Idee und Kritik des Community Organizings

Nach Jena gründet sich nun auch in Erfurt eine Stadtteilgewerkschaft. Max Unkraut beschäftigt sich in folgendem Artikel mit dem Thema Community Organizing, aus dem sich die Idee speist, und unterzieht ihn einer Kritik. Der Artikel soll jedoch nicht bloß kritisieren, sondern einen breiteren Einblick in die Praxis für diejenigen gewähren, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben. Teil 1 von 2.

I

In der Lirabelle #32 rief der club communism dazu auf, gemeinsam nach einer sozialistischen Praxis zu suchen, die sich nicht einfach verstaatlichen lässt oder aus Kategorien der bürgerlichen Politik deduziert werden kann. Sie soll außerdem antideutsch sein und das heißt – meiner Interpretation nach –, dass sie die potentiell revolutionären Subjekte als autonome, mit Spontaneität begabte und damit als aufklärbare Wesen betrachtet. Antideutsch zu sein, bedeutet demnach auch, (im engeren Sinne) anarchistisch zu sein und jede Bevormundung durch sog. Avantgarden strikt abzulehnen. Da es aktuell in Thüringen und anderswo ernsthafte Versuche gibt, das revolutionäre Potential durch eine Form des Community Organizing (CO) zu realisieren, soll das Konzept auf o.g. Problematik hin untersucht werden. Vorweg sei gesagt, dass ich das Konzept für durchaus problematisch halte. Ich werde aber am Schluss des Artikels versuchen, die Kritik praktisch wieder einzuholen, indem ich Vorschläge zur Korrektur desselben gebe.
CO ist ein aus den USA stammendes Praxiskonzept, um Nachbarschaften oder eben bestimmte Communities – d.h. Individuen, die aufgrund eines gemeinsamen Unterdrückungsmerkmals zueinander gezählt werden – dafür zu organisieren, ihre Ohnmacht zu verringern oder abzuschaffen, indem diese bei die Erreichung konkreter Lebensverbesserungen durch ein ganzes Arsenal von Methoden unterstützt werden. In den USA feiert das Konzept in seinen verschiedenen Ausformungen seit über 100 Jahren große Erfolge. Daher versprechen sich die engagierten Genoss:innen vermutlich ein Schlupfloch in Zeiten der Ohnmacht durch Sozialpartnerschaft und dem daraus folgenden Abdriften der Arbeiter:innenklasse ins reaktionär-populistische Lager, das jene einerseits durch simulierte Nähe zwischen Politik und ‚kleinem Mann‘ und andererseits national-völkischem Machtgebaren mit Aussicht auf ein Jetzt-geht’s-voran ködert. Dagegen setzt der Beratungs-Organisations-Ansatz der Stadteilgewerkschaft Bremen Gröpelingen, dem sich auch die hiesigen Gruppen (Erfurt & Jena) angeschlossen haben, auf einen linken Populismus, der durch „populäre Macht“ (Solidarisch in Gröpelingen: Gesellschaft verändern heißt Macht von unten aufbauen, S. 4) das Ziel verfolgt, der realen Ohnmacht – jedoch von links – entgegenzutreten. Inwiefern diese ‚populäre Macht‘ genuin ist, d.h. eine von den Subjekten selbst ausgeübte Freiheit wird, muss sich erst zeigen. Reflektiert aber das Unternehmen seinen in der Methode liegenden manipulativen Charakter nicht, so ist es zum Scheitern, d.h. zu Marxistisch-Leninistischer Heteronomie verurteilt. (Vgl. Adamczak, Bini: Beziehungsweise Revolution) In meinem Artikel gehe ich daher der Frage nach, ob CO prinzipiell eine manipulative und also eine Herrschaftstechnik ist und des Weiteren auch dann bleibt, wenn ihr das Wort ‚sozialistisches‘ vorgeschoben wird.
