Max Unkraut beschäftigt sich in folgendem Artikel mit dem Thema Community Organizing. Der Artikel soll jedoch nicht bloß kritisieren, sondern einen breiteren Einblick in die Praxis für diejenigen gewähren, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben. Teil 2 von 2*.
III
Ich werde nun das Vorgelegte zuerst vermittels der Organizing-Theorie von Fritz Karas und Wolfgang Hinte (letzterer ist später in der Sozialarbeit berühmt geworden für seine Theorie des Sozialraums) kritisieren. Beide vertreten eine emanzipatorische Perspektive in ihrer Praxis: „Es geht tendenziell um ‚Vorwegrealisierungen einer neuen, nicht ausbeuterischen Gesellschaft‘ (Bahr in: Bahr/ Gronemeyer, 1978, S. 9).“ (Hinte/ Karas: Grundprogramm Gruppenarbeit, S. 23 f.) Wenn die beiden hier von ‚Vorwegrealisierungen‘ sprechen, so meinen sie damit die Entwicklung einer konkreten Utopie: „Wir wollen also nicht ‚das System‘ verändern, sondern – schrittweise – das Verhältnis der Menschen untereinander in diesem System, damit sie selbst in die Lage versetzt werden, die Veränderungen ihrer erfahrbaren Lebensbedingungen zu wirken.“ (Ebd., S. 23) Mit dieser offenbar nicht neuen Idee, die konkreten Verhältnisse der Individuen zu ändern, sodass diese in die Lage versetzt sind, ein vernünftiges gesellschaftliches System zu etablieren, hat sich kürzlich auch Bini Adamczak mit ihrem Buch Beziehungsweise Revolution hervorgetan, ohne dabei derartige, bereits bestehende Praxiskonzepte einzubeziehen. Dabei legen Hinte/ Karas in ihrer Schrift Grundprogramm Gemeinwesenarbeit ein Konzept vor, das sich zusammengefasst beschreiben lassen könnte als die Herstellung feudaler Verbünde unter modernen Bedingungen – eine Art Neo-Feudalismus. Bevor ich hierauf etwas näher eingehe, möchte ich mich der Kritik an anderen Organizing-Formen, die Hinte/ Karas liefern, zuwenden.
Hinte/ Karas bringen im Grunde zwei Kritikpunkte vor, die sich gegenseitig ergänzen: Zum einen wird ein mechanistisches Weltbild kritisiert, zum anderen die z.T. integrierende Funktion der Gemeinwesenarbeit (GWA) – wie sie das CO ins Deutsche übersetzen. Ersteres beginnt mit der Einsicht, „daß Handeln in Gruppen gar nicht oder höchstens in groben Umrissen planbar ist“, da „Menschen in der Lage sind, selbst über sich und ihr Handeln zu bestimmen“ (ebd., S. 21), also potentiell frei sind. Entsprechend sollen auch die Methoden der GWA kritisiert und verändert werden. Den Fokus legen die beiden dabei auf demokratisches, sog. partnerschaftliches sozialpädagogisches Handeln, das durch seine Form der gemeinsamen Abstimmungen jedoch auch den bloßen Anschein von Selbstbestimmtheit erwecken kann:
„Ein weiterer Punkt, den wir an den Konzepten gängiger Methoden der Gruppenpädagogik und Gruppenarbeit kritisieren, ist ihr sozial-integratives Bemühen: Durch den Einsatz ihrer Methoden werden gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge verschleiert und zahlreiche Widersprüchlichkeiten und Zwänge in der gesellschaftlich erfahrbaren Praxis mit dem Mäntelchen des ‚Sich-wohl-Fühlens‘ in Gruppen zugedeckt.“ (ebd.)
