„Rassismus, Sexismus und Klassismus durchziehen Polizeipraxis und Behördenarbeit.“

Triggerwarnung: Dieser Text handelt auch von sexualisierter Gewalt.

Am 28.09.2019 sollen zwei Polizisten (23 und 29 Jahre) im Dienst eine Frau bei der Durchsuchung ihrer Wohnung gemeinschaftlich vergewaltigt haben. Der Prozess wird seit Mai 2020 vor dem Landgericht Erfurt verhandelt. Einige private Personen beobachten den Prozess kritisch und schildern einen Teil ihrer Beobachtungen und Eindrücke des Verfahrens. Der Fokus liegt auf Polizeigewalt – sexistischer und rassistischer Art, Rechtsverstöße und Korpsgeist. Die Zitate sollen beispielhaft beleuchten, welches Verhalten die Prozessbeobachtungsgruppe anklagt. Die hier geschilderten Eindrücke geben einen Einblick in das Prozessgeschehen – die vollständigen Berichte sind auf folgendem Blog nachzulesen: https://prozessbeobachtung280919.noblogs.org

Der Fall

Klaudia P. [Name geändert] und ihr Lebensgefährte geraten am 28. September 2019 in der Nähe von Gotha in eine Verkehrskontrolle. Es ist Maximilian O.s letzte Schicht vor Beginn seines Hochschulstudiums. Anlässlich seines Abschieds darf er entscheiden, welche Kolleg*innen ihn bei seinem letzten Arbeitstag begleiten dürfen: Gurjan J., der Beamte S. und der Beamte F.

Ihr eigentlicher Einsatzort ist eine Veranstaltung des III. Wegs in Kirchheim. Als man sie dort nicht mehr braucht, fahren sie zum Mittagessen nach Arnstadt. Klaudia P. und ihr Lebensgefährte seien ihnen dort bereits in einer Pizzeria aufgefallen, erklären die Beamten später bei der Vernehmung – erst als das Paar ihnen im Anschluss nochmals begegnet, halten sie die beiden in ihrem Auto an.

Da der Ausweis der gebürtigen Polin den Beamten gefälscht erscheint, fahren die vier Polizisten mit dem Paar zur Polizeiinspektion in Arnstadt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hätten die Beamten die Wohnung von Klaudia P. durchsuchen wollen, um einen Hinweis auf ihre Identität zu finden.

Während die Angeklagten mit Klaudia P. in die Wohnung gehen, bleibt ihr Lebensgefährte zusammen mit dem Beamten S. im Auto vor dem Haus. In der Wohnung sollen Maximilian O. und Gurjan J. die heute 33-Jährige nacheinander ungeschützt vaginal und oral vergewaltigt haben.

Klaudia P. erstattet am darauffolgenden Tag Anzeige. Sie tritt im Prozess als Nebenklägerin auf. Die Staatsanwaltschaft wirft Maximilian O. und Gurjan J. gemeinschaftlichen sexuellen Missbrauch einer behördlich Verwahrten, sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung und gemeinschaftliche Vergewaltigung im besonders schweren Fall vor. Die Beschuldigten geben zu, Geschlechtsverkehr mit Klaudia P. gehabt zu haben, sagen jedoch aus, dass dies einvernehmlich geschehen sei. Die Kriminalpolizei Suhl ermittelte.

Maximilian O. soll die Tat mit seinem Handy gefilmt, die Aufnahmen anschließend jedoch gelöscht und das Handy in einen Bach geworfen haben. Expert*innen wollen diese Dateien nun wiederherstellen.

Die beiden Beamten sitzen nun seit Oktober 2019 in Untersuchungshaft. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 15 Jahren Haft. Klaudia P. selbst ist indes nicht auffindbar. Zielfahnder*innen des Thüringer Landeskriminalamtes sollen sie aufspüren.