Um sich ein grobes Bild des CO verschaffen zu können, kann es ratsam sein, sich die Geschichte desselben zu vergegenwärtigen. Ich verwende hierfür die historische Einteilung nach Robert Fisher u.a. (Vgl. ders.: Contested Community: A Selected and Critical History of Community Organizing) Fisher u.a. geht von einem in der Breite geteilten Kanon des CO aus, der mit dem Ende des 19 Jhd. und dem Social Settlement Movement, einer eher sozialarbeiterisch geprägten Bewegung, beginnt. Saul Alinsky – der ‚Playboy‘ des CO – sowie linke Parteien und Gewerkschaften übernehmen und radikalisieren in den 1930ern und 40ern das Konzept, ohne dabei notwendigerweise revolutionär zu werden. (Die Bezeichnung Playboy geht auf ein Interview in 03/1972 mit dem Playboy Magazine zurück, trifft aber auch etwas tatsächliches machohaftes an seiner Praxis.) Im Mittelpunkt stehen hier militante, konfrontative Taktiken, die durch die KomIntern und die CPUSA in die USA wandern, und der Aufbau von antifaschistischen und z.T. revolutionären Organisationen. Wie andernorts auf der Welt radikalisiert sich das CO in den USA ab den 1960ern durch die neue Linke, die Hippie- und Bürgerrechtsbewegung – der afro-amerikanischen Bevölkerung und der Frauen. Insbesondere zu dieser Zeit wird aber auch der Sozialismus als gesellschaftliche Perspektive zurückgewiesen.
Fishers Verdienst ist es nun, diesem Kanon einen Anti-Kanon entgegenzusetzen. So professionalisiert sich das CO in den 1920er und 30er Jahren und wird vollends liberal oder „anti-ideologisch“, wobei Kirchen oftmals die Finanzierung von Organizing-Projekten übernehmen und somit deren Ziele steuern können. Das liegt auch am Einsetzen des red scare in Anbetracht der Oktoberrevolution. Das in den 1950ern beginnende gilden age beschert der US-amerikanischen Bevölkerung mit der Konjunktur eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Viele (weiße) Leute erwerben Häuser in den suburbs, womit auch die Furcht vor etwaigem Werteverlust des Kleineigentums droht. Es gründen sich aus diesem Anlass Organisationen die Afro-Amerikaner:innen aus ihren Nachbarschaften vertreiben. Seit der Mitte der 1970er haben v.a. Evangelikale das CO für ihre biedere Vorstellung einer Gesellschaft entdeckt. Sie tragen u.a. Verantwortung für die Wahlerfolge der Republikaner, insbesondere Trumps.
Anders als es viele ‚progressive‘ (linksliberale, vgl. Fisher, Robert: Let the People Decide, S. 3) und ‚radikale‘ Organizer sich wünschen, ist das CO also nicht per se an progressive oder radikale Wertevorstellungen gebunden. Wie Fisher konkludiert, ist die simultane Verwendung des CO durch linke und durch rechte Gruppen nur deshalb möglich, weil es sich im Wesentlichen um eine neutrale Technik handelt, also ein Werkzeug wie etwa einen Hammer, der von einem bösen ebenso wie von einem guten Menschen genutzt werden kann, um damit einen Nagel in die Wand zu schlagen. CO ist, anders als man in den 1930ern und 40ern behauptete, nicht „inhärent alternativ und oppositionell gegenüber der Mainstreamgesellschaft“ (Fisher, Robert u.a.: Contested Community, S. 288): „sie sind nicht inhärent links oder liberal; sie sind nicht intrinsisch progressiver Natur“ (ebd., S. 290). Ich würde noch etwas weiter gehen und behaupten, dass ‚neutrales‘ CO im Kern herrschaftssichernd ist, da sich diese ‚Neutralität‘ notwendigerweise inhaltlich, in Form seiner Methoden artikuliert und sich damit eine Praxis gibt. Auch sozialistisches CO wird demnach im System verbleiben und bei Erfolg keine Befreiung für die Leute darstellen, wenn es keiner Kritik unterzogen wird. Die Anwendbarkeit des CO für reaktionäre Gruppen ist also kein Zufall oder böser Wille, sondern liegt in der Blindheit für die Dialektik von Form und Inhalt, von Organisation und Spontaneität begründet, die aus der fundamentalen Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit resultiert und von daher aus jeder ihrer Poren, selbst der widerständigen, quillt.

