Als Linke wieder handlungsfähig werden

Sogenannte (Stadtteil-)Basisarbeit, wie man das aus dem USA stammende Community-Organizing übersetzen kann, beschreibt den Versuch einer Neuausrichtung linksradikaler Politik und einer neuen Klassenpolitik. Ausgehend davon hat die Gruppe Solidarisch in Gröpelingen (SiG) aus Bremen einen Beratungs-Organisierungs-Ansatz entwickelt, der in vielen Städten Grundlage für Stadtteilarbeit ist und werden soll. Auch in Erfurt hat sich eine Gruppe gegründet, die nach diesem Modell Stadtteilarbeit betreiben will. Die Lirabelle war im Dezember 2024 mit Aktiven der Stadtteilgewerkschaft aus Erfurt im Gespräch.

Wer seid ihr und wann habt ihr euch gegründet? Aus welchem Interesse heraus habt ihr das getan und mit welchem Ziel?

Wir sind eine Vorbereitungsgruppe für das was mal eine Stadtteilgewerkschaft werden soll. Wir haben uns in einer recht kleinen Gruppe ungefähr Ende 2023 angefangen zu treffen. Seit einem halben Jahr sind wir eine größere Gruppe von Personen, die überzeugt davon ist, dass wir uns als Linksradikale wieder anders gesellschaftlich verankern müssen. Den Stadtteil wollen wir als Ausgangspunkt dafür nehmen. Uns geht es darum an der Idee festzuhalten oder sich darauf zurückzubesinnen, wofür wir eigentlich kämpfen und sich zu fragen, wie man diese Kämpfe auch tatsächlich innerhalb der Gesellschaft, und nicht als isolierte linke Szene führt. Ziel ist es, damit langfristig wieder eine größere Bewegung und tatsächlich eine Macht von unten aufzubauen, die es schafft Konkretes, Materielles zu erkämpfen und dadurch auch anders handlungsfähig in der aktuellen Krise zu sein.

Doch es geht nicht nur darum, aus der eigenen Isolation herauszukommen. Wenn wir uns in der Geschichte anschauen, wie andere soziale Bewegungen aufgebaut waren, dann zeigt sich: Es ist nicht so, dass es ein Ereignis gibt und dann entseht eine große, breit getragene soziale Bewegung. Die Basis dafür waren im 20. Jahrhundert in der Arbeiter*innen-Bewegung verschiedene Strukturen, durch die das Leben der Menschen innerhalb der Bewegung stattfand. Das ist es, was wir wieder mehr anstreben müssen: Mehr Räume, wo auf existenzielle Probleme reagiert wird, wo Leute aber auch dadurch, dass sie hier Zeit verbringen, vielleicht erstmalig mit uns als Linke in Berührung kommen.

Angefangen hat es mit einer Auseinandersetzung von Einzelnen von uns zu neuer Klassenpolitik, die angeregt war von einer Debatte um 2014. Im Mai 2016 hat die Gruppe kollektiv aus Bremen ein Thesenpapier mit dem Namen „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik – Kritik & Perspektiven um Organisierung und revolutionäre Praxis“ veröffentlicht. Die Veröffentlichung und anschließende Diskussion in Bremen waren der Beginn der Entwicklung der Stadtteilgewerkschaft. Aus dieser Auseinandersetzung sind verschiedene Stadtteilgruppen entstanden, die ihre Praxis reflektiert haben und in einem Erfahrungsbericht 2023 veröffentlicht haben. Sie haben einen Beratungs-Organisierungsansatz entwicklelt, wie er bereits [im Kasten; Anm. der Redaktion] beschrieben wurde; sie haben konkrete Methoden entwickelt, wie sie denken, dass diese Stadtteilarbeit anfangen kann. Und darauf beziehen wir uns.

Was wollt ihr konkret machen und wo wollt ihr das machen?