Ebenen der Polizeigewalt

Die Gewalt, die durch die Beamten Maximilian O. und Gurjan J. ganz offensichtlich, aber auch durch die Institution selbst ausgeübt wurde und während des gesamten Prozesses weiterhin ausgeübt wird, wirkt parallel auf verschiedenen Ebenen. So übernehmen die Angeklagten, aber auch Zeug*innen und Verteidigung Narrative, die diese Gewaltformen widerspiegeln.

Vermutete Rechtsverstöße durch die Polizei
So haben mehrere Polizeibeamt*innen im Umgang mit der in der Rechtssprache sogenannten Geschädigten und ihrem Lebensgefährten vermutlich mehrmals gegen geltendes Recht verstoßen.

Am Tattag [28.09.2019] wurde kein*e Dolmetscher*in auf die Polizeistation bestellt, obwohl P. und ihr Lebensgefährte wenig bis kein Deutsch sprachen, wie aus einigen Zeug*innenaussagen hervorgeht. Wieso wurde also erst am Morgen des 29.09., als Klaudia P. aus dem Gewahrsam entlassen werden sollte, ein Dolmetscher hinzugezogen und nicht bereits am Vortag, als sie vernommen, ihre Wohnung durchsucht und sie in Gewahrsam genommen wurde? Dieser bestätigte, dass P. überhaupt kein Deutsch gesprochen und verstanden habe.
Zudem hat die Beamtin L., welche die erkennungsdienstliche Behandlung bei Klaudia P. durchführte, keine Formblätter auf polnischer Sprache bereitgestellt, obwohl es diese in verschiedensten Sprachen gibt.
Der Beamte F., ein Kollege der beiden Angeklagten, hatte Klaudia P. zuvor am Mittag des 28.09. vernommen. Ihm sei nach eigenen Angaben nicht klar gewesen, dass sie ihn nicht verstehe, was die Frage aufwirft, wie er mit ihr kommuniziert haben muss, um nicht mindestens einen Zweifel an ihren Deutschkenntnissen zu hegen.

Klaudia P. und ihr Partner wurden am Abend des 28.09.2019 in Polizeigewahrsam gebracht und verbrachten die Nacht auf der Ilmenauer Polizeiwache. Eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität darf die Dauer von insgesamt zwölf Stunden jedoch nicht überschreiten (§ 163c (2) StPO). Nach Aussagen der Beamtin L. habe sich Klaudia P. am darauffolgenden Morgen zu Beginn ihrer Schicht immer noch in der Zelle befunden. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 12 Stunden vergangen.
Zudem ist unklar, ob Klaudia P. darüber informiert wurde, dass sie in Gewahrsam genommen werde und welche*r Beamt*in sie in die Zelle brachte. Feststeht, dass bei ihrer Ingewahrsamnahme am ersten Tag kein*e Übersetzer*in anwesend war.
Am Nachmittag des 29.09.2019 befand Klaudia P. sich immer noch in Polizeigewahrsam – in derselben Zelle, in der sie die Nacht verbrachte. Diesmal nun nicht mehr als Beschuldigte, sondern als Opfer [am Morgen hatte sie die Anzeige gegen Gurjan J. und Maximilian O. gestellt]. Kaum vorstellbar, dass es keinen anderen Raum in der Polizeidienststelle gab, in dem man sie hätte unterbringen können.

Am 29.09.2019 wird Klaudia P. nochmals vernommen als Zeugin im Ermittlungsverfahren gegen Maximilian O. und Gurjan J. Der Beamte W., Kriminalhauptkommissar der Kriminalpolizeiinspektion Suhl, der die Vernehmung führte, habe nach eigenen Angaben während der Vernehmung den Raum verlassen, um seinen Chef über den Zwischenstand der Befragung zu berichten und sich zu versichern, dass das alles stimme. Ein Kollege W.s habe die Vernehmung dann weitergeführt, was im Protokoll jedoch nicht dokumentiert wurde. Allem Anschein nach haben die Beamten sich mehr mit der Glaubwürdigkeit Klaudia P.s auseinandergesetzt als mit der korrekten Beweisaufnahme.

