Die schwarzen Bände der Reihe theorie.org stellen sich seit 25 Jahren der Aufgabe, Zugänge zu linker Theorie und Geschichte ohne allzu große Hürden zu eröffnen. In diesem Rahmen sind mittlerweile 40 Taschenbücher erschienen, zu Themen wie Feministischer Theorie, Internationalismus, Kritischer Psychologie oder Operaismus. Geschrieben sind die Bände in der Regel von Bewegungsintellektuellen – Gisela Notz, Andrea Trumann oder Felix Klopotek, Leute, für die das jeweilige Thema nicht nur theoretisch relevant ist, sondern auch (oder vor allem) politisch. Auf dieser Grundlage eine Übersicht zu vermitteln, gelingt einem neuen Band (»Klima und Kapitalismus«) hervorragend, einem anderen (»Sexuelle Revolutionen«) nur teilweise – findet Karl Meyerbeer.
»Klima und Kapitalismus«
Anfang 2025 neu erschienen ist »Klima und Kapitalismus. Plädoyer für einen ökologischen Sozialismus.« von Katja Wagner, Maria Neuhauss und Max Hauer. Ausgangspunkt der Argumentation ist, dass die Autor*innen in der aktuellen Debatte zum Klima zwei Verkürzungen sehen: Zum einen wird der Klimawandel als rein naturwissenschaftliches Phänomen gesehen, das sich entsprechend durch technische Maßnahmen lösen ließe, würde die Politik nur auf die Wissenschaft hören. Zum anderen argumentieren Teile der Klimabewegung individualistisch: Alle Menschen sollen einsehen, dass ihre Lebensweise das Überleben der Menschheit in Frage stellt und deshalb ihr Verhalten ändern. Das Bändchen stößt in die Lücke zwischen diesen beiden Verkürzungen und umreißt einen Ansatz, der die »Klimakrise naturwissenschaftlich begreift und ihre tieferen sozialen und historischen Ursachen mithilfe einer marxistischen Gesellschaftstheorie und Geschichtsschreibung aufschlüsselt« (11).
Dafür erklären die Autor*innen zu Beginn den menschengemachten Klimawandel als Ergebnis verschiedener Vernutzungsprozesse, deren Effekte sich gegenseitig verstärken und selbst bei optimistischen Prognosen mittelfristig katastrophalen Folgen zeitigen werden. Im zweiten Kapitel geht es um die gesellschaftlichen Ursachen dieser rücksichtslosen Vernutzung: Für die im Kapitalismus immer gebotene Optimierung von Profiten sind die Mittel egal, es herrscht eine immense »Gleichgültigkeit gegen Leib und Leben […] und gegen den weiteren Lebenszusammenhang inklusive der natürlichen Umwelt« (55) . Politische Kämpfe in und um den Staat können die daraus entstehenden Probleme nur verschieben und abmildern, nicht aber lösen – ein Zusammenhang, der in den folgenden Kapiteln noch deutlicher wird. Das dritten Kapitel zur Entstehung des »fossilen Kapitalismus« seit Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt, wie neue Technologien sich durchgesetzt haben, weil sie profitabler waren – nicht etwa effektiver: Zum Beispiel war die Umstellung der englischen Tuchindustrie von wassergetriebenen auf dampfgetriebene Spinnmaschinen vor allem eine Maßnahme, um die Produktionsmacht der Arbeiter*innen in den etablierten und durch die Wasserkraft ortsgebundenen Fabriken zu brechen. In den Kapiteln zur institutionalisierten Politik mit dem Klimawandel und der Klimabewegung wird im Grunde das Scheitern der Versuche geschildert, den Schutz der gemeinsamen Lebensgrundlage im Rahmen einer Ordnung, die auf Profitmaximierung und Standortkonkurrenz basiert, zu gewährleisten – gelungen ist das weder von Oben durch internationale Abkommen noch von Unten durch Akteur*innen wie Fridays, Extinction Rebellion oder Ende Gelände. Im Bewegungsbezug wird auch die Grundaussage des Buches nochmal klar: Die zerstörerische Dynamik des Klimawandels folgt aus den Notwendigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise. Wer dagegen wirklich etwas tun will, braucht eine politische Perspektive, in der es gemeinsam möglich wird, damit zu brechen.