Anfangen wollen wir mit solidarischer Beratung zu Themen wie Jobcenter, Problemen mit Ausländerbehörde, und vielleicht auch zu Problemen mit dem Arbeitgeber und dem Vermieter. Wahrscheinlich fokussieren wir uns auf zwei bis drei Bereiche davon, um anzufangen. Das sind erstmal individuelle Problemlösungen. Aber das Ganze soll in einem Rahmen stattfinden, in dem wir auch darüber sprechen, woher es kommt, dass alle einen riesigen Bürokratieberg zu Hause haben und nicht mehr hinterher kommen; woher kommt es, dass die Ausländerbehörde nicht antwortet usw.
Im Beratungssetting wird dann auch der Rahmen erklärt, in dem das alles stattfindet und transparent gemacht, worum es uns geht. Und wenn Leute ein zweites oder drittes Mal zur Beratung kommen wollen, wird es zur Bedingung gemacht, dass sie Mitglied werden. Wir sind keine Sozialberatungsstelle, sondern überzeugt davon, dass wir diese Probleme langfristig nur lösen können, wenn wir uns zusammenschließen. Wir wählen für die Lösung von Problemen dann auch Mittel, die Sozialberatungsstellen sonst eher nicht wählen würden, die aber oft effektiver sind als Rechtswege, weil es schneller geht und weil es in der Öffentlichkeit ist.
Parallel dazu sollen soziale Räume (Küfas, Cafés,..) entstehen, wo sich Leute kennenlernen, und kulturelle Räume, in denen eine gemeinsame Bildung über diese Themen, die Menschen beschäftigen, die in der Beratung auch aufkommen, stattfindet.

Wir haben verschiedene Stadtteile im Erfurter Norden ins Auge gefasst, sind da gerade noch auf der Suche nach Räumlichkeiten. Wir wollen auf jeden Fall in einen Stadtteil, der eher prekärer ist, wo es einen Bedarf an dem gibt, was wir machen wollen uns wo es viele Arbeiter*innnen und Arbeitslose gibt. Das hätte z.B. auch die Krämpfervorstadt sein können. Aber tendenziell in einem Stadtteil außerhalb der Innenstadt anzufangen, wo es sowieso weniger Angebote gibt, finden wir sinnvoll.

Warum bezeichnet ihr es als Gewerkschaft?

Als Gewerkschaft bezeichnen wir uns, weil es uns nicht nur darum geht, als Gruppe im Stadtteil aktiv zu sein und eine Stelle zu haben, an die sich Leute wenden können, wo man z.B. Kämpfe um zu hohe Mieten zusammen führt und dann gehen Leute wieder weg davon. Sondern wir glauben, dass es Sinn ergibt, einen Charakter zu haben von: wir können eigentlich unendlich wachsen durch Mitgliedschaften und Leute können schon sehr niedrigschwellig Teil davon werden und sehen sich als Teil davon. Daher kommt die Idee von einem gewerkschaftlichen Charakter, der auch eine gewisse Form der Verbindlichkeit miteinbezieht.

Die Gewerkschaft ist dann so aufgebaut, dass es Leute gibt, die Mitglieder sind und die mehr machen können, wenn sie wollen, aber es gibt unterschiedliche Stufen von Mitgliedschaft. Es gibt Leute, die eine längerfristige Perspektive im Blick haben. Um Teil dieser Gruppe zu sein, muss man auch eine Weile in der Organisation gewesen sein. Das könnte man auch so ein bisschen als Hierarchie deuten, als Gefälle. Wir glauben aber, dass es so lange es transparent ist, auch okay ist, wenn es solche Unterschiede gibt. Und vielleicht sind die auch wichtig. Es gibt sicher Leute, die z.B. Bock haben eine Küfa zu machen, aber wollen sich nicht auch noch mit revolutionärer Theorie auseinandersetzen und umgekehrt. Deswegen gibt es verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten. Wir müssen lernen, wie wir Entscheidungen mit vielen Menschen, die unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (z.B. Zeit, Erfahrung in der Organisation) treffen können. Das wichtigste ist, Transparenz darüber zu schaffen, wo welche Entscheidung getroffen wird, und soviel Entscheidungsmacht wie möglich in die Arbeitsgruppen und der Vollversammlung zu legen.
Ob das Ganze dann eine Rechtsform hat, wissen wir noch nicht. Aber es braucht eine gewisse Form der Verbindlichkeit und eine aktive Zustimmung zu einem gemeinsamen Selbstverständnis, in dem man gemeinsame Standards gesetzt hat, auf die man sich dann auch berufen kann (wie z.B. gegen Rassismus zu sein). Langfristig sollen die Mitglieder auch finanziell alles tragen.