II.

Um meinen Kritikpunkt zu explizieren, möchte ich zunächst das liberale CO darstellen, wie es von Alinsky ausgeübt wurde und bis heute – mit einigen technischen Verbesserungen sowie Anpassungen an die aktuellen Verhältnisse und Subjekte – ausgeführt wird. Folgendes Zitat stammt aus der Anleitung zum Mächtigsein, einem Kompendium aus verschiedenen Texten Alinskys, die online zur freien Verfügung steht und eine Einführung in die Praxis der 1930er und 40er bietet:
„Der eigentliche Zweck und Charakter einer Bürger-Organisation ist erzieherischer Natur. Das Zusammenbringen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen führt zum Erwerb von Wissen und sich daraus ergebenden Einstellungsveränderung […] Diese gegenseitige Verständigung wird begleitet durch eine neue Einschätzung und Erklärung sozialer Probleme.“ (Alinsky, Saul: Anleitung zum Mächtigsein, S. 106.)
Alinsky beschreibt hier als Zweck der gemeinsamen Organisation die Erziehung der Leute, sodass sie eine neue Haltung gegenüber sozialen Fragen entwickeln. Mittel zu diesem Zweck sei eine gewisse Art von Aufklärung sowie die Diskussion verschiedener Perspektiven. Allerdings wird nicht klar, warum Alinsky von der Erziehung als ‚eigentlichen‘ Zweck spricht. Zeigt er doch im Rest der Schrift, dass Erziehung bloß ein Mittel zum Zweck der ‚Bürger-Organisation‘ zur Veränderung der sozialen Verhältnisse ist. Sei’s drum: Wer sich mit Erziehung und daher mit Aufklärung beschäftigt, muss sich unweigerlich didaktische Fragen stellen: „Ein sehr verbreitetes Problem, mit dem sich Bürger-Organisationen beschäftigen müssen, ist nicht allein die Beschaffung von Informationen, sondern ihre Vermittlung in einer Weise, die nicht die Würde und Selbstachtung eines jeden Menschen verletzt.“ (Ebd., S. 108) Demnach sind Würde und Selbstachtung zentrale Werte im Aufklärungsprozess. Leider gibt Alinsky keine präzise Definition dieser Worte, wirft vielmehr bloß weitere Schlagworte ein, z.B. Gleichberechtigung; dieses Ansinnen wird jedoch sogleich von Alinsky gebrochen werden. Ein ‚würdevoller‘ Erziehungs- und Aufklärungsprozess gestaltet sich nach Alinsky folgendermaßen:
„Wir waren ungefähr 16 Leute. Allee Komitee-Mitglieder hatten jede Menge Fragen zu gesetzlichen Bestimmungen und Anforderungen […] und ich hätte ihnen ohne Schwierigkeiten viele Fragen beantworten können, aber ich wußte, daß ihnen die Antworten nicht gefallen würden, falls ich sie ihnen gab. […] sie wären darüber sauer gewesen, daß ich alles und sie nichts wußten. Oftmals wird dir jemand nicht zustimmen, nicht weil er gegen das ist, was du sagst, sondern dagegen ist, daß du es sagst und wie du es sagst. […] Wir gingen alle in die öffentliche Bücherei und besorgten uns die Titel der einschlägigen Schriften. […] Darauf setzten wir uns zusammen und wir versuchten, die Antworten auf unsere Fragen in der Broschüre zu finden. Man darf nicht vergessen, wir lasen alle in unserem eigenen Exemplar der gleichen Broschüre. Ich würde die Antwort, sagen wir mal auf Seite 22 finden und dann sagen: ‚He, Leute, seht euch dies hier auf Seite 22 an.‘ Ich würde die ersten drei oder vier Wörter vorlesen. ‚Vielleicht steht hier das Zeug, was wir suchen…‘ Sofort würde eines der anderen Komitee-Mitglieder sagen: ‚Genau, schaut euch Seite 22 an!‘ […] Durch dieses Wechselspiel, daß einer ein bißchen vorliest und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf eine Zeile oder einen Satz oder ein Wort lenkt, verstehen alle die Antwort auf die Frage, und alle haben das Gefühl, daß sie die Antwort selbst gefunden haben.“ (Ebd., S. 109 f.)
