Wie raus aus der Sackgasse? Triggerwarnung: Nahostkonflikt

Mascha Kalakadu und Pia Puuh fordern eine reflektierte Solidarität ohne dogmatische Reflexe in der innerlinken Debatte um den 7. Oktober.

Der 7. Oktober und der anschließende Krieg zwischen Israel und der Hamas mit ihren Verbündeten, die Zerstörung des Gaza Streifens und Tötung tausender Menschenleben treibt natürlich auch die hiesige Linke um. In einer neuen Welle hat der Konflikt und der Diskurs hier Spaltungen und Verletzungen in Freundeskreise, Politikgruppen und WGs gebracht. Wir sind traurig und frustriert, dass wir in Zeiten des aufsteigenden Faschismus nicht an einem anderen Punkt stehen. Antifaschistische und antirassistische Bündnisse und Allianzen, die in den letzten Jahren aufgebaut wurden, haben Risse bekommen und sind teilweise auseinander gebrochen. Weder das System Change Camp noch die Antira-Demo im Sommer in Erfurt sind vollständig aufgearbeitet und vielleicht werden sie das nie zufriedenstellend werden. Wie schaffen wir es, den Scherbenhaufen, vor dem wir stehen aufzukehren?
Wir sind ganz ehrlich, wir wollten uns nie eine fundierte Meinung zum „Nahostkonflikt“ bilden. Wen interessiert unsere Meinung auch? Liegen die Menschen in Israel und Palästina nachts wach und fragen sich, ob die Ollen in Erfurt Anti-D oder Anti-Imp sind?
Unsere politischen Weggefährt*innen interessiert es. Je mehr wir uns in den strengen mütterlichen Szene-Schoß zurückziehen, desto mehr wollen es die Menschen wissen: wie hältst du’s mit Israel? Israel ist nicht eine Person oder eine Idee, so wie der Zionismus mehr als eine ideologische Strömung hat. Womit genau sollen wir uns bedingungslos solidarisch erklären? Ja, wir bestehen auf das Existenzrecht Israels. Natürlich haben wir auch schon Tränen um das Leid der palästinensischen Bevölkerung geweint. Von dem Salzwasser, das global geweint wird, wird im „Heiligen Land“ nichts gedeihen.
Wir könnten jetzt mit Kampfbegriffen um uns werfen, über Rote Gruppen, über Queers for Palestine, wir könnten uns über mehrere Seiten komplett über alles abfucken. Aber wir glauben, dass die wenigsten Leute an die diese Kritik geht, die Lirabelle lesen. Stattdessen möchten wir mit den Leser*innen streiten, darüber wie wir aufhören zu streiten. Oder besser streiten?
In anderen Städten eskaliert die Spaltung deutlich stärker als hier. Auch wenn wir nach der Antira-Demo alle völlig frustriert waren, gab es Freund*innen aus anderen Regionen Deutschlands, die berichteten, wie gut diese „Debatten“ bei uns laufen. Es gab langjährig aktive Genoss*innen, die wieder Hoffnung schöpften, darüber dass Antisemitismus und Rassismus auch „noch“ gemeinsam addressiert werden kann. Fühlen wir noch nicht, aber irgendwo bleibt auch bei uns die Idee, dass wir einen neuen Umgang entwickeln können, auch weil wir uns hier angesichts des aufsteigenden Faschismus brauchen.
Ja, dieses Wir, wer ist dieses Wir überhaupt? Viele Jüdinnen und Juden haben sich seit dem 7. Oktober entfernt von ihren linken Freund*innen, haben sich nicht mehr sicher gefühlt in Kreisen, die vorher ihre waren. Wenn Ausstellungen zu jüdischen Leben angegriffen werden, Davidsterne an Häuser gemalt werden, dann ist klar, dass es nicht um Palästinenser geht, sondern um Hass gegen Juden. Genauso wenn auf der Antira-Demo in Erfurt der Palästina-Block „Zionisten sind Faschisten“ ruft. Wenn so getan wird, als wären alle Juden weiß, westlich, und am besten noch reich. Wenn bei jenen, die zum Freiheitskampf im Iran, zu Bombardierung im Yemen, zu der Repression gegen Kurden nie etwas zu sagen hatten, plötzlich der “Gerechtig- keitssinn“ kickt und sie ihre Wut nur auf die Straße tragen können, wenn sie gegen Juden gerichtet ist, dann entlarvt sich ihr Antisemitismus. Das „Wir“ im Sinne einer Solidargemeinschaft der Linken ist kaputt. Vor allem für diejenigen, die in diesem Krieg jemanden verloren haben oder noch jemanden zu verlieren haben.