Diskriminierung durch die Polizei

I. Institutioneller rassistischer Antislawismus
Klaudia P. und ihr Lebensgefährte sind polnische Staatsangehörige. Sowohl während ihrer Vernehmung auf der Polizeiinspektion Arnstadt als auch später bei der erkennungsdienstlichen Behandlung in Ilmenau wurde ihnen kein*e Dolmetscher*in zur Verfügung gestellt. Hier stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, wer seine/ihre Perspektiven artikulieren darf und wer nicht? Wer ist es wert, angehört zu werden? Dies ist insbesondere von Bedeutung, da der Beamte F., der Klaudia P. in Arnstadt vernahm, eine Hausdurchsuchung bestimmt haben solle. Später gibt er an, ihm sei nicht klar gewesen, dass sie ihn nicht verstehe.

Im Verfahren geht die Verteidigung immer wieder auf die Deutschkenntnisse Klaudia P.s ein – mit der Begründung, man wolle feststellen, inwiefern es sich um „interkulturelle Missverständnisse“ gehandelt haben könne. Polizeiliches Fehlverhalten soll durch die Konstruktion von angeblichen „Missverständnissen“ umschifft werden.

Maximilian O. äußert bezüglich seiner Motivation, Klaudia P. und ihren Lebensgefährten einer Verkehrskontrolle zu unterziehen: „Wir dachten, das sei Klientel, dass man anhalten könnte“, gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte, woran er das festmache. Offensichtlich hat es sich dabei ein auf Stereotypen und äußeren Merkmalen basiertes Handeln (racial profiling) gehandelt.
Polizeibeamtin L. äußerte sich vor Gericht bezüglich des Wohnblockes, in dem Klaudia P. und ihr Partner wohnten. Es handele sich um einen Wohnkomplex, „der von EU-Bürgern und Möchtegern-EU-Bürgern, die sich falsche Dokumente besorgen und in Großfabriken arbeiten, genutzt wird.“

II. Sexistisches Verhalten
Während des Prozesses wird von Seiten der Angeklagten und der Verteidigung, aber auch der Zeug*innen sexualisierte Gewalt bagatellisiert und ein „Vergewaltigungsmythos“ heraufbeschworen, nachdem das Vergewaltigungsopfer freiwillig vom Täter übermannt werden wollte. Der Mythos entschuldigt die Täter und beschuldigt die Opfer (Täter-Opfer-Umkehr).
Gurjan J. erklärt, er habe den „Sex“ in Klaudia P.s Wohnung über sich ergehen lassen: „Ohne Worte fand das statt.“ Das sei alles „einvernehmlich geschehen“, formuliert er und bejaht die Frage, ob er in „irgendeiner Weise von Klaudia P. manipuliert worden sei“. Inwiefern kann es sich um „einvernehmlichen Sex“ gehandelt haben, wenn Gurjan J. – wie er aussagt – manipuliert worden sei? Die vermeintliche Einvernehmlichkeit mache er daran fest, dass es ihr gefallen und sie alles aktiv mitgemacht habe. Doch selbst wenn er von Klaudia P. „verführt“ worden sei, hätte er seine eigenen Grenzen kommunizieren müssen, zumal er sich im Dienst befand. Darüber hinaus kann es sich nicht um „einvernehmlichen Sex“ gehandelt haben, wenn Gurjan J. manipuliert worden sei.

Während J. sich selbst als Opfer inszeniert – „Ich war der gesamten Situation nicht gewachsen.“ –, unterstreicht sein Verteidiger, dass es auch sexualisiert übergriffiges Verhalten von Frauen auf Männer gebe.

Auch Maximilian O. argumentiert passend zur Aussage seines Kollegen, dass Klaudia P. sich ihm angenähert habe: „Ihr Körper und ihre Arme waren sehr nah an mir. Sie war sehr offen.“ Klaudia P. wurde kurz vor der Tat von Maximilian O. und Gurjan J. auf der Polizeiwache Arnstadt bezüglich der Urkundenfälschung vernommen. Ihrem Lebensgefährten habe sie kurz nach der Vernehmung erzählt, einer der Polizisten sei „scharf auf sie“ und sehr „aufdringlich“ gewesen, was ihr nicht gefallen habe.