Würde und Selbstachtung bedeuten demnach, dass die Menschen so behandelt werden, wie man heute – zwar naheliegender, aber ebenso falsch – Grundschüler:innen behandelt, d.h. das, was die Organizer erreichen wollen, wird den Leuten mittels Tricks vermittelt, um sie nicht der freilich verletzenden Einsicht auszusetzen, dass sie das kapitalistische System dumm gemacht hat. Demnach ist eine vernünftige Einsicht, d.h. eine Einsicht, die auf dem Nachvollzug logisch-stringenter Argumentation ausgerichtet und außerdem moralisch annehmbar ist, nicht notwendigerweise angestrebt. Die Borniertheit der Leute soll vielmehr bestätigt werden, indem man ihnen die ‚richtigen‘ Antworten unterjubelt. Hiernach geht das progressive CO davon aus, dass die Veränderung der Machtverhältnisse automatisch zur Veränderung des Bewusstseins führe und dieses nicht etwa voraussetze. Freilich haben auch Sozialist:innen sich mit der petitio principii auseinanderzusetzen, wie das Resultat – die befreite Gesellschaft – bereits durch die revolutionäre Tätigkeit – kritische Theorie und Praxis – vorweggenommen werden kann und muss. Ohne groß darüber nachdenken zu müssen, ist festzuhalten, dass Manipulation hierbei das falsche Mittel ist. In der Diskussion zur Kommunikationstaktik, die er „gelenkte Befragung“ (ebd., S. 123) nennt, geht Alinsky explizit auf die Thematik Manipulation ein und konstatiert:
„Ist das Manipulation? Sicherlich, wie ein Lehrer manipuliert, und nicht weniger als sogar Sokrates. (…) Solange der Organisator auf der Grundlage von Fragen vorgeht, werden die Gemeindevertreter sein Urteil immer höher als ihr eigenes einschätzen. Sie glauben, daß er etwas von seiner Arbeit versteht, daß er die richtigen Taktiken kennt, darum ist er ja auch ihr Organisator. Selbst wenn sie sich dessen bewußt sind, weiß der Organisator, daß er, finge er an, Anordnungen und ‚Erklärungen‘ abzugeben, unbewußten Unmut schürte, ein Gefühl, daß der Organisator sie schlecht macht und ihre Würde als Individuen nicht respektiert.“ (Ebd., S. 124)
Manipulation gehört also zum Tagesgeschäft der Organizer – zumindest dann, wenn man Alinsky folgt. Es ist nicht verwunderlich, dass derart manipulierte Menschen dann, wenn sie wieder auf sich allein gestellt sind, ihrem autoritären Charakter freien Lauf lassen. So ist es passiert, nachdem sich Alinsky vom Back of the Yards Neighborhood Council zurückzog und die Community sich quasi sofort rassistisch organisierte: „das Back of the Yards“ sei „so Fähigkeiten-fokussiert“ gewesen, „dass, als Alinsky die Organisation verließ, sie dazu überging, sich darauf zu fokussieren, Afro-Amerikaner aus der Nachbarschaft auszuschließen“ (Fisher, Robert u.a.: Contested Community, S. 287).
