Vom 01. bis 03. Mai 2025 fand der Kongress „Antifa out of line – Kongress gegen die autoritäre Formierung“ in Berlin statt. Organisiert wurde der Kongress vom Bündnis Gegenform, das aus den antifaschistischen Protesten gegen den Al Quds-March in Berlin hervorgegangen ist. Hier ein paar Eindrücke.
Bereits im Vorfeld des Kongresses gab es auch im sozialrevolutionären Spektrum der radikalen Linken öffentliche Auseinandersetzungen 1) sowie im Kreis meiner Genoss:innen erste Diskussionen um Stoßrichtung und blinde Flecken des Kongressprogramms. Kritisiert wurde, dass wesentliche autoritäre Formierungen innerhalb der deutschen Gesellschaft im Programm keinen Platz fanden: Militarisierung und Zeitenwende, Erstarken der AfD und rechte und rassistische Gewalt insbesondere im Osten, die fortschreitende Abschaffung des Asylrechts und des Sozialstaats durch die sogenannten Parteien der Mitte, aber auch staatliche Repression gegen Palästina-solidarische Linke bzw. linke und nicht-linke Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte. 2) Tatsächlich blieb es auf dem Kongress verdächtig häufig harmonisch. „Wo der heimelige Konsens anfängt, endet kritisches Denken“ heißt es im Selbstverständnis der Organisator:innen des Kongresses – und so war es, denn trotz milderer theoretischer Differenzen auf den Podien war man sich häufig heimelig einig: autoritär, das sind immer die anderen.
Auf dem Podium zum Verhältnis von Feminismus und Gesellschaftskritik gab Christine Kirchhoff 3) eine kurze Einführung in das Verhältnis von Sexualität und Identität und die Schwierigkeit, das Nicht- Identische an der eigenen Sexualität als Ambivalenz auszuhalten und in Reaktion darauf das gewaltvolle und autoritäre Streben nach Eindeutigkeit, Klarheit und widerspruchsloser Identität. Im Gespräch mit Lars Quadfasel ging Kirchhoff der Frage nach, inwieweit die bedingungslose Palästina-Solidarität von (u.a. queeren) linken Aktivist:innen diesem Wunsch nach Eindeutigkeit entspricht (Israel als böser Kolonialstaat; Palästina als unterdrücktes Volk) und dass für diese lückenlose Identifikation der Antisemitismus und die Gewalt der Hamas notwendig verdrängt werden muss. Koschka Linkerhand merkte dazu auf dem Podium an, dass dieser autoritäre Reflex durchaus in allen Strömungen der Linken, auch in der Israel-solidarischen Linken, zu finden sei. Es geht um den Wunsch nach lückenloser Identifikation als leitendes Motiv für die eigene politische Positionierung (die dadurch mehr Haltung als Urteil ist). In meinen Kreisen wurde sehr wenig und zögerlich über die brutale Kriegsführung Israels nach dem antisemitischen Terroranschlag der Hamas am 07. Oktober 2023 in Gaza; dem mangelnden Fokus der Netanjahu-Regierung auf die Freilassung der Geiseln und die von der israelischen Regierung geduldete eskalierende Gewalt in der Westbank gesprochen. Wie selten hier um Worte gerungen wird. Es mag auch daran liegen, dass der glühende Antisemitismus einer globalen Linken einen ein Stück weit sprachlos macht – und es Sorge gibt, damit den Antisemit:innen noch in die Hände zu spielen. Doch auch hier findet eine Verdrängung von Gewalt im eigenen Denken statt – weil die Parteinahme auf Identifikation und nicht auf Urteilskraft beruht und diese Gewalt eine bruchlose Identifikation verhindert. Im identifizierenden Denken muss es immer klare Gut-Böse-Schemata geben; es muss klare Opfer und Täter geben und die Opfer müssen gut und schwach und die Täter stark und schlecht sein.