Korpsgeist

Nach Bekanntwerden des Tatvorwurfs gegen Gurjan J. und Maximilian O. übernahm die Kriminalpolizei Suhl die Ermittlungen, Ermittler H. wird als Zeuge gehört. Die Verteidigung hatte zunächst erfolglos versucht, einen Vernehmungswiderspruch gegen H. einzulegen, da dieser ausschließlich belastend gegen die Angeklagten ermittelt hätte. Der leitende Ermittler H. erklärt, er habe den Eindruck gehabt, diese Diensteinheit [Gurjan J., Maximilian O., der Beamte S., der Beamte F.] sei ein „verschworener Haufen“ gewesen, in der sich ein „übersteigerter Korpsgeist“ abzeichne. Augenscheinlich sei „die Brisanz“ der Tat nicht erkannt worden, so H.

Zur Erinnerung: Maximilian O. durfte sich anlässlich seines letzten Arbeitstages vor Beginn seines Hochschulstudiums, seine Kollegen für diese Schicht selbst aussuchen. Den engsten Draht habe er zu Gurjan J., Beamten S. und Beamten F. gehabt, sodass diese ihn an diesem Tag begleiteten. Die enge Beziehung der Polizisten untereinander lässt Vermutungen hinsichtlich gegenseitiger emotionaler Unterstützung – auch im Rahmen der Ermittlungen und des Prozesses – zu.

So habe Maximilian O. am Tag nach der Tat eine Nachricht mit folgendem Inhalt an Gurjan J. gesendet: „Thx für die epischste und geilste Schicht, die man sich vorstellen kann.“

Nachdem Gurjan J. und Maximilian O. im Oktober 2019 in Untersuchungshaft genommen wurden, habe zudem ein Treffen mit verschiedenen Kollegen, darunter die Beamten S. und F., der beiden Angeklagten in Eisenach stattgefunden. Brisant daran ist auch, dass gegen F. interne Ermittlungen wegen des Verdachts liefen, dass er seine Kollegen vor ihrer Verhaftung gewarnt haben solle. Die Handys aller Beteiligten waren während des Treffens ausgeschaltet, wie die Ermittlungen der KriPo Suhl ergeben. Man habe „Paranoia“ bekommen, erklärt der Beamte S. daraufhin. Das Treffen habe stattgefunden, um sich untereinander „auszutauschen“, wie es einem nach Bekanntwerden des Tatvorwurfes ginge, so S. Nach diesem Treffen soll er an einen dort ebenfalls anwesenden Kollegen folgende WhatsApp-Nachricht gesendet: „Super, danke. Ich wünschte, ich hätte mehr tun können“.
Laut Ermittlungen der KriPo Suhl stand der Beamte S. zudem unter Verdacht, Maximilian O. kurz nach Bekanntwerden des Tatvorwurfes darüber informiert zu haben, dass das Handyvideo O.s ein wichtiges Beweismittel sei, woraufhin dieser die Videosequenzen löschte und sein Handy in einen Bach warf.


Nachtrag [Redaktion Lirabelle]: Am siebten Prozesstag, 13.7.2020, verkündet Richter Hampel das Urteil. Maximilian O., vertreten durch Rechtsanwalt Juri Goldstein, und Gurjan J., vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Fertig, sind des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§174b StGB) und der Vorteilsnahme (§331 StGB) schuldig. Der Tatvorwurf der Vergewaltigung sei nicht erfüllt. Beide werden zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, sie tragen die Verfahrenskosten und verlieren ihren Beamtenstatus. Revision ist eingelegt. Vor dem Gericht wird unter dem Motto „Das darf’s noch nicht gewesen sein! Gegen jede Form von Gewalt durch Polizei und Justiz“ protestiert.

Dieser Beitrag wurde in Bericht, Repression, Staat veröffentlicht und getaggt , , , , , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Sowohl Kommentare als auch Trackbacks sind geschlossen.