Ich verstehe – gegen Alinsky und für einen antideutschen Sozialismus – den Begriff der Würde materialistisch und mit Immanuel Kant: Sie bedeutet bei ihm den absoluten unhintergehbaren Wert des Menschen. Er ist Resultat der grundlegenden Autonomie des Menschen, also dem prinzipiellen Potential, sich selbst (αὐτός: griech., selbst) gesetzförmig (νόμος: griech, das Gesetz), d.i. moralisch zu bestimmen. Der Begriff impliziert dementsprechend die Freiheit des Subjekts, die – materialistisch betrachtet – durchaus durch unfreie soziale Verhältnisse nicht zu seiner Realisation kommen kann. Begründet liegt dies in der Negativität der Freiheit, die sich aus der Trennung von den Produktionsmitteln ableitet und so zur reinen Form, eben zum Potential verkommt. Aus ihm resultiert im Übrigen das Prinzip kollektiver Beratschlagung, d.i. die Möglichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch zu verwalten. Grundsätzlich ist der Mensch also dazu in der Lage, selbst der Anfang einer Kette von Wirkungen und nicht bloß seine Wirkung unter anderen zu sein. Aus dieser Freiheit ergibt sich für Kant nun die Würde, insofern ein freies Wesen nie nur Mittel zum Zweck irgendwelcher Handlungen sein kann, sondern vorrangig seiner selbst Zweck ist. Das bedeutet, dass ein Mensch nicht nur deshalb einen Wert besitzt, weil er für anderes nützlich ist, sondern aus seinem Für-sich-selbst-Sein. Insofern ist nun seine Freiheit dann verletzt, wenn er ein Mittel zum Zweck wird – wie bei einer Manipulation.(1)
Der manipulative Charakter ist jedoch nicht nur bei Alinsky methodisch verbaut, sondern auch bei gegenwärtigem CO. Eine Organizerin, die in Ungarn zehn Jahre CO mit Rom:nja durchführte und mit der ich in regelmäßigem Austausch stehe, empfahl mir das Buch Organizing for Social Change von Kimberly Bobo u.a. als „Bibel“ des zeitgenössischen CO. Um die Kritik etwas verständlicher zu machen und einen weiteren Einblick in das Konzept zu geben, will ich nun einige ausgewählte Definitionen aus diesem offenbar grundlegenden Werk wiedergeben. In ihm werden issues (Anliegen) im Gegensatz zu einem problem definiert:
„In der Organisation von direkten Aktionen gibt es einen Unterschied zwischen einem Anliegen und einem Problem. Ein Problem ist ein weites Feld von Anliegen. Zum Beispiel unerschwingliche Gesundheitsversorgung, Umweltverschmutzung, Rassismus und Arbeitslosigkeit sind alles Probleme. Ein Anliegen ist eine Lösung oder eine teilweise Lösung für ein Problem. Nationale Gesundheitsversorgung, grüne Energie, Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten und ein Bundesarbeitsprogramm sind alles Anliegen.“ (Bobo, Kim: Organizing for Social Change, S. 22)
Ein ‚Anliegen‘ ist also ein konkreter Weg, um ein Problem zu lösen. Die US-amerikanischen Organizer pflegen hier normalerweise noch spezifischer zu werden. Ein ‚Anliegen‘ ist ein konkreter Weg, um ein besonderes Problem zu lösen. (Man schmeckt – nebenbei gesagt – bereits hier die aus der Managementliteratur bekannte und von staatlichen Förderprogrammen geforderte SMARTe Definition von Maßnahmeplanungen.) Dies wird erreicht, indem man Entscheidungsträger:innen durch direct actions dazu zwingt, reale Veränderungen umzusetzen. Rassismus wird demnach nicht durch abstrakte Forderungen gelöst, sondern durch konkrete Änderungen der Machtverhältnisse wie bspw. durch den affirmative act (positive Diskriminierung von Afro-Amerikaner:innen an Hochschulen), den Donald Trump kassierte. Neben dieser Definition geben Bobo u.a. zwei weitere Prinzipien aus, die unbedingt zum CO gehören sollten: Die direct actions müssen ein Gefühl der eigenen Macht vermitteln und konkrete Verbesserungen für die Community erzielen.