Fluchtpunkt der Argumentation ist daran anschließend ein »ökologischer Sozialismus«, eine Gesellschaft, in der wir »den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur demokratisch, bedürfnisorientiert und ökologisch verantwortungsvoll« (15) gestalten können – mit einer planvollen Steuerung der Produktion, Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln und der Entwicklung von Technologien und organisatorischen Abläufen, die »humanen Bedürfnissen und ökologischen Maßgaben« (173) entsprechen. Dazu gehört zentral eine Produktion von Reichtum, der eben nicht aus einer ungeheuren Ansammlung von Waren besteht, sondern aus Zeit, sozialen Beziehungen und der Möglichkeit, mitzuentscheiden und sich umeinander zu kümmern – alles Fragen, die dazu ins Verhältnis gesetzt werden müssen, welche stofflichen Güter produziert werden sollen. Erkämpft werden soll diese Welt durch eine ökologische Klassenpolitik, die den Zusammenhang von Naturzerstörung und Ausbeutung aufdeckt und auf dieser Grundlage Gegenmacht aufbaut.
Warum ist nun dieses Buch, das eine ganz klare politische Positionierung herausarbeitet, Teil einer Einführungsreihe? Die Antwort ist: Das Buch vermittelt einen Überblick über verschiedene Perspektiven zum Thema und nimmt sie in ihren Stärken und Schwächen ernst. Durch die Kritik der Einzelperspektiven wird deutlich, wieso der umfassendere, marxistische und letztlich revolutionäre Ansatz der Autor*innen geeignet ist, den Gegenstand zu begreifen, statt das Problem auf Fragen von Technologie, Konsumverhalten oder politischen Abkommen engzuführen.
Katja Wagner, Maria Neuhauss, Maximilian Hauer: Klima und Kapitalismus. Plädoyer für einen ökologischen Sozialismus. 204 Seiten, 15€
»Sexuelle Revolutionen. Eine historisch-politische Einführung«
Eine Einführung zum »Zusammenhang von Subjekt und Gesellschaft, kapitalistischer Vergesellschaftung, Triebunterdrückung und sozialer Befreiung« (9) soll der Band über Sexuelle Revolutionen von Anna-Myrte Palatini und Sebastian Bischoff bieten. Um das zu leisten, beginnt das Buch mit einem Theoriekapitel, das eine sehr spezifische Lesart des Gegenstands entwickelt; kurz angedeutet: Moderne Subjektivität entsteht, weil vereinzelte Einzelne im Kapitalismus frei sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, dies aber auch tun müssen, weil sie sonst verhungern. Bedingt durch diese Lage entwickelt sich eine Denkform, in der diese Art zu Leben als natürlich erscheint, was paradoxer Weise bedeutet, dass das Subjekt sich selbst zum Objekt der eigenen Zurichtung macht: »Sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung unter der Voraussetzung ihrer kapitalistischen Form bedeutet, Anerkennung der Eigentumsrechte der Subjekte an ihrer Sexualität und ihrem Geschlecht.« (29). Um zu beantworten, wieso sich Sexualität und Geschlecht ausgerechnet hetero- und cissexuell herausgebildet haben, hätten die Autor*innen bei Michel Foucault oder Thomas Laqueur nachschlagen können, aber Literatur abseits dreier Autoritäten (Freud, Marx, Adorno) kommt im Theoriekapitel allenfalls als Objekt polemischer Randbemerkungen vor. Interessant ist das trotzdem, weil hier die ideologiekritische Theorie, wie sie in den letzten 20 Jahren (z.B. in den Zeitschriften »Extrablatt« und »Maulwurfsarbeit« aus Bremen, beim ISF in Freiburg, teilweise auch bei der antideutschen Antifa in Thüringen) diskutiert wurde, hier auf das Thema Sexualität bezogen und systematisch durchargumentiert wird – inklusive der szeneeigenen Tendenz zur Vereindeutigung (siehe dazu auch den Beitrag zum Gegenform-Kongress in diesem Heft).