Max Unkraut beschreibt in seinem Text das Problem des manipulativen Charakter von Teilen des CO und des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes. Wie wollt ihr mit diesem Spannungsverhältnis umgehen? Und was ist eure politische Perspektive?

Uns geht es, wie gesagt, langfristig darum Macht von unten aufzubauen und darin eine breite soziale Bewegung zu schaffe, indem wir von aktuellen existenziellen Notwendigkeiten ausgehen. In Deutschland ist eine dieser existenziellen Notwendigkeiten, irgendwie mit diesem Bürokratiewust klarzukommen, damit gemeinsam umzugehen. Und wir haben eine revolutionäre Perspektive. Das ist die politische Haltung die wir haben und die wir auch transparent machen.

Wie das konkret aussieht ist abhängig davon, was die Themen sind, die Leute gerade beschäftigen; womit treten Personen an die Stadtteilgewerkschaft heran, wozu man mal was machen sollte. Daran anschließend müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, welchen Problemen wir uns wie annehmen. Es wäre ja z.B. nicht politisch sinnvoll, wenn irgendwelche Leute kommen, die sich über die Lautstärke ihrer migrantischen Nachbarn beschweren, da dann was zu Lautstärke zu machen. In Münster bei der Stadtteilgewerkschaft Berg Fidel Solidarisch hatten sie jetzt z.B. das Problem: Der Stadtteil ist sehr dreckig. Das Thema ist sehr rassistisch aufgeladen. Deshalb haben sie als Stadtteilgewerkschaft dazu nichts gemacht. Die Mitglieder kamen aber immer wieder mit dem Müllthema. Sie haben das dann so gelöst: Sie haben zusammen den Müll gesammelt und vor das Büro der Wohnungsbaukonzern gelegt, weil die eigentlich dafür zuständig sind; und es dann eben so geframet. Das Beispiel zeigt: Man muss immer wieder überlegen, wie man etwas theoretisch einbettet. Ziel ist es eher Gemeinsamkeiten zu schaffen und es zu schaffen, dass sich die Menschen in den kleinen Themen verbinden.

Wir sind auch bundesweit vernetzt mit anderen Stadtteilgewerkschaften, denn wir halten es für wichtig, dass es Räume gibt, wo wir diese langfristige Perspektive auch diskutieren können. Hier können wir einerseits Erfahrungen austauschen und voneinander lernen. Andererseits wissen wir, dass es für die revolutionäre Perspektive nicht reicht, sich im Stadtteil zu organisieren, sondern dass es dafür eine überregionale Vernetzung braucht.

Gemeinsamkeiten über gemeinsame Unterdrückungserfahrungen herstellen, ist erstmal relativ abstrakt und weit weg. Bei einer Gewerkschaft gibt es eine Gemeinsamkeit in der Lohnabhängigkeit und daraus lässt sich ein gemeinsames Interesse herleiten. Wie wollt ihr eine solche Gemeinschaft, eine Gemeinsamkeit oder gemeinsames Interesse herstellen oder vermitteln?
Es ist eine Herausforderung, dass nicht alle am gleichen Arbeitsplatz arbeiten, den gleichen Arbeitgeber haben und darin den ganz konkreten und gleichen Gegner haben. Aber was es schon gibt, ist ein gemeinsamer Vermieter. Und der Kapitalismus oder Neoliberalismus ist in alle Lebensbereiche eingedrungen. Dadurch ist es wichtig, in all diesen Lebensbereichen zu kämpfen und die Gemeinsamkeit auch schon über kollektive Kämpfe herzustellen. Davon sind wir überzeugt: dass die Gemeinsamkeit hergestellt wird, sobald man einen gemeinsamen Kampf führt. Das kann gegen den Vermieter sein, gegen das Jobcenter oder gegen die Ausländerbehörde. Über die gemeinsame Gewerkschaft, in der dann all das Thema sein wird, schaffen wir zumindest ein Verständnis dafür, für den Kampf, für Solidarität.

