Der folgende Text soll einen Beitrag zur Debatte um die sogenannte autoritäre Linke bieten. Thesen zu den Bedingungen und Folgen des Aufstiegs leninistisch inspirierter Organisationen sollen klar machen, dass dieser Aufstieg nicht unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Versagen der übrigen radikalen Linken ist. Von Simon Rubaschow. Der Autor ist Mitglied des Club Communism.
I. Die Vereinseitigung des Gegensatzes von Freiheit und Gleichheit
Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat bringen Ungleichheit und Unfreiheit hervor und beruhen auf der Aufrechterhaltung von Ungleichheit und Unfreiheit. Die radikale Kritik dieser Herrschaftsverhältnisse bezieht sich daher immer auf die Forderungen nach Gleichheit und Freiheit. Eine Bewegung der unumkehrbaren Aufhebung dieser Ungleichheit und Unfreiheit zielt in ihrer eigenen gegenwärtigen Praxis zugleich auf die Verwirklichung eines relativ höheren Maßes an Gleichheit und Freiheit als es in der Gesellschaft gegeben ist. Eine solche Praxis ist damit, will sie die Verhältnisse aufheben, eine Keimform der Zukunft. Gleichheit und Freiheit stehen in einem Gegensatz, der sich in den Organisationen und Szenen der Linken selbst als Gegensatz zwischen Kollektivismus und Individualismus und als Gegensatz zwischen Zentralismus und Dezentralität ausdrückt. Die Geschichte der Bewegungen radikaler Emanzipation zeigt, dass dieser Gegensatz immer wieder vereinseitigt werden kann; wir kennen sowohl einen individualistischen Kult personaler Freiheit im Individualanarchismus als auch einen kollektivistischen Kult der politischen Disziplin und Gemeinschaft in Sozialdemokratie und Leninismus. Diese Gefahr der Vereinseitigung betrifft alle radikale, linke Praxis.
II. Die Kritik der Gesellschaft entsteht als Teil dieser Gesellschaft
Noch in den 00er und 10er Jahren war der erste Zugang zur Kritik der Gesellschaft vermittelt durch subkulturelle Musik und lokale politische Kontakte – ergänzt durch globale Bestseller über das Leben toter Revolutionäre. Heute sind der zentrale Vermittlungsweg für den Erstkontakt zu dieser Kritik bildzentrierte Social Media Plattformen wie Instagram oder TikTok. Sie prägen die Politisierung heutzutage doppelt: Zum einen wurden bis zur zweiten Wahl Donald Trumps alle Formen der Antidiskriminierungspolitik, die ihren Ursprung in radikalen Bewegungen des Feminismus, der queeren Selbstermächtigung und der antirassistischen Bewegungen hatte, von sozialdemokratischen und liberalen Parteien ebenso wie von kapitalistischen Großkonzernen rekuperiert und zu Elementen von kommerziellen Marken und politischen Tickets gemacht. Einzige Ausnahme bildete eine grundsätzliche Kritik kapitalistischer Verhältnisse und eine Affirmation des Klassenkampfes, beides fügte sich nicht als unmittelbar vermarktbare Antidiskriminierung in den ‚progressiven Neoliberalismus‘ ein (und wird in chiffrierter Form als Material für die kulturindustrielle Bilderwelt Hollywoods oder Netflix’ angeeignet, die selbst wieder die Grundlage pseudorevolutionärer Memes bildet). Sie bietet damit den letzten verbliebenen Rahmen für eine Bilderwelt, die neben die antidiskriminierende Werbung gestellt werden konnte, scheinbar, ohne sich mit ihr gemein zu machen. Ihren Ausdruck fand diese Gegen-Werbung in auf historische Revolutionen verweisende Bildsprachen, in der Guillotine und Hammer & Sichel, die das Nichteinverstanden-sein mit der antidiskriminatorischen Bilderwelt von Grünen bis Adidas markieren. Zugleich bildet diese Bildsprache die Grundlage, auf der mit Hammer & Sichel auftretende Gruppen als die wirkliche Opposition zu den Verhältnissen erscheinen können.