Im Workshop „Russlands Todesökonomie“ der Antideutschen Kommunisten Leipzig (AKL) wurde sich gleich jedes Denkens entledigt, und zwar zugunsten der hundertprozentigen Identifikation mit dem Staat Ukraine, dessen Unterstützung „zentrale Aufgabe einer kommunistischen Außenpolitik“ sei. In einem mehr als wirren Theorieteil wurde hergeleitet, wie die historische Entwicklung der asiatischen Produktionsweise und damit einhergehenden Despotie in Russland, China und Iran (seit der Eiszeit!) ungebrochen. Die Konsequenz daraus: dass Linke für die Militarisierung Deutschlands und mehr Waffenlieferungen an die Ukraine mobilisieren müssen und dass wir uns langsam mit dem Gedanken anfreunden sollten, selbst zu kämpfen. Diese Entweder-Oder- bzw. Wir-oder-Die-Rhetorik zog sich jedoch durch den gesamten Kongress. Entweder die Freiheit des Westens oder die Despotie Russland-China-Irans – auf welcher Seite stehst du, du musst dich entscheiden.
Ewgeniy Kasakow ging in seinem Workshop „Zeitenwende-Linke vs. Putin-Versteher? Besichtigung einer Katastrophe“ der Frage nach, wie sich eine antideutsche und antinationale radikale Linke, die in den 1990er und 2000er Jahren um eine Kritik an der besonderen Gefahr des deutschen Nationalismus, an bürgerlich-liberalen Demokratien als Herrschaftsform im Kapitalismus und um eine fundierte Staatskritik rang, in den letzten Jahren zunehmend darauf kommt, ausgerechnet Deutschland als besten Garanten für die Vertretung ihrer Interessen wahrzunehmen. 4) Die These war, dass eine schleichende Aufgabe der Staatskritik anlässlich der Sympatisierung mit dem Atomausstieg und der Geflüchtetenpolitik unter Merkel; mit dem Staat als Bewältiger der Coronakrise und als Garant der Freiheit vor einem Sieg Russlands stattgefunden hat: Die Konturen dessen, was in der Bundesrepublik von nun an als »links« gilt, zeichnen sich derzeit ab: „Es geht nicht mehr gegen den Staat als Hindernis für die wie auch immer vorgestellte »Freiheit«. Stattdessen wird der Staat immer mehr als eine Instanz angesehen, die zur Aufgabe hat, die Rücksichtslosen in die Schranken zu weisen. Der Staat soll den Verweigerern der Pandemiemaßnahmen, den Gegnern des Tempolimits, den Putinverstehern, der ganzen Allianz der »Boomer«, die an ihrer privilegierten Freiheit zum gewohnten Konsum und Sprachgebrauch festhalten, den Riegel vorschieben.“
Der Effekt: Durch den Hang zur ständigen Parteinahme für einen Staat (bzw. ein Staatenbündnis) in internationalen Konflikten innerhalb der radikalen Linken ist die Erkenntnis verloren gegangen (wenn sie denn je vorhanden war), dass kein Staat Frieden und Freiheit bringen kann. Erstens, weil auch in jeder noch so liberalen bürgerlichen Demokratie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Zerstörung der Natur zugunsten des Strebens nach Gewinn (eben Kapitalismus als gesellschaftliches Zwangsverhältnis) herrscht. Zweitens, weil durch die globale Konkurrenz von Nationalstaaten um Territorien, Absatzmärkte, Handelsrouten und Ressourcen immer die Gefahr droht, dass diese Konkurrenz mit kriegerischen Mitteln ausgefochten wird (es gibt keinen Frieden im Kapitalismus). Drittens, weil sich der Umschlag in Faschismus und Barbarei als konformistische Revolte gegen die Zumutungen des Kapitalismus potenziell in jedem Staat vollziehen kann.
