidung Gera vs. Sondershausen verzweifeln, überraschend. Infos zu einer etwaigen Gegendemo finden sich keine, nicht mal auf Instagram – was ja in logischer Schlussfolgerung heißt: dann gibt es da wohl nichts, kein gemachtes Nest zum reinsetzen.
Nicht zu vergessen Option 5: Nach Berlin fahren, Randale, Bambule, Metropolenstyle. Aber mal ehrlich…
Nach vielen Umdrehungen um mich selbst und teils politischen, teils offengestanden erlebnisorientierten Abwägungen, ist die Entscheidung gefallen: Es geht wieder nach Gera. Entscheidung mit Bammel, sich falsch entschieden zu haben, aber auch mit Gefühl, dass auch bei Option 3 und 4 auch genug antifaschistische Süßmäuse am Start sind. Und ich weiß immer noch nicht so recht, was für mich eigentlich ein „gut“ oder „sinnvoll“ verbrachter 1. Mai ist.
Auf geht’s!
Anreise. Läuft. Dieses Mal haben wir keine zu Verschwörungstheorien hinreißende Zugpanne, kein ungeplanter Aufenthalt mit locker hundert Zecken am Bahnhof Stadtroda wie letztes Jahr. Störungsfrei in Gera angekommen. Die Demoroute macht einen fast schon skurril weiten Bogen um die Bachgasse – die Falle, die Stelle, an der 2023 der Polizeikessel um mehr als 250 Leute zugezogen wurde und Monate später für viele noch die dicke Fortsetzung der Repressionskeule kommen sollte. Unsere neue Route sagt: Haha, das passiert uns nicht nochmal. Mal sehen, denke ich.
Auftakt. Wir sind viele, wir laufen los. Motiviert. Das Skandieren läuft zwar, nur heute nicht so richtig rund. Inhalte werden beschwingt, laut und oft einfach gleich mehrere auf einmal hervorgebracht. Unser stilistisches Mittel ist heute der arrhythmische Kanon. Hat ja auch was, wir sind rebellisch, uns schreibt keine:r den Takt vor. Und wir sind uns einig, dass wir uns in unseren Visionen noch uneinig sind. Auf das Rufen mancher „Gegen jeden Antisemitismus! Nieder mit Deutschland – und für den Kommunismus!“ antworten andere unmittelbar „Amore! Anarchia! Autonomia!“ Wir bleiben im Dialog, na wie schön.
Sonst ist nicht viel los auf den Straßen. Viele sind wohl Grillen, Moped fahren oder Chillen am See am Feiertag. Doch vereinzelt kommt nette Resonanz von außen. Ein Grüppchen junger Leute steht auf einem Balkon, beobachtet uns erst skeptisch – uns, diesen vorbeiziehenden brüllenden Haufen, der nicht gerade durch farbenfrohes Auftreten besticht. Nach und nach winken sie uns zu, dann heben einige die Faust. Ein Glück, sie haben gecheckt, dass wir die Guten sind. Heartwarming. Ein Nazi macht Mucken aus seinem Dachfensterchen heraus. Spitze, auch er hat es verstanden.
Bin ich noch Staatsfeind oder schon Lindner-Ultra?
Zwischenkundgebung. Wir verkrümeln uns in den Schatten und lassen uns von den Redner:innen, in der Sonne schmelzend, was erzählen. Ein Beitrag von einem älteren Gerschen Gewerkschafter, der hier die Fahne hochhält. Doch hoppla, da fordert er uns auf, antifaschistisch stabil zu bleiben „für unser Land“. Möp. Und – zurecht – kritisiert er scharf, dass ein rechter Pimmel aus dem Umfeld von Neonazi Christian Klar zur Oberbürgermeister:innenwahl in Gera zugelassen wurde. Das sei „ein Skandal“… weil er ein Feind der Behörden und des deutschen Staates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sei. Amüsant, wenn wir uns zurückerinnern, was wir nur vor fünf Minuten so gerufen haben – besonders staatstragend und FDGO-verteidigend kam das auch nicht daher. Möchte dem Genossen nicht unterstellen, dass seine Analyse wirklich wie ein Hufeisen geformt ist – aber mit diesen Argumenten würden wir und Nazis alle im gleichen Töpfchen „Staatsfeind“ landen.