III. Kollektivistischer Normcore und konventionelle Männlichkeit
Insbesondere die sowjetkommunistische und maoistische Bildsprache bietet eine weitere Negation des progressiven Neoliberalismus auf Social Media. Die digitale Lebenswirklichkeit der Gegenwart konfrontiert uns mit der Forderung nach individualisierten Selbstausdrucks, nach Kreativität und mit dem Kampf um Aufmerksamkeit – die Befreiungsforderungen von 1968 stehen uns so enteignet als Spektakel gegenüber. Schon damals stellten maoistische und neoleninistische Gruppen gegen die Hippies den leistungsfähigen politischen Soldaten – mit ordentlichem Haarschnitt, sauberer Hose, nicht kiffend, und sich sicherlich keine freie Liebe wünschend. Ästhetisch standen sie in der Tradition des Normcore des sozialistischen Realismus, in dem die Arbeiter*innenklasse nie als die von subkulturellen Ästhetiken und Abweichungen durchzogene Pluralität erscheint, die sie war und ist. Auch politisch schlossen sie an die Herrschaftsstrategien des Realsozialismus an, an das Einreihen und Aufgehen in der organisierten Klasse durch Unterordnung unter die Parteiführung. Heute liefert die Fantasie einer proletarischen Realität von Bluejeans oder Jogger, Lauf- oder Hallensportschuhen und unifarbenem Sweatshirt die Vorlage für die Uniform autoritär linker Gruppen. Insbesondere cis Männern bietet dieses Identitätsangebot eine Versicherung gegenüber der eigenen geschlechtlichen Krise. Angesichts des finalen Endes des seine Familie ernährenden Mannes, aber auch der Inszenierungsanforderungen auf Social Media, die (junge) Männer sich als Objekte der Selbstgestaltung in der digitalen Aufmerksamkeitskonkurrenz erleben lässt, bietet eine konventionelle Männlichkeitsperformance, die nicht auffallen muss, Entlastung. Sich einzuordnen und eine politische Berechtigung zu körperlicher Gewaltfähigkeit zu erhalten, bietet zudem ein konkurrenzfähiges Identitätsangebot zu aufstrebenden rechten Männlichkeitsbildern und wird mit der kollektiven Zusicherung verbunden, dennoch zu den Guten zu gehören. Es ist daher kein Zufall, dass neoleninistische Gruppen sich die Themenfelder Sexismus und Queerfeindlichkeit als Aktionsfeld nehmen – das formale Eintreten für die Betroffenen das Patriarchats garantiert zugleich, sich mit der eigenen Affirmation von Männlichkeitsidealen nicht auseinandersetzen zu müssen.
IV. Der Klassenkampf in den USA und der Wunsch nach Rache
Mit der Zentralstellung von Social Media für die Politisierung ist zugleich die Zentralstellung der Situation in den USA begründet, da auf den Plattformen US-amerikanische Inhalte dominieren. Dort wird der Klassenkampf von oben, der sich seit der Wirtschaftskrise von 2008 weltweit verschärfte, noch unmittelbarer als hierzulande ausgetragen. Privatverschuldung, fehlende Krankenversicherung und die Profite der Pharmakonzerne, die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im Kapitalismus – all das tritt in den USA zugespitzter zutage. Zugleich bekam der Kapitalismus mit dem Aufstieg der rechten Tech-Milliardäre wie Mark Zuckerburg, Elon Musk oder Jeff Bezos neue Gesichter, auf deren Selbstinszenierung sich der berechtigte Hass auf den Kapitalismus leicht richten und konzentrieren kann. Personalisierter Klassenkampf gewinnt so eine neue, intuitive Berechtigung und findet seinen unmittelbaren Ausdruck in Memes. Das Feiern von Orcas, U-Booten und untergehende Yachten; aber auch Mördern wie Luigi Mangione erlauben eine imaginäre Rache an den Quellen der eigenen Ausbeutung und Entfremdung. Zugleich bildet es den Boden für eine plump klassenkämpferische Agitation, die verspricht, selbst zur*zum Rächer*in werden zu können, ohne selbst zur Waffe greifen zu müssen, da man Teil einer Bewegung ist, die – in anderen Weltteilen, etwa im Kampf gegen Israel – für einen zur Waffe greift.