Ideology wird dann folgendermaßen dem Anliegen entgegengesetzt: „Die Rechte denkt in Begriffen der Ideologie, während wir Progressiven in Begriffen von Anliegen denken. Die Ideologie des rechten Flügels meint, dass der Staat schlecht ist und soweit wie möglich abgeschafft werden sollte.“ (ebd., S. 5) Wenn ich es richtig verstehe, bezieht sich die Ideologie lediglich auf eine bestimmte, jedoch abstrakte Vorstellung davon, wie die Gesellschaft und ihre Institutionen funktionieren sollten, eine U- oder Dystopie. Sie kann rechts oder links sein – das ist nicht von Interesse, denn eine Ideologie löst keine konkreten Probleme, sondern hat Vorstellungen, die über sie hinausgehen. Es ist ihre Form an sich, die anstößt.
In diese Überlegungen inbegriffen ist nicht bloß eine Diskussion um den ideologischen oder anti-ideologischen Charakter des CO, sondern auch um die Relation von Mittel und Zweck – eine moralische Diskussion also, weil in ihr die Frage danach steckt, welcher bestimmte Zweck welche bestimmten Mittel rechtfertigt. Alinsky ist diesbezüglich ziemlich klar: „Die immer wieder gestellte Frage ‚Heiligt der Zweck die Mittel?‘ ist in dieser Form bedeutungslos; die eigentliche und einzige Frage bezüglich der Ethik von Mittel und Zweck ist immer gewesen: ‚Heiligt dieser besondere Zweck jenes besondere Mittel?‘ [Herv. M.U.]“ (Alinsky, a.a.O., S. 51) Wie auch Bobo u.a. grenzt sich Alinsky von Allgemeinfragen – unbestritten würde er ideologische Fragen sagen – ab. Es geht ihm um Anliegen und sonst nichts. Ich möchte nun etwas genauer zeigen, wie Alinsky die Frage nach Mittel und Zweck für das Organizing betrachtet:
„Der Zweck ist das, was man will, und die Mittel der Weg, wie man ihn erreicht. Immer, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, stellt sich die Frage nach Mittel und Zweck. Der Mensch der Tat betrachtet die Frage von Mittel und Zweck aus der Sicht des Pragmatikers und Strategen […], er denkt nur an seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel und an seine unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Hinsichtlich der Ziele fragt er sich nur, ob sie erreichbar sind und die Anstrengungen sich lohnen, hinsichtlich der Mittel, ob sie wirksam sind.“ (Ebd.)
Zwei Punkte werden hier sehr deutlich: Erstens scheint hier wieder die erste Periode des o.g. Kanons auf. Es war die pragmatistische Chicago School of Sociology, die besser bekannt ist durch ihre Vertreter George Herbert Mead und John Dewey, die mit einem sozialarbeiterischen/ -demokratischen Ansatz arbeitete und die neben Jan Addams Mitbegründer des Social Settlement Movements gewesen ist, von der sich die Alinsky-Tradition jedoch besonders gerne abgrenzt. Zweitens – und das ist der wichtigere Punkt für diesen Essay – versteht Alinsky die Mittel-Zweck-Relation als reine Rationalitätsbeziehung. Die Leitfrage ist hier: Ist die Operation effizient? Dabei ist durchaus möglich – und Alinsky schlägt sich unbenommen auf die Seite der sog. ‚Have-Nots‘ –, dass ein humanistisches Ideal hinter dieser Vorstellung steht. Dieses humanistische Ideal muss sich aber offenbar nicht in den eingesetzten Mitteln wiederspiegeln. CO reduziert sich so auf strategische Überlegungen und liefert zugleich die Begründung für das demokratische Ansinnen, das als ideologischer Kitt einer angeblich nicht-ideologischen Praxis herhalten muss. Demnach sind Organizer neutrale Praxisberater:innen, die die demokratisch ausgehandelten Anliegen der Habenichtse technisch unterstützen.
