In der letzten Ausgabe der Lirabelle haben die Autor:innen Mascha Kalakadu und Pia Puuh eine Debatte zum innerlinken Umgang mit dem Nahostkonflikt angestoßen und haben dazu eingeladen darüber zu streiten, wie wir aufhören oder besser streiten. Diese Einladung finden wir notwendig und sind den Autor:innen auch dankbar, den Stein mit ihrem Text angestoßen zu haben. In ihrem Text haben Kalakadu und Puuh eine Bild von den Entwicklungen seit dem 7. Oktober 2023 gezeichnet, der innerlinken Auseinandersetzung und nehmen Bezug auf diverse Vorkommnisse und Entwicklungen in Erfurt, darunter das System Change Camp 2024 und die zeitgleich stattfindende Antira-Demo. Folgend soll auf den Debattentext geantwortet werden, auch in der Hoffnung das diese Debatte weitergeführt wird. Von Dissens – Antifagruppe Erfurt
Leerstelle Antisemitismus
Dass Bündnisse und linke Vernetzungen am „Nahostkonflikt“ zerbrechen ist kein neues Phänomen. Während es irgendwann in der radikalen Linken und den Antifa-Gruppen der späteren 00er und 10er Jahre in Thüringen weitgehend Konsens war israelsolidarisch zu sein, oder wenigstens gönnerhaft dem jüdischen Staat sein Existenzrecht zuzusprechen, ist diese Gewissheit längst nicht mehr. Die Gretchenfrage lautete nicht, „Wie hältst du es mit Israel?“, sondern „Wie erklärst du Antisemitismus?“. Und an der Notwendigkeit diese Frage zu stellen, hat sich nichts geändert. Denn viel entscheidender ist, dass eine Thematisierung von Antisemitismus, und das gar nicht mal zwangsläufig mit Nahostbezug, in linken und antirassistischen Bündnissen der jüngeren Vergangenheit keine Rolle gespielt hat. Klar, unter jedem Aufruf steht das man gegen „Rassismus, Sexismus und eben auch Antisemitismus bla bla“ ist, aber was das am Ende heißt, ist meist eher dürftig. Antisemitismus wird als eine Diskriminierungsform unter vielen verstanden, nicht als pathische (falschen, d.S) Projektion, welche die gesellschaftlichen Widersprüche im Juden und in Israel personalisiert. Antisemitismus kann so eingeebnet und seine aktuell am stärksten formulierte Form, die sogenannte Israelkritik, politisch legitimiert werden.
Dass ist nicht (nur) ein Vorwurf an jüngere Genoss:innen, nicht dies oder jenes gelesen und verstanden zu haben, sondern auch ein Problem von Strukturen wie der unseren, sich aus Bündnissen und Vernetzungen herauszunehmen, wo eine solche Auseinandersetzung fehlt. Uns ist bewusst, dass die Tatsache, dass sich die Orga der Antira-Demo im letzten Sommer explizit gegen israelbezogenen Antisemitismus aussprach, an der Arbeit von Leuten lag, die genau diese Auseinandersetzungen auf einer solidarischen Ebene eingegangen sind.
Doch dass mit dem Massaker vom 7. Oktober und dem Krieg, den die Hamas begonnen hat, die Konflikte in antifaschistischen Bündnissen und Brüche in Allianzen entstehen, zeigt das die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu wenig oder gar nicht stattgefunden haben. In der Konsequenz zeigte es sich dann auch in der Nicht-Umsetzung dieses Demo-Konsens. Gerade deshalb wird es um so notwendiger sein, die Kritik des Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen zu stärken, in Bündnissen oder Räumen, wenn diese Entwicklung gestoppt werden soll. Es soll dabei nicht um eine generelle Tabuisierung einer Auseinandersetzung mit israelischer Politik gehen, die Grenze ist zu ziehen, wenn das Gegenüber im wahnhaften Antisemitismus verfällt oder seinerseits keinerlei Differenziertheit zulässt.