Dann geht es um die Kämpfe der Beschäftigten im Einzelhandel, Aufruf zur Solidarität. Sie streikten hunderte Tage im letzten Jahr für faire Löhne. Davon habe ich mal so gar nichts mitbekommen, das hat Änderungsbedarf. Die Streikenden sind vor allem Frauen (und all die genderqueeren, nichtbinären, trans* Menschen, die von Statistik und Gesellschaft weiter zu Frauen gemacht werden). Werden in prekären Berufen gehalten, deren Verdienst alleine nicht zum Überleben reicht. Patriarchat und Kapitalismus lassen grüßen.
Ein junger Handwerker und Antifaschist spricht aus seiner Erfahrung und ballert begründet seine Verachtung und Wut auf das kapitalistische System heraus. Trifft den Ton und den Punkt, disst herum gegen Klassenverräter Hubertus Heil und Christian Lindner. Diesen fordert er sinngemäß auf, erst einmal richtig zu arbeiten, wie sein Vater, dessen Rücken als Folge der jahrzehntelangen Auspressung seiner Arbeitskraft komplett kaputt ist, bevor FDP-Chrissi sein neoliberales Scheißmaul aufreißt. Der Rant stößt auf Freude und Applaus, auch meinerseits. Denke aber auch: Hä nein, man muss sich doch nicht vierzig Jahre den Buckel krumm malocht haben, um was Revolutionäres, Wertvolles oder auch Scheiße labern zu dürfen? Aber brauch ich auch keine Erbsen zählen, klar soll der „freie demokratische“ Scheißverein trotzdem einfach sein Maul halten. Der Redner nimmt auch das ekelhafte Projekt „Bezahlkarte“ für geflüchtete Menschen in die Kritik. Er appelliert für mehr Organisierung und Solidarisierung, besonders am Arbeitsplatz. Danke!
Deutsche Polizist:innen…
Wir laufen. Polizeikette stellt sich schützend vor das AfD-Büro – kurz spielt sich im Kopf ein kleiner Monolog ab: Why? Ist für die was gewonnen, wenn da gleich was dagegen fliegt und nicht nur die Scheibe sondern auch die Schweine sich Kratzer, Beulen oder einen neuen Anstrich zuziehen? Und das für eine olle Faschoscheibe? Auch das Repressionskalkulationsköpfchen schaltet sich ein: Hätte man dann neben Sachbeschädigung mal eben auch noch Angriff auf Bullen als Vorwurf an der Backe? Und fühlen sich andere sich so wie ich jetzt erst recht provoziert und eingeladen statt abgeschreckt? Stellen die uniformierten Kackmacker sich da nur so dreist und breitbeinig hin, um vielleicht die Chance zu bekommen, doller draufzuhauen? Abgesehen davon bleibt das über der beschützten Tür prangende AfD-Logo zum Abschuss frei und ungeschützt – für ein akrobatisches anti-antifaschistisches Bullentürmchen reicht das Engagement der Cops offenbar nicht. Zu allen Fragen: Ja. Provokation, Faschisten schützen, Eigentum verteidigen – cops do cop things. Ich denke: Was für ein unnötiger Monolog, das wusste ich ja schon. Wir ziehen vorbei. Nix passiert.
In einem spontanen Redebeitrag geht es um die Lage der geflüchteten Menschen, die gerade zwangsweise Bewohner einer Lagerhalle in Hermsdorf am Arsch der Heide sind. So isoliert und abgeschottet ist es für sie alles andere als leicht, Protest gegen den Rassismus der Behörden und das beschissene Lagersystem zu üben – nicht ohne, dass ihnen mit drastischen Konsequenzen, Einstellung ihres Asylverfahrens, Abschiebung gedroht wird. Trotzdem haben sie Hungerstreiks gemacht und sich mit Thüringer Aktivist:innen gemeinsam organisiert. Appell, sich weiter konsequent gegen Lagerunterbringung einzusetzen.
Tränchen hab ich in den Augen beim Redebeitrag von Leuten, die von den bundesweiten Hausdurchsuchungen im Nachgang des 1.Mai-Kessels letztes Jahr betroffen waren. (Servicetipp: Den kann man auf indymedia nachlesen, wenn man es mal warm ums Herz braucht.) Die Repressionserfahrung hat die gerazzten Antifaschist:innen noch radikalisiert und bestärkt. Sie verzagen nicht, sind heute wieder dabei in Gera. Alerta!