Gegen selektive Solidarität

Was ist das bisherige Reaktionsmuster? Krieg → Palästina-solidarische Demo, die von Antizionisten organisiert ist und an der viele Personen teilnehmen, weil sie sich emotional verbunden fühlen und dann zionistische Demo, die den Antisemitismus der anderen ankreidet und die bedingungslose Solidarität mit Israel bekundet. Und zack, muss jeder frisch politisierte Mensch sich für ein Lager entscheiden. Wir sind heute in der Lage, uns ausschließlich in unserer eigenen medialen Echokammer zu bewegen, die jeweils Verzerrungen mit sich bringen.
Bei unbekannten Accounts werden sogleich die red flags gesucht, die es uns ermöglichen, sie klar auf einer Seite zu verorten und ihre Analyse oder Erfahrungen zu delegitimieren. Dabei verkürzt das Lagerdenken die Realität. Wir glauben, es gibt viele Genoss*innen, die sich in den letzten Monaten „irgendwo dazwischen“ gefühlt haben. Die in der einen Runde Antisemitismus ansprechen und benennen und denen in der anderen Runde eine Kritik an der aktuellen Politik Israels fehlt. Wir kennen viele Personen, die es abgefuckt finden, wenn Jena for Palestine um Raisi und Sinwar trauern, die sich aber gleichzeitig nicht mit Israelfahnen auf die andere Campusseite stellen würden. Und zwar nicht, weil sie den Israelhass nicht als Antisemitismus bewerten, dem etwas entgegengesetzt werden muss, sondern weil ihnen die Perspektive zu einseitig ist. Von den Personen, die gerade nicht um ihre Angehörigen bangen, erwarten wir Differenziertheit und Multiperspektivität. Wir können diesen Konflikt nicht hier in Thüringen lösen. Aber wir können am Umgang miteinander etwas ändern.
Die Genoss*innen der Initiative „Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“ (AnRa) haben anlässlich des System Change Camps in Erfurt einen wichtigen Artikel in der analyse und kritik geschrieben. Sie fragen sich wie antisemitismuskritische und rassismuskritische Räume angesichts dringend notwendiger Allianzen in Zeiten von rechtem Terror aussehen könnten und analysieren, wie selektive Solidarität die Zusammenarbeit mit Betroffenen von rechter Gewalt erschwert.(1)
Gegen Faschismus und Islamismus können wir nur stark werden, wenn wir uns als (post)migrantische Linke verstehen. Nur wenn wir verankert sind in migrantische und auch muslimische Communities und nicht in Misstrauen und Pauschalisierungen verfallen. Es gibt so viele migrantische Genoss*innen auch in Thüringen, die Antisemitismus in der eigenen Community widersprechen und gleichzeitig von weißen Linken kritisch beäugt werden, weil man sich nicht kennt, nicht die gleichen Räume teilt oder was gesagt hat, was irgendwie nach „Antiimp“ klingt.