Gegen selektive Kritik
Weiterhin plädieren die Autor:innen gegen eine selektive Solidarität und für Differenziertheit und Multiperspektivität. Dem können wir uns nur anschließen und würden uns das viel öfter wünschen, als wir das öffentlich zugeben würden. Aber wir sehen gleichzeitig eine selektive Kritik beim Umgang mit Antisemitismus. Kritik des Antisemitismus ist eben auch da zu üben, wo Migrant:innen und muslimische Menschen auftreten. Sicher ist es eine Frage der Art und Weise, aber aus einem (anti)rassistischen Reflex heraus diesen Antisemitismus nicht zu kritisieren, halten wir für fatal. Sicher ist es ein Punkt von vielen, der dazu führt, dass antisemitismuskritische Positionen weniger vertreten sind. Eine Entwicklung, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zunehmend zu einem blinden Fleck wird, beobachten wir schon länger. Erinnert sei hier an die Auseinandersetzungen um die Ahmadiyya-Gemeinde und ihren Vorsitzenden, welcher regelmäßig durch antisemitisches Gepolter aufgefallen ist. Damals wurde uns vorgeworfen, dass wir noch auf jemanden verbal losgehen würden, der so massiv von Neonazis bedroht wird. Aber schon damals galt bei Angriffen auf die Ahmadiyya unsere Solidarität den Betroffenen rassistischer und neonazistischer Gewalt. Auch Antisemit:innen können von rechter und rassistischer Gewalt betroffen sein, das heißt nicht diese Gewalt nicht zu verurteilen und zu bekämpfen, und gleichzeitig den Antisemitismus auch unverhohlen kritisieren zu können und zu müssen. Das erfordert aber nicht nur ein generelles aufgeführtes Verständnis als (post)migrantische Linke, sondern auch die Einsicht der antirassistischen und migrantischen Community Kritik und Selbstkritik zuzulassen und zu üben. Und eventuell auch die Bereitschaft in einem Hund, der in eine Melone beißt, nicht gleich eine Vernichtungsfantasie gegen Palästinenser:innen zu sehen. Ähnlich gelagert ist es bei der Auseinandersetzung um rechten Terror beispielsweise von Halle 2019. Es ist richtig, auf die rassistischen und patriarchalen Dimensionen des Anschlags hinzuweisen, dennoch verwischt es das grundlegende Motiv des Täters, dessen Hass auf Migrant:innen und Frauen einem eliminatorischen Antisemitismus entspringt, den er zuallererst an Jüdinnen und Juden in der Synagoge in Halle ausüben wollte. Die Verwässerung von antisemitischen Motivlagen entspringt auch hier dem Unverständnis von Antisemitismus. Gerade hier braucht es eine Stärkung der Antisemitismuskritik, braucht es die Kritik an Positionen, die den Antisemitismus in einer Gemengelage der Diskriminierungen verschwimmen lassen.
Rein in die Widersprüche – aber richtig!
Den Wunsch sich ins Getümmel zu werfen und die Widersprüche zu äußern, unterschreiben wir. Auch dass die moralische Brandmarkung anderer Linker nicht nur in den Notfallkasten, sondern auf den ideologischen Müllhaufen gehört und stattdessen die gegenseitige Kritik zum alltäglichen Tool wird. Dazu gehört, den Antisemitismus weder als einen Rassismus gegen Juden zu verklären, noch als ein genuin migrantisches Phänomen zu verstehen. Dies setzt ein Verständnis des Antisemitismus als Ideologie voraus, die dieser Gesellschaft inhärent ist und als dessen Konsequenz eine Ideologiekritik, die eine Solidarität mit Israel aus dem kategorischen Imperativ ableitet, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei.“ Antisemitismus ist eine umfassende wahnhafte und projektive Weltsicht. Das Vereinende aller Antisemit:innen ist ihr Hass auf das Jüdische als etwas Abstraktes. Im Antisemitismus wird die unpersonelle Herrschaft der warenproduzierenden Gesellschaft personalisiert, indem diejenigen ausfindig gemacht werden sollen, die vermeintlich für die Verwerfungen und Krisen dieser Gesellschaft verantwortlich sind. Gleichzeitig werden diejenigen Bedürfnisse und Triebe auf das Jüdische projiziert, die dem Subjekt in dieser Gesellschaft versagt bleiben. Nach der Shoah wandelte sich die Projektionsfläche des Antisemitismus. Anstelle offener Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden äußert sich moderner Antisemitismus heute häufig in Form des Antizionismus. Dabei wird der Hass, der früher auf „den Juden” projiziert wurde, auf Israel übertragen – „den Juden unter den Staaten”. Der Wunsch nach der Vernichtung dieses Staates ist nicht nur ein Wunsch von deutschen Neonazis, sondern erklärtes Ziel von Staaten wie dem Iran oder eben islamistischer Terrororganisationen wie der Hamas. Dem Iran oder anderen Feinden Israels geht es nur in soweit um die Zivilbevölkerung, sofern ihr Leid der Vernichtung Israels Legitimation verleiht. Solidarität mit Israel ist gerade deshalb unabdingbar, egal welche Politik im Land regiert. Das bedeutet keineswegs, das Leid der Bevölkerung in Gaza abzusprechen oder empathielos zu sein, genau so wenig wie es bedeutet die Opfer und Geiseln der Hamas zu vergessen. Zur eingeforderten Auseinandersetzung in den Widersprüchlichkeiten gehört auch ein Antisemitismusverständnis, das eben jene antisemitischen Projektionen auf Israel benennen muss, auch wenn es komplizierter wird als schwarz-weiß Darstellungen, auch wenn das Gegenüber nicht „die Juden“ sagt, sondern „Aber Israel…“.