Damit gemeint seien „[b]esonders die amerikanischen Vertreter der sozialen Gruppenarbeit (und damit auch ihre Anhänger hierzulande)“, die „die Analyse gesellschaftlicher Strukturen und deren Wirkung auf das Handeln und Denken der darin lebenden Menschen“ (ebd., S. 21 f.) vernachlässigen. Offenbar kritisieren Hinte/ Karas hier das liberale CO nach Alinsky, denn, so heißt es weiter, „[p]olitische Perspektiven für sozialpädagogisches Wirken fehlen fast völlig, höchstens werden plakative Aussagen über ‚Demokratie‘ allgemein oder ‚lebendiges gesellschaftliches Handeln‘ gemacht.“ (Ebd., S. 22)
Ich hatte bereits festgestellt, dass sich Alinsky diesbezüglich mit Phrasendrescherei zufriedengibt. Zudem sei das CO sozial-integrativ und sorge nur fürs Wohlfühlen, indem es die gesellschaftlichen Widersprüche verschleiere.1
In Grundprogramm Gemeinwesenarbeit bestimmen auch Hinte/ Karas dementsprechend diverse Formen der GWA. Sie unterscheiden auf der einen Seite wohlfahrtstaatliche (v.a. Optimierung sozialer Dienste, d.h. Verbesserung der Kommunikation zwischen Gemeinwesen und Behörden, ohne Bürger:innenbeteiligung) und integrative GWA (kooperative Konfliktlösungstaktik zur Harmonisierung der Community zur Integration auch widersprüchlicher Interessengruppen), auf der anderen Seite aggressive (sozialistische) (Organisation der Arbeiter:innenklasse und Anwendung disruptiver Taktiken zur Sabotage des Systemablaufs, jedoch keine Analyse der politischen Apathie der Bewohner:innen und von daher Avantgardismus) und konfliktorientierte GWA (Alinsky), die aggressive GWA ohne kommunistisches Fernziel ist. (Vgl. ebd. Kap. 2)
Während Hinte/ Karas an wohlfahrtsstaatlicher und integrativer GWA ihre totale Systemimmanenz, also ihren versteckten Zweck kritisieren, bemängeln sie an der aggressiven und konfliktorientierten GWA die unzureichende Analyse des Geisteszustands der Bevölkerung: Das aggressive CO kennt keinen Weg von der „politische[n] Apathie“ (ebd., S. 41) und dem damit verknüpften autoritären Charakter in die libertäre Aktivität der Bewohner:innen, weshalb soziale Probleme wieder stellvertretend bearbeitet werden müssen; die konfliktorientierte besitzt zudem keine moralische Vorstellung davon, was mit ihm eigentlich erreicht werden soll. Dagegen bringen die beiden nun die sog. katalytische bzw. aktivierende GWA in Stellung. Katalytisches Organizing zeichnet sich – wie bereits konstatiert – durch das Fernziel aus, eine
„herrschaftsfreie Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung mehr gibt, in der Menschen sich durch ihre eigenen Gruppen und Sprecher selbst zu helfen vermögen (ohne Fremdbestimmung), in der Solidarität hoch geschätzt wird, in der sich die Menschen mit den Problemen anderer identifizieren und in der sie ihre Fähigkeiten voll entfalten können und zu einem sozialkreativen Leben kommen“, (Ebd., S. 47)
zu schaffen. Veränderung begreifen die Autoren dabei als Dialektik von Subjekt und Objekt: Autoritäre Charakterstrukturen sollen aufgelöst werden durch kollektive bestimmte Ziele und Aktionen der Leute selbst. So verändern sie sich selbst durch die Veränderung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse. Gleichzeitig setzt die Veränderung der Verhältnisse die Veränderung des Bewusstseins voraus. Die Aufgabe der Organizier ist dabei bloß katalytisch: Sie müssen „anregen zur Aktivität“, müssen „die Prioritäten jedoch von den Bürgern setzen lassen.“ (Ebd., S. 62) Hier geht es deshalb auch darum, dass ein „Bewußtwerdungsprozeß in Gang“ kommt, „in dessen Verlauf die Menschen neue, bisher verdeckte Konflikte erkennen.“ (Ebd.) Die Menschen sollen also durch Konflikte und die Schranken, die sich durch diese auftun, lernen, die Gesellschaft zu begreifen – ein Automatismus, der noch nie gewirkt hat. Ob diese Schranken vermittels politischer Bildung aufgeholt werden, erklären die beiden nicht explizit.