Wer sich stärker für den eigentlichen Gegenstand interessiert, kann das Theoriekapitel durchaus überspringen und gleich mit den folgenden historischen Kapiteln einsteigen. Hier wird zunächst die Geschichte verschiedener Vorläufer (im Frühsozialismus, der englischen Oberklasse und in US-amerikanischen religiösen Gemeinschaften) erzählt, bevor es dann um die Zeit der »ersten sexuellen Revolution« um das Jahr 1900 geht. Zu dieser Zeit kommt einiges zusammen: In der Arbeiter*innen-, der Frauen- und der beginnenden Schwulenbewegung wird über Sexualität diskutiert, dazu verbreitet sich Freuds Sexualtheorie, und in der Sowjetunion wird die Befreiung von christlicher und bürgerlicher Sexualmoral und Frauenunterdrückung für eine kurze Zeit sogar Staatsräson. In Deutschland wird die Verbindung von Triebtheorie und Kapitalismuskritik durch Wilhelm Reich sowohl diskutiert als auch eine daran orientierte politische Praxis erprobt – bis der Aufstieg des NS entsprechende Anstrengungen beendet. Als »zweite Sexuelle Revolution« wird anschließend die Zeit von 1945 bis 1977 besprochen: Die stetig voranschreitende Liberalisierung des Sexuellen (u.A. durch die Pille und die »Sexwelle« in den Medien) gerät nach und nach in Konflikt zur öffentlichen Hegemonie des christlichen Konservatismus, bis es dann irgendwann Mitte der 1960er knallt – und erst die Student*innebewegung, etwas später die Frauenbewegung die Sexualität öffentlichkeitswirksam politisieren kann. Das alles wird detailliert erzählt, was sich mitreißend liest, wenn man sich für die Geschichte emanzipatorischer Bewegungen interessiert.
Die Vermittlung mit dem theoretischen Rahmen gelingt nur bedingt – ich denke, weil der theoretische Ansatz schlichtweg zu kategorial funktioniert, um ihn nachvollziehbar zu konkreter Geschichte ins Verhältnis zu setzen, also anders gesagt: Folgt man dem Grundgedanken des Theoriekapitels, dann ist durch die gesellschaftliche Form (Kapitalismus bzw. Warengesellschaft) das konkrete gesellschaftliche Geschehen (vor allem das Denken der Menschen in dieser Gesellschaft) weitgehend vorherbestimmt – was Marx, Freud und Adorno erkannt und dargelegt haben. Die Theorie ist damit fertig, insofern ist es nicht nötig, sie zu aktuelleren gesellschaftlichen Entwicklungen ins Verhältnis zu setzen – und auch kaum möglich, weil die Autoren, die etwas relevantes beizutragen hätten, alle drei schon tot sind.
Insofern ist es nur folgerichtig, dass die historische Darstellung in den 1970er-Jahren endet. Im Fazit wird auf vier Seiten noch kurz erwähnt, dass Foucault irgendwie doch etwas sinnvolles zur Frage beizutragen hätte, die Lage aber seit den 1980er-Jahren verdammt kompliziert geworden ist, auch, weil neuen Emanzipationsbewegungen aus der Perspektive der Alten merkwürdige Dinge fordern. Dazu sage ich aus eigener Erfahrung: Stimmt! Und diese Irritation könnte dazu anspornen, sich die Theorien neuerer Bewegungen zu erschließen, wie es zum Beispiel Andrea Trumann im theorie.org-Bändchen zu feministischer Theorie getan hat. Dort wird die grundsätzliche Orientierung der Autorin an der Kritischen Theorie ganz offensichtlich, neuere Strömungen werden trotzdem ernst genommen und verständlich erklärt. Das geschieht hier nicht. Insofern ist das Buch am Ende ein Einführungs- und Orientierungsband zur Theorie der ideologiekritischen Linken der 2000er-Jahre am Beispiel der Kämpfe um Sexualität von der frühem Neuzeit bis 1970.
Anna-Myrte Palatini, Sebastian Bischoff: ‹Sexuelle Revolutionen›. Eine historisch-politische Einführung. 240 Seiten, 15€.
Beide erschienen im Rahmen der Reihe theorie.org beim Schmetterling-Verlag, wo ebenfalls das erwähnte Buch von Andrea Trumann (Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus) erschienen ist.