V. 20 Jahre Niedergang der Kritik der Gesellschaft
Die Geschichte der Linken im 21. Jahrhundert ist eine Geschichte des andauernden Verfalls der radikalen Kritik der Gesellschaft. Heute wird sie – in Verlängerung der neoliberalen Antidiskriminierungspolitik – dominiert durch Gruppen, Initiativen und Szenen, die ein einzelnes Themenfeld, sei es Klimaschutz, Antirassismus, Feminismus oder anderes, zu ihrem alleinigen Praxisfeld gemacht haben, ohne eine grundlegende Kritik der Gesellschaft zu leisten. Auch Klassenkampf erscheint in diesem Blumenstrauß an Themenfeldern als ein single issue in Form von Reichen- und Klassismuskritik. Gegen einen solchen Zerfall der Kritik war in den für die radikale Linke düsteren 90er Jahren die globalisierungskritische Bewegung angetreten: Sie vereinte mehr oder weniger durchdacht eine Kritik des Postkolonialismus, des Kapitalismus und der Umwelt- und Klimazerstörung. In ihrem Schatten entstanden auch in Deutschland in den 00er Jahren prägende linksradikale Bündnisse wie die „Interventionistische Linke“ (IL) und „…ums Ganze“ (uG). Parallel waren anarchistische Positionen etwa durch die dissent! Strukturen zentral und der aufständige Anarchismus wurde spätestens mit den Riots gegen die Austeritätspolitik in Griechenland zu einem identitären Bezugspunkt für viele radikale Linke. All diese Gruppen und Strömungen teilten den Anspruch einer umfassenden Kritik der Gesellschaft.
Die Bedeutung des aufständigen Anarchismus verfiel mit dem Scheitern des Versuchs, Riots als wirksames Kampfmittel gegen die Austerität anzuwenden. Seine Anhänger*innen finden sich heute bestenfalls noch in Stadtteilinitiativen und gewerkschaftlichen Kämpfen. Die Postautonomen und Kommunist*innen von IL und uG dagegen entwickelten sich über die Anti-EZB-Proteste und G20 in Hamburg (dort schon im Bündnis mit den Neoleninist*innen vom Roten Aufbau) selbst zu single issue Gruppen. Zwar stehen bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, Ende Gelände und den Anti-IAA-Protesten kommunistische Perspektiven im Hintergrund, ganz in paternalistischer Tradition werden sie aber nach außen zugunsten einer scheinbar mehrheitsfähigen reformistischen Kritik getarnt.
Schließlich zerfiel die sich in den 90ern aufmachende antideutsche Kritik der Gesellschaft nach ihrer Hochphase in den 00er und frühen 10er Jahren einerseits durch ihren relativen Erfolg bei der Verankerung eines Mindestmaß an Antisemitismuskritik in der radikalen Linken, der sie scheinbar obsolet machte, und andererseits durch ihre eigenen inneren Widersprüchen. In einer Reihe von Spaltungen und Zerwürfnissen kehrte ein Teil – markant hier das …ums ganze-Bündnis – in den Schoss der mit Antizionist*innen erneut bündnisfähigen Linken zurück, um mit Antisemit*innen gemeinsam gegen Deutschland anzutreten, während ein anderer Teil – Stichwort Bahamas – lieber mit Deutschland und unter Ausblendung des deutschen Antisemitismus gegen antizionistische Antisemit*innen handlungsfähig werden wollte.
Übrig bleiben neben ein paar versprengten, aber nicht mehr prägenden anarchistischen und antideutsch-kommunistischen Resten heute als einzige erkennbare Träger einer grundsätzlichen und umfassenden Kritik der bestehenden Gesellschaft jene, die die Rote Fahne hochhalten, „Was tun?“ lesen und offen aussprechen, dass das Problem der Kapitalismus und die Lösung die Revolution ist.
VI. Die Endradikalisierung der Linken
Der Niedergang der Kritik der Gesellschaft ist seit 10 Jahren in seiner Spätphase. In Reaktion auf die rechte Mobilisierung für ein nationales Grenzregime ab 2015 sah sich eine antirassistische und antifaschistische Linke zunehmend in einer defensiven Position und scheinbar genötigt, die bestehende liberale Politik der Bundesregierung gegen Angriffe von Rechts zu verteidigen. Das Merkels „Wir schaffen das“ der offenen nationalen Grenzen nur im Zusammenhang mit europäischen Zulieferern für die deutsche Just-in-time-Produktion und dem massenhaften Mord im Mittelmeer zu verstehen ist, wurde dagegen verschwiegen oder nicht begriffen. 2020 und 2021 wiederholte sich diese falsche Parteinahme, als mit dem nötigen antifaschistischen Kampf gegen rechte Gegner*innen der Gesundheitsschutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie zugleich die Kritik der halbherzigen Maßnahmen der Regierung fallen gelassen wurde. Schließlich führte der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu einer erneuten Wiederholung des Schemas: Statt eine eigenständige Kritik sowohl des russischen als auch des deutschen Imperialismus zu formulieren, wurde die militaristische Regierungspolitik gegen nationalistische Angriffe von rechts in Schutz genommen. Die Fähigkeit, eine eigene Position zu formulieren, und aus ihr eine Praxis abzuleiten, ging der radikalen Linken weitgehend verloren, sie übernahm die Rolle einer anderweitig abwesenden linksliberalen ‚Zivilgesellschaft‘.