Die Midwest Academy, zu der Bobo gehört, definiert nun ‚Strategie‘ wie folgt: Sie ist „das Design einer Kampagne kombiniert mit einer Analyse der Machtbeziehungen“ und „ein Ansatz, um eine Regierung oder einen Unternehmensfunktionär zu zwingen, etwas im öffentlichen Interesse zu tun, das er oder sie ansonsten nicht wünschte, zu tun.“ (Bobo, a.a.O., S. 30) Dabei sind ‚Taktiken‘ bloß Teile derselben, nämlich die „einzelnen Schritte, zur Durchführung einer Strategie“ (ebd.). Als Kampagne verstanden wird dann „eine Abfolge von verknüpften Ereignissen über einen Zeitraum, wobei jedes von ihnen die Stärke der Organisation aufbaut und sie näher an den Sieg bringt.“ (Ebd., S. 13) Eine Kampagne ist also der Name für das Anliegen als praktisches Vorhaben. Dementsprechend hat die Midwest Academy als Herzstück der Praxis eine Strategietabelle ersonnen, die als Kalkulator von Kampagnen und entsprechenden Unterkampagnen genutzt werden kann. Die Konzeption der Tabelle als Kalkulator hat den Sinn, dass Tabelleninhalte – ähnlich wie bei Excel – immer wieder angepasst werden müssen, je nach eingetragenen Werten. So werden reale Leute in der Manier staatlicher Institutionen zu Zahlenverhältnissen herabgewürdigt. Wenn ich mit meiner Kritik richtig liege, wird sich dieses rein rationale Mittel-Zweck-Denken auch in der weiteren Praxis zeigen.
Um das CO nach Bobo u.a. auch wirklich zu treffen, greife ich ein wesentliches Element desselben heraus. Man findet es unter dem Stichpunkt „Recruiting“, also der Rekrutierung von neuen Mitgliedern der Organisation: „Wenn wir das Kapitel ‚Organizing‘ statt ‚Rekrutierung‘ betitelt hätten, hätten wir ihm eine angemessene Gewichtung gegeben.“ (Ebd., S. 110). Aus dieser Praxis können erstaunliche Einsichten in den Charakter des CO entnommen werden. Erstens beschäftigen sich alle progressiven Organizer furchtbar gerne mit Eigeninteressen. Das Wort Eigeninteresse kommt in ihren Schriften so oft vor, dass ich es mir kaum noch anstreiche. Es ist ein Grundprinzip. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Jeder Mensch hat Eigeninteressen. Sie sind in der bürgerlichen Gesellschaft aber nur schwer mit einer revolutionären Moral zu harmonisieren, da sie die Subjekte oft noch mehr an den bürgerlichen Konsumismus ketten. Sie sollten daher durchaus kritisch betrachtet werden. Jene Erhebung zum Grundprinzip, die die Autor:innen vornehmen, führt dann zur Gleichsetzung von Moral und Eigeninteresse. So steht die Moral, die hier platt altruistisch gedacht wird, neben anderen Eigeninteressen wie Spaß an Geselligkeit oder Macht. (Vgl. ebd., S. 112 f.)
Sehe ich großzügig davon ab, dass hier Moral zu einer Kann-Bestimmung wird, so bleibt die eigentümlich manipulative Art der Mitgliedergewinnung, die sicher in einem Zusammenhang mit der o.g. Prinzipienverschiebung steht. Unter „Dein Image als Rekrutierer“ (ebd., S. 114) empfiehlt die Akademie: „Versuche so gut wie möglich so auszusehen, wie die Leute, die du versuchst zu rekrutieren. Wenn das nicht möglich ist, versuche so auszusehen wie jemand, den sie nach Hause zum Abendessen bringen würden.“ (Ebd.) Ich will die halbherzige Begrenzung dieses Karnevals nicht vorenthalten: „Wie auch immer, du musst immer noch du selbst sein. Das Ziel ist es, Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu übernehmen, die dir dabei helfen, Akzeptanz zu erlangen.“ (Ebd., S. 15) Ist es noch nötig hier weiter auszuführen?