Festgehalten werden muss, dass katalytisches Organizing sich an Methoden orientiert, die höchstmögliche Aktivität der Bürger:innen garantieren sollen. Hierzu gehört bspw. die aktivierende Befragung innerhalb der sog. Aktionsuntersuchung. Hinte/ Karas orientieren dabei (an anderer Stelle auch explizit) ihre pädagogischen Ansätze an Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten: „Ein entscheidendes Prinzip bei der Aktionsuntersuchung ist, daß der Fragende prinzipiell der ‚Unwissende‘ ist, d.h. einen echten Informationsrückstand hat, zugleich aber stark daran interessiert ist, diesen aufzuarbeiten.“ (Ebd., S. 125) Hieraus resultiert bspw. die Methodik der „Themenzentrierten Interaktion“, die ein „Klima der Selbstbestimmung und des Akzeptiertseins“ (dies.: Grundprogramm Gruppenarbeit, S. 92 f.) schaffen soll. Zwar sollen die Leute hierdurch angeregt werden, „das Risiko des persönlichen Engagements“ (ebd., S. 96) einzugehen, also ihre Freiheit zu aktualisieren. Diese wird jedoch stets wieder so an die eigenen Gefühle rückgekoppelt, dass der Eindruck entsteht, Spontaneität sei ein Ausdruck emotionaler Regungen, also gerade desjenigen, was uns oft unselbstständig und unbewusst handeln lässt, was somit wieder an die gelenkte Befragung von Alinsky erinnert. Die Methode kann so kein echter Katalysator für Autonomie werden, aber sie stellt einen guten Anfang dar. Ich behaupte nun, dass das Scheitern der katalytischen GWA im sog. anti-ideologischen Charakter begründet liegt.
Der Analyse von Apathie und autoritärem Charakter entspringt eine Kritik am indoktrinären Avantgardismus des sozialistischen CO, wobei jedoch mit dem Marxismus-Leninismus auch alle fortschrittlichen Elemente der Kritik der politischen Ökonomie verworfen werden:
„Gemeinwesenarbeit muß ideologiefrei betrieben werden; man darf die Menschen nicht unter Ausschaltung ihres Verstandes in eine bestimmte, festgelegte Richtung steuern. Die Leute, die schon immer eine fertige Gesellschaftsanalyse in der Tasche haben, die sie als unumstößlich setzen und den Betroffenen durchs Hintertürchen schmackhaft machen wollen, erreichen durch solche Arroganz nur, daß sich die Betroffenen verunsichert in ihre Wohnungen zurückziehen.“ (Dies.: Grundprogramm Gemeinwesenarbeit, S. 64)
Einerseits sind Hinte/ Karas hier im Recht: Eine manipulative Vermittlung, d.h. Indoktrination von sozialistischer Gesellschaftsanalyse und damit eine weitergehende Apathisierung der Leute steht nicht zur Debatte; doch damit zugleich den kritisch-theoretischen, d.h. den marxschen Ansatz zu verwerfen, ebenso nicht. Das wäre vielmehr selbstwidersprüchlich: Kritische Theorie würde sich sogleich selbst widerlegen, wenn sozialistische Kritik gestrichen wird, weil die katalytische GWA sich in integrative transformierte, indem sie das Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis verschleiert.
Freire konzipiert seine Pädagogik so, dass Lehrende zugleich Lernende sind – jedoch gilt umgekehrt dasselbe: Auch Pädagog:innen haben ein Wissen, das zwar abstrakt sein mag, insofern die sozialen Verhältnisse im Sinne einer kritischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft erkannt werden; aber dieses Wissen ist nicht nichtig, nur weil es abstrakt ist. Es ist vielmehr die Grundlage der Methode. Bei Freire werden nämlich die realen gesellschaftlichen ‚Blockierungszusammenhänge‘, wie er Handlungsblockaden nennt, durch die Pädagogin:innen in das sog. ‚generative Thema der Epoche‘: Herrschaft und Knechtschaft eingeordnet. Freire bezeichnet gerade dies als ‚dialogischen Prozess‘.