Rein in die Widersprüche

Ist das die Nahost-Hufeisenerzählung, wenn wir von zwei Teilen der „Extremen“ sprechen, in denen linke Positionen ins Regressive kippen? Auf Twitter, wo beispielsweise das iranische Regime massenhaft antisemitische Propaganda streut, kann man auch lesen, es gäbe keine Zivilisten in Gaza, nein, es gäbe nicht mal Menschen. Accounts wie „the bear jew“ bieten einen nahtlosen Übergang von Solidarität mit Israel, zu Entmenschlichung von Muslimen zu Abschiebefantasien, Nationalismus und rassistischen Säuberungsfantasien. Auf Instagram stößt man schnell auf ähnliche Memes. Natürlich sind das keine linken Positionen, aber wir müssen dieses Abdriften genauso bekämpfen wie die Pipeline von „Humanitäre Hilfe für Gaza“ zu „Palästinensische Befreiung“ zur Islamismusverharmlosung zur „Achse des Widerstands“.
Parallelen der jeweiligen Feindbilderzählungen sind unübersehbar; vermeintliche Nationalisten, die Linke unterwandern, jedoch intrinsisch reaktionär sind. Wer sich in israelsolidarische Gewässer begibt, dem wird der Eindruck vermittelt, dass ja jetzt niemand im eigenen Lager Netanjahu gut findet und es ja durchaus ok ist israelische Kriegsführung zu kritisieren, nur dass es ja nicht unsere Aufgabe ist, sondern es unsere Aufgabe ist, uns dem grassierenden israelbezogenen Antisemitismus entgegenzustellen.
Woher sollen Menschen wissen, dass hier niemand Netanjahu und Trump gut findet, wenn wir dass nicht ausdrücken? Wem schadet es, aufeinander zuzugehen? Warum nicht auch das Leid in Gaza anerkennen?
Wie Autorin Joana Osman sagt: Wenn wir die leiseste Chance haben wollen, diesen Konflikt irgendwann zu lösen, dann muss es uns irgendwie gelingen, die andere Seite zu rehumanisiseren. Menschen, die wider aller Umstände für die Rehumanisierung der vermeintlichen Feinde kämpfen, werden von der israelischen Rechten als Verräter denunziert und in Gaza von der Hamas ermordet.
Entmenschlichung fängt an beim Sharepic auf dem der Hund eine Wassermelone frisst und die Kriegslogik wird wortwörtlich befeuert, wenn Israel auf Social Media Erfolg für seine Bodenoffensive gewünscht wird. Wenn sich Genoss*innen, die wissen, wie es ist im Krieg zu leben, egal woher sie kommen, dann von uns abwenden, brauchen wir uns wirklich nicht zu wundern.
Wir wünschen uns, dass sich mehr Leute trauen, ihre Widersprüche zu äußern, sich ins Getümmel zu werfen. Das bedarf Fehlerfreundlichkeit und Kompromissfähigkeit. Das muss nicht bedeuten, die klare Kante gegen Antisemitismus aufzuweichen, sondern kann bedeuten, sie mehr Menschen nahezubringen. Wir wünschen uns von der Erfurter Szene, dass die Brandmarkung anderer Linker als Praxis in den Notfallkasten kommt. Wir sind aus der Kirche ausgetreten, wir werden jetzt nicht unsere Existenz damit verbringen, auf unsere absolute moralische Unbeflecktheit in den Augen der sogenannten Geschichtsschreibung hinzuarbeiten.

Für eine antisemitismuskritische emanzipatorische Friedensbewegung

Autoritäre und islamistische Gruppen stehen allzeit bereit, um Menschen aufzufangen, die von der Situation in Gaza betroffen sind. Sie nutzen die Leerstelle, die wir lassen. Diese Akteure schaffen schwarz-weiß Bilder, vereinnahmen antirassistische Diskurse. Es ist wichtig, dass es Leute gibt, die immer wieder den Antisemitismus aufdecken, veröffentlichen und diesem widersprechen.
Wir bewegen uns aber keinen Schritt weiter, wenn wir dabei bleiben den Antizionismus zu problematisieren, in dem wir uns im Zweifel nicht zu schade sind die Polizei zu rufen oder Leute mit denen wir gerade noch zusammen Demos organisiert haben, mit denen wir im gleichen Jugendverband organisiert sind, auf social media anzugreifen. Wenn wir uns sowieso schon alle so viel mit der Lage in Israel und Palästina, mit der Geschichte auseinandersetzen, wieso tun wir es denn nicht zusammen? Und zwar nicht auf der Straße, sondern bei Lesungen, Diskussionen, Vorträgen? Wie kann es sein, dass es 1,5 Jahre nach dem 7. Oktober eine Hand voll linke Veranstaltungen zum Thema gab, obwohl sich so vieles darum dreht?
Wir brauchen eine neue antisemitismuskritische internationalistische Bewegung für Frieden, die sich an die Seite derjenigen stellt, die vor Ort, sei es in Israel oder Palästina, in Russland oder der Ukraine, in Belarus, im Jemen, in Kurdistan, im Iran und so weiter für Frieden kämpfen. Einen wichtigen Vorstoß machten Ben Gidley, Daniel Mang, Daniel Randall mit ihrem Text „für eine konsequent demokratische und internationalistische Linke“.(2)
Weder Palästina noch Israel werden so bald verschwinden. Die radikale Linke hat die Chance, eine Friedensbewegung voranzutreiben, die sich klar gegen Antisemitismus, Rassismus und Vergeltungslogik positioniert, ohne dabei in antiimperialistische Verkürzungen oder identitätspolitische Einseitigkeit zu verfallen. Dazu muss sie sich jedoch von alten dogmatischen Reflexen lösen und eine neue, reflektierte Solidarität entwickeln – oder wir werden auch in Zukunft noch Teil des Problems sein.


1 https://www.akweb.de/bewegung/nur-antideutsche-oder-hamas-fans-antisemitismus-rassismus-wie-linke-debatten-zu-nahost-solidaritaet-verhindern/

2 https://leftrenewal.net/de/german-version/

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