Nach diesem Verriss wäre meine Zwischenthese folgende: In der (anti-ideologischen) Konzentration des liberalen CO auf besondere Anliegen und auf ihre nur-strategische Umsetzung reflektiert sich der manipulative Charakter desselben. Dem Grundproblem der Pädagogik (und damit der Didaktik), wie Unmündige zu Mündigen erzogen werden können, entledigt man sich hier einfach dadurch, dass ein humanistisches Ideal der Würde – offenbar nur eine Motivation unter vielen – angesetzt wird, das als Rechtfertigung der eigenen Handlungen dient und den Habenichtsen eine größere materielle Teilhabe verspricht, wodurch diese dann zu Gleichen geworden sein sollen. Dafür ist dann auch Manipulation recht. Den Widerspruch sehe ich darin, dass eine Befreiung nur durch freie Willensentschlüsse herbeigeführt werden kann, die auf vernünftiger Einsicht beruhen. Diese werden jedoch zugunsten eines egal mit welchen Mitteln zu erreichenden Outputs – die Änderung der Machtverhältnisse – negiert, sodass ein Zustand entsteht, in dem Machverhältnisse verschoben werden, ohne sie zu ändern. Mehr noch, die aus dieser merkwürdigen Verbindung resultierende Verschiebung der Machtverhältnisse wirkt sich zugunsten der Organizer aus, die der Community ihre Ziele unterjubeln. Die Technik erinnert damit nicht umsonst an Lenin, der irgendwo schreibt, dass sich nach der Machtübernahme die Arbeiterräte wie ein Orchester verhalten zu haben, die auf ihn, den Dirigenten, zu hören hätten und der sich einbildet, dass hier das Herrschaftsverhältnis durch eine gemeinsame Harmonie aufgebrochen werde. Die Geschichte straft ihn Lügen. Auch die Organizer bemerken etwas von dem manipulativen Charakter des CO, weshalb Bobo betont:
„Es gibt immer ein [Organisations]Modell. Wenn du es nicht gestaltest, entwickelt es sich von sich selbst aus, oft beeinflusst durch die Finanzierung. Es wird immer genau so wirken wie die Gravitationskraft wirkt, selbst bei denen, die glauben, sie überschritten zu haben. Organizer, ihr habt die Wahl: Lernt das Konzept der Modelle zu verstehen und zu gebrauchen oder werdet blind von ihm geführt.“ (Ebd., S. 69)
Die Emphase, sich nicht von Strukturen beherrschen zu lassen, ist im Allgemeinen wahr, geht aber nicht weit genug. Diese entwickeln sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu eigenständigen Entitäten, die sich dem einfachen Zugriff der Leute entziehen. Nicht umsonst können sich Soziolog:innen fragen, wie gesellschaftliche Strukturen funktionieren – denn sie sind ihnen wie uns entfremdet. Würden die Leute die Strukturen so einfach bestimmen können, bräuchte es demnach kein CO. In diesen verdinglichten sozialen Verhältnissen spiegeln sich außerdem die Erfordernisse der kapitalistischen Gesellschaft wider: Sie sind nicht einfach neutral, sondern haben eine Funktion zur Erhaltung des Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisses; und gerade weil das liberale CO blind für dieses Problem ist und sich sogar als anti-ideologisches gegen jedes Nachdenken dahingehend abschottet, reproduzieren sich die Herrschaftsstrukturen in seiner Praxis.


1 Wer mir an dieser Stelle Religiosität vorwerfen mag, dem:der sei es gegönnt. Ich gebe das ganz offen zu und halte es mit dem Genossen Erich Mühsam, der in seiner Polemik Bismarxismus schrieb: „Die peinlichste Aehnlichkeit der beiden Stämme, die in Deutschland als bismarcksche kapitalistische Staatsmacht und als marxsche doktrinäre Arbeiterbewegung zu den Sternen strebte, die ihnen nicht leuchteten, war der völlige Mangel an jeder schöpferischen Originalität, die völlige Abwesenheit aller religiösen Inbrunst, in Wesen und Ziel der völlige Verzicht auf jedwede Freiheit.“ (ders.: Bismarxismus, in: Fanal. Jahrgang 1. Nummer 5, 1927)

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