Wer auf dieser Einsicht beharrt, kriegt den Vorwurf der Augenwischerei und der Äquidistanz zu hören. Dabei basiert andersherum die bruchlose Parteinahme für den Westen als das weniger Schlechtere auf einer gehörigen Portion Schwammigkeit. So werden die Konfliktlinien (ganz auf Linie mit der bürgerlichen Presse) entlang eines Wertekonflikts „Demokratie versus Diktatur“ gedeutet. Der Identifikation mit der „guten Seite“ soll nichts im Wege stehen. Vergessen sind Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus, der Aufbau von Militärdiktaturen in Südostasien und Lateinamerika im Kalten Krieg, die guten Beziehungen Deutschlands zum Iran und Qatar, das organisierte Ertrinken im Mittelmeer durch die Europäische Union. Fast moralisch empört wird China vorgeworfen, dass es in der internationalen Staatenkonkurrenz auf Platz 1 vordringen will und darin ernstzunehmende Erfolge verzeichnet, während „Deutschland heute keine imperialen Interessen“ (Zitat vom Podium „Racketisierung der Weltordnung – Zerfall des Weltmarkts?“) habe. Ebenso verdrängt wird, unter welchen elendigen Lebensbedingungen die Masse an Menschen auch in bürgerlichen Demokratien der „Peripherie“ leben müssen (etwa in Griechenland, Rumänien, Georgien, Nepal, …) – und dass auch bei einem so sehr notwendigen baldigen Ende des Krieges in der Ukraine und einer zu erhoffenden Niederlage Russlands die Überlebenden des Krieges in der Ukraine keine blühenden Landschaften erwartet.5
Auf diese Wende des gedanklichen Zwangs zum Entweder-Oder und die auf dem Kongress teils zu beobachtende affirmative Identifikation mit deutscher Außenpolitik ging auch Thomas Ebermann auf dem Abschlusspodium zu linker Kritik in der Krise nochmal ein. Er stellte die These auf, dass auf dem Kongress die Abwesenheit einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und damit, dass Deutschland keine Nation wie jede andere sei, kein Zufall sei. Im Gegenteil müsse dies notwendig verdrängt werden, um in dem Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht nach der Wiedervereinigung keine Gefahr mehr zu sehen sei, und um einen positiven Bezug auf die wachsende Handlungsmacht Deutschlands in der internationalen Politik zu ermöglichen.
Es muss etwas jenseits des Entweder-Oder der aktuellen Weltpolitik möglich sein – das ist die Aufgabe einer Linken als Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter, sonst resigniert kritisches Denken und schlägt in bloße Affirmation des Bestehenden um. Das Bessere ist immer noch der Feind des Guten.
1 Siehe etwa https://communaut.org/de/stellungnahme-zum-text-vom-ak-beau-sejour; https://vogliamotutto.noblogs.org/
2 Es gab trotzdem viele gute Workshops auf dem Kongress, u.A. zur Kritik des Islamismus und zur Kritik des Antisemitismus.
3 Ich gebe im Artikel immer mal wieder, was mir von den Referent:innen hängen geblieben ist – es ist keine vollständige Wiedergabe des Gesagten auf dem Kongress, aber hoffentlich auch keine falsche. Falls ja, ist es keine Absicht sondern meinem schlechten Gedächtnis geschuldet. Außerdem enthalten sind Gedanken von Genoss:innen, mit denen ich dieses Wochenende diskutiert habe. Danke!
4 Inzwischen ist ein Text von ihm dazu erschienen, wo er seine Thesen noch einmal weiter ausführt: https://www.phase-zwei.org/hefte/artikel/angis-rache-2344
5 Ich arbeite mich an der Pro-Westlichen Linken ab, weil ich unter den Leser:innen der Lirabelle wenig bis keine Putin-Versteher und China-ist-der-Kommunismus-Vertreter:innen vermute und weil diese nicht Besucher:innen des Kongresses waren. Kasakow hat in seinem Workshop auch eine Kritik an der Putin-Versteher-Linken entfaltet.