Keine Friedensbewegung – bis zum Kommunismus!
Dass autoritäre und islamistische Gruppen bereit sind Menschen aufzufangen, die von der Situation in Gaza entsetzt sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Ob es an einer von uns gelassenen Leerstelle liegt, oder vielleicht doch auch offene Türen eingerannt werden, ist eine weitere Diskussion. Dass die von Rassismus durchzogenen Repressionen gegen palästinasolidarische Gruppen und Demos keine Hilfe dabei ist, ist fraglos wahr. Eine Friedensbewegung, die sich nicht dabei einer grundlegenden Kritik des Antisemitismus verschreibt, und in die zunehmende Polarisierung mit einsteigt, wird scheitern. Dass das, was sich in Deutschland als Friedensbewegung bislang formiert hat, keinen Funken Hoffnung birgt, wird deutlich, schaut man sich die Grundpfeiler dieser Bewegung an. Diese war und ist nach wie vor von dem Fehlschluss geprägt, der Westen sei einzig eine imperialistische koloniale Macht. Wozu derartige Falschheiten führen, konnte man zuletzt bei der Positionierung zum russischen Angriffskrieg sehen. Es ist immer noch offensichtlich, dass viele sich weigern anzuerkennen, dass mittlerweile alle Staaten weltweit bürgerlich-kapitalistisch organisiert sind – und dadurch potenziell imperialistisch handeln können, nicht nur die USA. Dass diese Staaten anders imperial agieren als noch vor hundert Jahren macht es nicht einfacher zu verstehen, entschuldigt aber keineswegs die linke Selbstverdummung und die Weigerung zu erkennen, dass Staaten zwar unterschiedlich, dass Kapitalverhältnis jedoch überall gleich ist. Die zweite Fehleinschätzung ergibt sich aus der Annahme, es könne einen richtigen Frieden im Falschen geben. In der Welt, wie sie bislang organisiert ist, kann und wird es keinen Frieden geben. Dass es in Europa seit dem Jugoslawienkrieg zumindest keine kriegerischen Auseinandersetzungen im Ausmaß des russischen Angriffskrieg mehr gab, liegt nicht an irgendwelchen Einsichten in den Frieden oder europäischen Werten, sondern an der geopolitischen Realität und den Veränderungen der globalen kapitalistischen Wirtschaftsweise. Eine Friedensbewegung muss eine kommunistische sein, die es ernst meint mit der Kritik am Kapitalverhältnis und für die Emanzipation aller Menschen streitet. Ohne diese Grundlage kann jede Friedensbewegung auf den reaktionären Müllhaufen zurück aus dem sie kroch.
Nie wieder Auschwitz
Wer für eine emanzipatorische Bewegung trommelt, die sich antisemitismuskritisch nennen will, der muss dem Antisemitismus ein Verständnis als Ideologie zu Grunde legen, was die Singularität der Shoah, die Bedeutung des Vernichtungsantisemitismus im NS und seiner Nachfolger in den Fokus rückt und schließlich auch erkennen, welche Konsequenz Jüdinnen und Juden zu tragen haben, wenn sie den antisemitischen Internationalen schutzlos ausgeliefert sind: „Der Staat Israel darf nicht so erscheinen, dass er dem, was geschehen ist, Sinn verleiht. Was geschehen ist, verleiht dem Staat Israel einen Sinn, der darin besteht, die Wiederholung dessen, was geschah, zu verhindern“ (Gerhard Stapelfeldt). So lange die Verhältnisse gegeben sind, die zu einer Wiederholung eines massenmörderischen Vernichtungsantisemitismus führen, so lange die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht überwunden sind, in denen sich ein antisemitisches Kollektiv wieder zum Judenmord aufschwingt, bleibt die Solidarität mit Israel das Credo für Antifaschist:innen. Dabei ist es egal, wer in Israel regiert, was Israel tut oder lässt, die Frage ist eine andere: Sollen Jüdinnen und Juden schutzlos ihren Schlächtern ausgeliefert werden? Wer diese Frage mit „Ja“ oder „Nein, aber…“ beantwortet, ist Teil des Problems, denn am Dogma „dass Auschwitz nie wieder sei“ ist nicht zu rütteln. Wie diese Position bei einem zunehmenden Rollback der Linken und einem Erstarken des linken Antisemitismus zu verteidigen bleibt, darüber muss weiter gestritten werden. Das dies in der Lirabelle passiert und nicht auf social Media, ist zumindest ein Anfang der Hoffnung macht.