Für alle, die zumindest das diffuse Gefühl hatten, dass diese Oppositionsstellung zwischen dem Bestehenden einerseits und dem aufstrebenden Faschismus andererseits nicht alles sein kann, bot sich außer den Deutungsangeboten der neuen, neoleninistischen Gruppen nicht viel. Diese Gruppen versprachen nicht nur eine eigene Position, die sich gegen den rassistisch-kapitalistischen Normalzustand und den Angriff der Faschist*innen abgrenzt, sondern auch eine einheitliche Theorie, aus der man schnell Positionen zu konkreten Situationen ableiten kann, klare Feindbilder (Kapitalisten, USA, Israel) und Genoss*innen überall auf der Welt, auf die man sich positiv beziehen könne und die die eigene Marginalisierung weniger schwerwiegend scheinen lassen.
VII. Einen eigenen Standpunkt gewinnen
Aus dieser Analyse folgen eine Reihe von nötigen Konsequenzen. Die Kritik der bestehenden Verhältnisse muss zentral auch eine Kritik des Linksliberalismus beinhalten. Progressiver Neoliberalismus muss als das verstanden werden, was er ist, als Stütze kapitalistischer Ausbeutung, rassistischer, mörderischer Exklusion und imperialistischer Geopolitik. An Stelle einer bloß radikalisierten Antidiskriminierungspolitik muss eine klassenkämpferische Perspektive treten, die das Gleichgewicht aus Freiheit und Gleichheit als Horizont der Emanzipation wahrt. Sie muss also die Errungenschaften der neoliberal rekuperierten Kämpfe der letzten Jahrzehnte in sich aufheben, aber Solidarität nicht auf Basis von Identitäten, sondern auf Basis gemeinsamer Betroffenheit von Ausbeutung, Exklusion und Gewalt organisieren. Klassenkampf darf dabei nicht als bloßer Kampf gegen die herrschende Klasse begriffen, sondern muss als Kampf um das Ende aller Klassen geführt werden. An die Stelle eines Internationalismus, der im Stalinismus immer schon Spielball für die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion war und nach 1968 häufig genug identitärer Antiamerikanismus und Antizionismus wurde, muss eine globale Solidarität mit den Ausgebeuteten treten, die nicht nur zur Ukraine, sondern auch zu Myanmar, Kongo, Sudan, China und selbst zu Israel etwas sagen kann, ohne bei liberalen und humanistischen Allgemeinplätzen stehen zu bleiben oder in Antiamerikanismus oder Antisemitismus zu kippen.
VIII. Geschichte wiederholt sich, bis wir sie nicht mehr wiederholen
Autoritäre Praxis und eine Theorie, die aus zentralen Lehrsätze abgeleitet anstatt aus den Verhältnissen entwickelt wird, sind für die radikale Linke nichts neues. Nach Niederlagen wie etwa der Pariser Commune, nach dem Scheitern der Revolution in Mitteleuropa und dem Steckenbleiben der Revolution im ehemaligen Zarenreich 1918-1923, und auch nach dem Scheitern des globalen Revolutionsversuchs 1968 hatten stets autoritäre linke Praxis- und Organisationsformen einen Aufschwung. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte lässt sich damit sowohl verstehen, wie die Bedingungen und die Formen der eigenen Praxis und Theorie zusammenhängen, als auch aus den Fehlern der damaligen Genoss*innen lernen – der autoritären wie der antiautoritären, der kommunistischen wie der anarchistischen. Das Bestehende dauert an, solange wir es nicht überwinden und unser Scheitern wiederholen wir, bis wir daraus lernen und das Gelernte auf die gegenwärtigen Verhältnisse beziehen.