Die Route wird abgekürzt, weil die Sonne zu dolle ballert. Die Planänderung trifft auf Zuspruch. Da bleibt nur noch wenig Zeit, alles zu geben. Also zünden ein paar Rauchtöpfe, weil es eben schön ist. Die Anmelderin honoriert die Ästhetik, aber das ist nicht angemeldet. Ohje ohje. Das gibt ne kleine Rüge, kurze betretene Stille folgt. Aber ein Glück, die inneren Spannungen lösen sich schnell, denn die Bullen sind ja auch noch da – und der Rauch hat sie wuschig gemacht. Fahren Kameras raus, mehrere uniformierte Trupps eilen an die Spitze der Demo, um von nun an verstärkt vorweg zu laufen. Denn schöner bunter Rauch, das riecht doch eindeutig nach Eskalation und dass hier gleich die Stadt vom Mob zerlegt wird. Logisch. Keine Frage, sie sind drüber, die Cops. Bullenhass in allen Ehren, doch auch den vorderen Genoss:innen, die sich von ein paar Schweinchen im Galopp innerhalb von Sekunden so aufscheuchen lassen und rumbrüllen als wäre sonstwas los, könnte jemand mal eine Runde Kamillentee ausschenken.
Kein ruhiges Hinterland?
Immer wieder gibt es Updates aus Sondershausen und Sonneberg. In Sondershausen sieht es gut aus. Zwar ließ sie die Polizei nicht nehmen, anreisende Linke auf dem Weg zum Versammlungsgelände ausführlich zu filzen. Schweinebacken. Doch gegen den rechten Haufen aus Freies Thüringen, Die Heimat, AfD, Werteunion hat sich trotz kurzfristiger Mobilisierung ein stattlicher Gegenprotest zusammengefunden – und letztlich sind die Faschos nicht mal gelaufen. Besser wäre nur gewesen, wenn sie gerannt wären.
In Sonneberg hingegen geht es Menschen wohl übel. Man sei moralisch am Ende, wird am Mikro durchgesagt. Der Dritte Weg hat dort kurzfristig zum Aufmarsch mobilisiert und konnte letzten Endes in dreistelliger Zahl quasi ungestört laufen. Der Sieg des AfD-Landrats Sesselmann habe Sonneberg für sie interessant gemacht, sagen sie selbst. Neben der regulären Gewerkschaftskund- gebung zum 1. Mai, die auch nichts in Richtung Gegenprotest gerissen hat, gab es keine organisierte Gegenwehr. Die Antifaschist:innen vor Ort fühlen sich heute komplett allein gelassen. Scheiße.
Learning und zwar kein neues: Müssen uns (wieder) besser vernetzen. Spontaner reagieren können. Kanäle schaffen, dass ein Sonneberg spontan nach Hilfe rufen kann, die Stadtmäuse auch spontan und von selbst Hilfe anbieten und vorbeikommen, wenn es brennt. Für heute ziehen wir uns daran hoch, einen solidarischen Vers aus dem Ärmel geschüttelt zu haben und Grüße rüber in die noch tiefere Provinz zu senden: „Sonneberg, ihr seid nicht allein! Das nächste Mal sind wir mit dabei!“ Hoffen wir mal, das war nicht nur für das gute Gewissen, sondern ernst gemeint.
Shoutout für eigene Medien
Es wird auch nach Weimar aufgerufen, um sich am 13. Mai den ewig montags Schwurbelnden in den Weg zu stellen. „Der Aufruf wird auch bald auf indymedia zu finden sein.“ – „Wuhu indymedia!“ tönt ein einzelner Ruf aus der Menge zurück. Zugegeben, aus meinem Mund. Im Thüringen Journal am Abend heißt es im Bericht über den 1. Mai in Gera, dass die „Leipziger Antifa“ zum Protest aufgerufen hätte. Und dann denke ich mal wieder: Berichterstattung muss man selber machen. Dann schreibe ich den Text hier. Für mehr eigene Artikel und Demoberichte! Teilt eure Perspektiven. Schreibt auf indy, schreibt der Lirabelle, Leute!
Und gerade zwickt es mich in den Nacken, die Frage der Fragen. Denn mir hat heute irgendetwas gefehlt, etwas, das im letzten Jahr präsenter war. Wo war heute dieses Gefühl … von Verrat? Von einer guten Miene zum bösen Spiel? Wo war der professionelle Schulterklopfer der Thüringer Buletten, wenn sie mal wieder Antifas kloppen? Wo war meine Genugtuung über die erneute Bestätigung, dass die Sozialdemokratie ein stinkender Leichnam ist… wo war eigentlich Georg Maier am 1. Mai?