Aus der Furcht vor Indoktrination scheint nun auch das Ziel der Herstellung neo-feudaler sozialer Verhältnisse zu resultieren. Durch die Gründung von Großfamilien bspw., die unter modernen Bedingungen, d.h. innerhalb von Wahlverwandtschaften konstituiert werden, können die Einzelnen wieder „Verantwortung“ (dies.: Grundprogramm Gruppenarbeit, S. 83) übernehmen, die im Gegensatz zu staatlicher Verpflichtung und Verrechtlichung steht. Immer wieder werden damit im Text der Autoren auch moderne sozialstaatliche Institutionen verworfen, die den Individuen formal-rechtlich Ansprüche garantieren, jedoch anstelle derselben aktiv werden. Daher sollen sie durch non-formale Beziehungen in ‚Verantwortungsgemeinschaften‘ ersetzt werden – wie man heute sagen würde. Nicht ohne Grund erinnert das Konzept daher an neoliberale Ideologie (ALGII und die sog. Bedarfsgemeinschaft), auch wenn Hinte/ Karas vor Missinterpretationen des Begriffs ‚Verantwortung‘ warnen. (Vgl. ebd., S. 84 f.) Im schlimmsten Fall errichtet man sich ein faschistisches Racket (s. Alinskys Back tot he Yards Neighborhood Council), in dem die Mitglieder der Willkür eines Bandenführers ausgesetzt sind, weil einklagbare Rechte durch Loyalitätserweisungen und kritische Theorie durch bürgerliches Bewusstsein ersetzt worden sind. Möglicherweise scheint hier aber auch die Suche nach einer nicht kommodifizierten Beziehung wie Freundschaft auf, die – wie mir eine Genossin nahelegte und wie es von Maruschke ähnlich interpretiert wird – ebenso einer feministischen Kritik entspringen könnte.
M.a.W.: Eine anti-manipulative Praxis sollte zwar tatsächlich ideologiefrei sein, aber nur im Sinne einer marxschen Ideologiekritik. Die Entwicklung einer Utopie, „die sich weigert, das gegebene Universum der Tatsachen als den endgültigen Zusammenhang hinzunehmen“, erfordert vielmehr eine „‚transzendierende‘ Analyse der Tatsachen im Licht ihrer gehemmten und geleugneten Möglichkeiten“ (Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, S. 13) des So-und-nicht-anders-Seienden. Oskar Negt interpretierend, könnte man hier von positiver und negativer ‚soziologischer Phantasie‘ (vgl. ders.: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen) sprechen, die eben eine Einheit bildet und nur unter Verlust ihres kritischen Gehalts zersplittert werden kann. Nichtsdestotrotz weisen Hinte/ Karas mit ihrer Kritik an der Aktivität für und der Indoktrination von Subjekten auf ein liberales Moment der sozialistischen Kritik hin: die Idee der Selbstbestimmung.
IV.
Robert Maruschke widmet sich in seinem Buch: Community Organizing – Zwischen Revolution und Herrschaftssicherung ebenfalls der Frage, wie CO nicht sozial-integrativ, sondern sozialistisch sein kann. Trotz der Allgemeinheit der Ausführungen, werde ich versuchen, eine Kritik am sozialistischen CO zu formulieren und entsprechende Schlüsse für eine bessere Praxis hieraus zu ziehen. Auch Maruschke betrachtet hierzu zunächst verschiedene Formen des Community Organizings. Er teilt sie – ähnlich Hinte/ Karas – ein in Sozialplanung (s.o.) und Nachbarschaftsentwicklung (Verankerung des lokalen Verwaltungshandelns unter Einbezug des:der Bewohner:innen und ggf. hierzu nötiges Community Building) einerseits und andererseits sozialer Aktivismus (konfliktorientierte Praxis, die sowohl progressives (Alinsky) als auch sozialistisches Community Organizing meinen kann). (Vgl. Maruschke: Community Organizing. Zwischen Revolution und Herrschaftssicherung, S. 21-25)
Insofern Maruschke die „Erfindung einer einheitlichen Community und eines dazugehörigen gemeinsamen Interesses“ als die „Kehrseite dieser ‚anti-ideologischen‘ Ausrichtung“ (ebd., S. 36) identifiziert, erhellt er die konfrontative Taktik der progressives: Diese sind bloß der manchmal gewalttätige Schein eines Organizings, das aufgrund seiner (angeblichen) Ideologiefreiheit integrativ wirkt, wovor Hinte/ Karas bereits bei der partnerschaftlich-demokratischen GWA warnten. Dagegen sollte das sozialistische CO durch vier Grundpfeiler bestimmt sein: „eine kritische Analyse und grundsätzliche Opposition gegen die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse; eine ausdrücklich politische Basisarbeit; die Anwendung konfrontativer Politikformen; sowie eine organisationsübergreifende und grenzenlose Solidarität.