Und wie geht ihr damit um, dass innerhalb der Basis, die ihr erreichen wollt, das gemeinsame Interesse eher nicht ein emanzipatorisches, sondern (mit Blick auf die Wahlergebnisse) eher ein reaktionäres ist?

Bei der Landtagswahl in Thüringen im September 2024 hat die AfD im Erfurter Stadtteil Rieth 35% der Stimmen bekommen. Wenn man sich dann anschaut, wie hoch die Wahlbeteiligung war und wie viele Leute eigentlich gar nicht wählen können, stellt sich das etwas anders dar: Das miteinbezogen haben „nur“ ca. 5% aller Menschen, die im Rieth wohnen, die AfD gewählt. Das verändert die Perspektive.
Und es geht aber auch gar nicht darum, den ganzen Stadtteil zu organisieren. Das wäre illusorisch. Wenn wir alle Leute, die die AfD blöd finden organisieren könnten, wäre damit schon viel gewonnen. Wir wollen uns erstmal auf alle konzentieren, die wir auch erreichen können. Dann strahlt das auch aus auf den Stadtteil und verändert da was.
Dabei muss man auch überlegen wie fehlerfreundlich und offen man ist und abschätzen, wie gefestigt Ideologien bei Personen sind, um zu entscheiden, bei wem man weiter ins Gespräch geht.

Wie geht es nun für euch weiter?

Wir haben uns kein Ziel gesetzt, wann wir anfangen wollen mit der Beratung, weil das v.A. von der Raumfrage abhängt. Es geht erstmal darum Netzwerke auszubilden, sich kennenlernen, Problemlagen im Stadtteil kennenzulernen, und wenn wir erfahren, dass richtige Scheiße passiert uns zusammenzuschließen. Dafür knüpfen wir natürlich an vieles an was es schon gibt, oder mal gab, wie informelle Netzwerke oder die Sozialproteste gegen Hartz IV. Längerfristig haben wir erreicht, was wir wollen, wenn wir merken, wir können spontan auf Ungerechtigkeiten reagieren, behalten eine revolutionäre Perspektive bei und tragen diese in breitere Teile der Gesellschaft. Wir können nicht genau vorhersehen, was für gesellschaftliche Brüche, was für Krisensituationen es geben wird. Aber wenn es in den Krisensituationen eine andere kollektive Handlungsfähigkeit gibt (konkret in einem Stadtteil, aber auch überregional über die Vernetzung) dann kann auch konkretes gewonnen werden.

Weitere Infos und Kontaktdaten zur Erfurter Stadtteilgewerkschaft:
http://l50.wohnopolis.de/einladung-zum-kennenlernen-der-stadtteilgewerkschaft


Die Gruppe SiG entwickelt seit 2016 in Bremen revolutionäre Stadtteilarbeit. In der Reflexion ihrer Erfahrungen, die in dem Text „Gesellschaft verändern heißt Macht von unten aufbauen: Der Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) – Solidarisch in Gröpelingen“ zusammengefasst sind, beschreiben sie den BAO als „eine Kombination aus Beratung, verbindlicher Mitgliedschaft, Vollversammlungen, Aktionen, politischer Bildung und unterschiedliche[n] Beteiligungsmöglichkeiten.“ Vor dem Hintergrund des langfristigen Ziels einer emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung sollen in Stadtteilen Beratungsangebote geschaffen werden, die „existenzielle Notwendigkeit[n], ein individuelles Bedürfnis, das viele Menschen teilen, bisher aber vereinzelt angegangen sind“ aufgreifen und als verbindliche Basisorganisation in Kombination mit politischer Bildung, Mobilisierung und dem Führen konkreter Kämpfe langfristig eine organisierte soziale Bewegung und damit eine „Macht von unten“ schaffen.

Den Text von SiG findet ihr hier: https://solidarisch-in-groepelingen.de/eigenetexte/

Dieser Beitrag wurde in Erfurt, Interview veröffentlicht und getaggt , , , , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Sowohl Kommentare als auch Trackbacks sind geschlossen.