“ (Ebd., S. 55) Anders als alle anderen aufgeführten Konzepte ist die ‚ideologische‘ Analyse gesellschaftlicher Herrschaft im transformativen CO ein wesentliches Element, die den Zweck hat, individuelle Probleme kapitalismuskritisch einzuordnen, sodass „Unterdrückung und Herrschaft als strukturelles Problem und individuelle Erfahrung“ (ebd., 58) erkannt werden können. Dabei „arbeiten transformative Community-Organisationen [in den USA – M.U.] mit dem Bild eines intersektionalen bzw. integralen Systems von Unterdrückung“ (ebd.). Entsprechend der Vorstellung, dass sich die Unterdrückung der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Haupt- und Nebenwiderspruch aufteilen lässt, sondern Ausbeutungsverhältnisse ab ovo vergeschlechtlicht und rassifiziert sind, und umgekehrt, werden diese Strukturen bspw. in Workshops gemeinsam mit den Mitgliedern der Community analysiert. Neben dieser theoretischen Arbeit schlägt sich die Kritik aber auch in die Form des Organizings um:
„Der organisatorische Fokus liegt demnach auf Menschen, die am stärksten unter den Verhältnissen leiden, also einkommensarmen Menschen, People of Color, Migrant_innen, Alleinerziehenden etc. Menschen der Mittelschicht, die trotz ihrer gesellschaftlichen Privilegien [Herv. M.U.] die Politik der jeweiligen Organisationen gut finden, können sie als Freiwillige unterstützen. Sie haben aber keine Stimme bei richtungsweisenden Entscheidungen. Diese Trennung kennzeichnet alle mir bekannten Organisationen des transformativen Community Organizing und ist notwendig, damit die eigene Basis sich nicht gegen die Interessen der weißen Mittelschicht durchsetzen muss.“ (Ebd., S. 61)
Was prima facie plausibel anklingt, ist auf den zweiten Blick gar nicht so leicht umzusetzen, wie Maruschke mit Eric Mann – einer der sozialistischen Organizier der USA – selbst bemerkt. Wer hier nämlich jeweils als unprivilegiert, wer als privilegiert erscheint, ist immer eine Frage des besonderen Verhältnisses. So führt Mann ein Beispiel an, für das sich anhand der dem Intersektionalismus innewohnenden Privilegienprüfung keine befriedigende Lösung finden lässt. Es stellt sich nämlich stets die Frage, wer denn wohl die am wenigsten privilegierteste Gruppe sein mag, die man dann gegen die privilegiertere Gruppe in einem besonderen Fall unterstützt:
„Wenn wir offene Grenzen ansprechen, müssen Schwarze mit dem schrecklichen Widerspruch umgehen, dass billige Arbeitskraft unter erzwungener Illegalität in die USA gebracht wird. Und sie wissen, dass das Teil des Systems ist. Arbeitende Menschen ohne legale Rechte reproduzieren das, was der Sklaverei aktuell am nächsten kommt. Und die Arbeitsplätze werden den Schwarzen genommen und Latein-Amerikaner_innen gegeben. Das ist eine schreckliche, herzzerreißende Situation. Wir müssen trotzdem für die Öffnung der Grenzen und für staatliche Unterstützung für Schwarze kämpfen.“ (Ebd., S. 19)
Hier ist aus Sicht der Lateinamerikaner:innen die afro-amerikanische Bevölkerung der praktische Gegner, gegen den sich die Kämpfe richten könnten. Zwar ist ersichtlich, dass Identitätspolitik und Universalismus hier im Widerstreit liegen; eine einfach identitär ausgerichtete Strategie würde sich aber in einem Partikularismus, der blind für den Universalismus sozialistischer Forderungen, verfangen. Man kann genau das an den Stellen wahrnehmen, wo Maruschke von einer „Mittelschichtsorientierung […] innerhalb linker Bewegungen“ (ebd., S. 101) spricht. Die Terminologie der ‚Mittelschicht‘ ist durchaus kein unproblematischer, sondern ideologischer Begriff. Mittels dieser Theorie trennt man die Klasse der abhängig Beschäftigten (taktisch unklug) in ihre verschiedenen Privilegienschichten auf und reproduziert ungewollt die Ideologie von Haupt- und Nebenwiderspruch. Nach Giorgio Agambens Analyse staatlicher Souveränität führt die Konstruktion einer vorgeblich einheitlichen Wir-Gruppe sogleich zur Konstitution einer Ihr-Gruppe. (Vgl. ders.: Homo sacer: Die Souveränität der Macht und das nackte Leben) Exklusion ist demnach Realität und Schein zugleich. Der Kampf der Exkludierten ist so zugleich der Kampf der ‚Privilegierten‘, womit hier weiße Arbeiter:innen gemeint sind. So war in der Vergangenheit die hiesige Einschränkung der Freizügigkeit von Asylbewerber:innen das Probierfeld für die von Staatsbürger:innen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Gleiches ist bei Diskussionen um die Einführung einer Arbeitspflicht für Asylbewerber:innen und für ALGII-Empfänger:innen zu beobachten gewesen. Der von Maruschke geforderte Ausschluss ‚Privilegierter‘ greift so tendenziell den Universalismus der sozialistischen Utopie und damit Solidarität, Gleichheit, Freiheit an.
Nach Maruschke und Mann scheinen die Leute Mechanismen zu sein, die entsprechend ihrer Schichtzugehörigkeit handeln müssen und keine universelle Vernunft besitzen. Es ist schwer vorstellbar, wie die Sein-Bewusstseins-Roboter – seien es weiße Arbeiter:innen, akademische Organizer:innen, Afro-Amerikaner:innen – internationale Solidarität gegen den Imperialismus aus den imperialistischen Zentren üben, wenn deren sozialistische Akteur:innen selbst privilegiert sind? Wer soll die exkludierten Communitys organisieren, wenn nicht irgendwelche Organizer, die das Privileg der Bildung hierfür hatten? Wie soll man Afro-Amerikaner:innen von offenen Grenzen überzeugen, wenn diese ihr Leben unmittelbar verschlechtern? Möglich ist dies nur unter Abstraktion der eigenen zufälligen Bestimmungen, die man in dieser Gesellschaft hat. Insgesamt muss man ansonsten die Frage stellen, wie Praxis überhaupt möglich sein soll: Wird Moral als das universelle praktische Bedürfnis verstanden, sich an der progressiven gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen, die durch das Kapital verhindert wird, so schwindet mit ihr Praxis überhaupt. (Vgl. Horkheimer, Max: Materialismus und Moral, S. 167 f.)
Um den Bogen zum Thema Freiheit und Manipulation zu spannen: Es kann konstatiert werden, dass das Vermögen des Menschen, selbst nicht nur Wirkung einer Ursache, sondern Grund für eine Kette an Wirkungen auch im transformativen Organizing systematisch ausgeschlossen wird, da die Subjekte nicht als mögliche vernünftig denkende angesehen werden, sondern als Privilegien- und Interessensubjekte, die nicht aus Freiheit, sondern aus schichtspezifischen Interessen heraus handeln. Dieses typisch sozialdemokratische und also leninistische Denken wird vermutlich wieder in den von Hinte/ Karas kritisierten indoktrinären Avantgardismus münden. Zumindest endet Mann bei einer eigentümlichen Liebe für die Sowjetunion und DDR sowie BDS, was meinem Eindruck vielleicht etwas Dignität verleihen mag. (Vgl. Mann, Eric: Transformatives Organizing, S. 13-16)
V
Das Konzept CO scheint einige Schwierigkeiten bzgl. des Themas: Freiheit und Manipulation aufzuweisen. Sie liegen in der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit begründet. Ist diese Dialektik erst einmal erkannt, können wir beginnen, sie als Spannungsverhältnis zu begreifen, in dem wir uns als Revolutionäre:innen bewegen müssen, bis wir es abschaffen. Ein Fehler wäre es daher, zu glauben, wir könnten es bereits im Hier und Jetzt auflösen, indem wir z.B. ‚anti-ideologisch‘, d.h. ohne Versuch, die Leute im CO die Kritik der politischen Ökonomie näherzubringen, arbeiten. Um jedoch nicht einer indoktrinären Avantgarde-Ideologie zu verfallen, ist es unbedingt notwendig eine herrschaftskritische Pädagogik, wie sie in den 1960ern und 70ern in der BRD diskutiert worden ist, umzusetzen, denn: Erst im – wie auch immer konkret ausgeführten – Dialog mit der Community, kann unser abstraktes Wissen mit Leben befüllt werden.
Ein CO, das nicht manipulativ wäre und so zur Herrschaftstechnik verkommt, muss also der Spontaneität der Subjekte genügen oder ihr förderlich sein. Ich möchte abschließend wenigstens allgemeine Handlungsempfehlungen geben, wie das gelingen kann: mit der Technik des Dérive, der freien Assoziation, solidarischer Kritik und universalistischer Identitätspolitik.
Das CO neigt dazu, Stadtteile allein anhand von offiziellen Statistiken einzuordnen. Statistiken aber sind Herrschaftswissen. Der Community-Laden wird dann bspw. neben dem Einkaufcenter bezogen, weil man meint, dass man dort den größten Erfolg vorweisen wird. Dérive beschreibt dagegen „das Erkunden einer Stadt durch zielloses Umherschweifen“ (wikipedia) unter Einfluss von Rauschmitteln. Diese Technik wurde durch die Situationistische Internationale entwickelt und hat sich zum Ziel gesetzt, die geheime Psycho-Geographie der Städte aufzudecken. Ich gehe davon aus, dass man ein angemesseneres Bild des Stadtteils für sein Vorhaben zeichnen wird, wenn man diese unbewusste Geographie, die die Subjekte an der Architektur der Unterdrückung vorbei entwickeln, versucht, nachzuvollziehen.
Die freie Assoziation – eine Technik der Psychoanalyse – ist das Dérive der Psyche: Sie kann in Interviews mit Bewohner:innen angewandt werden. Die Antworten der Befragten werden in der freien Assoziation nicht einfach in ein logisch einwandfreies Konstrukt eingeordnet. Es wird vielmehr Widersprüchliches, Unverbundenes und Vereinzeltes ernst genommen, d.h. nicht wegerklärt, sondern interpretiert. Zweck wäre dabei, die abstrakte Kritik der bürgerlichen Totalität mit Leben zu füllen, das heißt in ihren konkreten Ausformungen nachzuvollziehen.
Eine solidarische Kritik wendet sich gegen gelenkte Gespräche und Anbiederungen aller Art. Sie nimmt die Aussagen der Befragten ernst, ohne jeden Unsinn aus taktischen Gründen unwiderlegt zu lassen. Sie wendet sich durch die Appellation an die Einsicht des Subjekts an seine Vernunft und stellt hiermit seine gebrochene Würde wieder her, da es dem Wesen der Vernunft entspricht, Richtiges von Falschem und damit Gutes von Bösem zu unterscheiden.
Unter dem Namen einer universalistischen Identitätspolitik verbirgt sich die Vorstellung davon, dass Menschen gegen ihre zufälligen Privilegien und Interessen einen freien Willen besitzen, der sich unabhängig von falschen Bedürfnissen für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft einsetzt. Insofern sind die Kämpfe von Exkludierten und Inkludierten zusammenzudenken. Niemand ist aufgrund seiner gesellschaftlichen Position ab ovo abzuweisen. In den verschiedenen Kulturen der identitären Gruppen müssen zugleich Anschlüsse für eine universalistische Politik gefunden werden, um ihren Partikularismus Schritt für Schritt zu transzendieren. (Vgl. Schubert, Karsten/ Schwiertz, Helge: Konstruktivistische Identitätspolitik)
* Der Text erscheint in zwei Teilen und außerdem in gekürzter Version. Die längere Version des Artikels ist online unter https://lirabelle.noblogs.org/ veröffentlicht. Der erste Teil des Textes erschien in der Lirabelle #33. Auslassungen der Kurzversion sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.
1) Man könnte hier mit Adorno und Marcuse zustimmend sagen, dass gerade der Konsumismus der (post-)fordistischen Gesellschaft die Leute befriedet, indem hierdurch Triebregungen standardisiert und konformiert werden, mit dem Zweck alle widerständigen Gefühle und Gedanken einzuhegen. Das CO habe also die Funktion, die Leute in die menschenunwürdige und undemokratische kapitalistische Gesellschaft zu integrieren.