Am 20. Januar demonstrierten in Erfurt mehr als 10.000 Menschen gegen die bekannt gewordenen Deportationspläne von AfD und anderen (Proto-)Faschisten. Welche Rolle spielt eigentlich die radikale Linke bei der Neuauflage des Aufstands der Anständigen und was ändert der Aufstieg der AfD an der antifaschistischen Bündnispolitik der vergangenen Jahre? Von Ox Y. Moron.
Am 20. Januar demonstrierten in Erfurt mehrere tausend Menschen gegen Rechtsruck und faschistische Deportationspläne, die eine Recherche investigativer Journalisten zu Tage befördert hatte. Dabei ist es schwer, die Motivation der Demonstrierenden auf einen gemeinsamen Konsens zu verengen. Tatsächlich war von bürgerlichen Demokratieverteidigern mit vereinzelten Deutschlandfähnchen bis zu linksradikalen Gruppen alles vereint, was nicht dem Höcke-Sieg entgegenfiebert oder wem eben politische Entwicklungen ohnehin völlig gleichgültig sind. Es war die größte Demonstration in Erfurt seit dem Höcke-Kemmerich-Putsch 2020.
Es gab eine Zeit, da gab es noch sowas wie eine öffentlich einsehbare bzw. vorgetragene Selbstreflexion der Thüringer Linksradikalen auf ihre eigene Praxis. Davon nehme ich heute wenig wahr, was zugegebenermaßen auch daran liegen könnte, dass ich es nicht mitbekommen habe. Oder es keine Linksradikalen mehr im politischen Handgemenge gibt. In diesem Text schaue ich mir an, was die Veränderungen in der deutschen Gesellschaft für die praktische Ausrichtung der radikalen Linken im Hinblick auf Bündnispolitik zu bedeuten hat.
Seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist es in diesem Land Monat für Monat ungemütlicher geworden. Mit den Krisenerscheinungen (Flucht/ Migration, Corona, Krieg, Inflation) hat auch die Zahl der Anhänger rechter Krisenlösungen zugenommen. Gut sichtbar ist das an Wahlergebnissen und Umfragen der protofaschistischen AfD. Aktuell sieht die Partei in Thüringen einem sicheren Wahlsieg im September dieses Jahres entgegen. Umfragen sehen sie derzeit zwischen 31 und 36 Prozent und damit mehr als 10 Prozentpunkte vor CDU & Linke auf den Plätzen 2 und 3. Die aktuelle Minderheitsregierung ist weit vom Erlangen der Mehrheit entfernt und mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) betritt ein weiter Akteur das Spielfeld, der ehemalige Mitte-Links-Stimmen nach rechts bindet.
Vor dem Aufstieg der AfD
Anfang der 2010er-Jahre war an die «Alternative für Deutschland» (AfD) noch nicht zu denken. Die Wahlergebnisse von Parteien rechts von CDU/CSU lagen in Thüringen (und bundesweit sowieso) deutlich unter der 5%-Hürde. Damals traten Neonazis als relativ marginalisierte Splittergruppen auf. Demonstrationen und Festivals wie das «Fest der Völker» oder den «Thüringentag der nationalen Jugend» gab es zwar regelmäßig, aber diese Veranstaltungen hatten keinen Massencharakter (oder die Teilnehmer waren von sonstwo rangekarrt), vergleichbar mit den Aufmärschen von AfD, SÜGIDA, «Freies Thüringen» und Konsorten.
Was damals linksradikalen Gruppen mehr und mehr aufgestoßen ist, war die Inhaltsleere der eigenen Protestformate sowie ihre Integrierbarkeit in den Normalvollzug: Blockaden, die von bürgerlichen Politikern als «ziviler Ungehorsam» zur Verteidigung der Demokratie vereinnahmt und verniedlicht wurden. Sich einzureihen in die Anti-Nazi-Front und für ein besseres Deutschland zu demonstrieren, lehnten linksradikale Gruppen wie AGST, AG17, JAPS/Infoladen Jena und AAGTH mehr und mehr ab. Immer wieder kam es zu Eklats, beispielsweise als 2010 das gemeinsame Bündnis zur Mobilisierung nach Dresden am 13. Februar (Nazigroßaufmarsch) platzte oder als im selben Jahr antifaschistische Gruppen in Jena demonstrierten und, statt in Pößneck beim Demokratiefest das parallel stattfindende Nazifest zu beweinen, die bisherige Bündnispolitik aufkündigten. In einem dokumentierten Redebeitrag der Antifa Arnstadt zu dieser Demo heißt es:
«Die Nazis stehen nicht vor der Machtübernahme in Deutschland. Sie sind kleine marginalisierte Minderheiten, was deren Gefährdung für zahlreiche Menschengruppen nicht relativieren darf. Ja, Nazis morden auch heute, aber sie übernehmen in absehbarer Zeit nicht die Macht. Was von ihrer Ideologie nicht behauptet werden kann. Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Sexismus und andere Ideologien der Ungleichheit sind fest verankert in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie kommen genau dann zum Ausdruck, wenn kein Zivilgesellschafter und längst kein kulturindustriell zugerichteter Normaldeutscher aufschreit, wenn täglich Menschen in Hunger, Folter und Tod abgeschoben werden – abgeschoben aus Deutschland, wenn täglich tausende an den Folgen von Hunger sterben, weil der Kapitalismus die Ausnutzung der Ressourcen verweigert, wo es um die Abschaffung des Hungers geht, wenn Transferleistungsempfänger von Behörden drangsaliert werden, weil die Produktivität des System Arbeitsplätze überflüssig macht und die Arbeitspflicht trotzdem festschreibt.
[…] Wer meint, seinen Protest gegen Nazis, als Einsatz für ein besseres Deutschland zu erklären und nicht als die Abschaffung dieser Zwangseinrichtung, der hat all das nicht verstanden. Und wer das Aufklären und Bewusstmachen dieser Katastrophe zurückstellen will, weil er oder sie meint, es gelte erstmal schlimmeres zu verhindern, der oder die wird einsehen müssen, dass hier gegen Windmühlen angerannt wird. Bloße Anti-Nazi-Politik ist das Abarbeiten an Symptomen eines Problems, das Kapitalismus heißt und damit ist nicht lediglich die Wirtschaftsweise als solche gemeint, sondern die Ideologie, die sich ins gesellschaftliche Bewusstsein als «zweite Natur» eingebrannt hat.
Die Antifa muss Bündnisse aufkündigen, in denen ein gesellschaftskritischer Standpunkt nicht vertreten werden kann oder dort, wo er untergeht. Sie muss, anstatt sich an Nazi-Events abzuarbeiten, die radikale Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse vorantreiben, in der Hoffnung zur kritischen Bewusstseinsbildung vieler Einzelner beizutragen. Für Bündnispolitik heißt das, sich Bündnisse zu suchen, in denen die Mitglieder auf inhaltliche Kritik nicht narzistisch gekränkt reagieren, sondern sie als Chance zur Reflexion des eigenen Standpunktes wahrnehmen.»
Schon damals hat die Antifa gewarnt vor rassistischem Massenbewusstsein und vor weit verbreiteten sozialen Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft, die die kritische Theorie als «autoritäre Charaktere» beschrieb: autoritäres Denken, Konformität, Ablehnung von Fremden, Verachtung von abweichenden Lebensentwürfen, Offenheit für strukturell antisemitische Verklärung der Wirklichkeit. Allerdings fehlte dieser rechten Massenbasis das politische Angebot, hinter das sich die Leute stellen konnten. Einerseits war diesen Leuten die NPD zu schmuddelig; anderseits waren sie vielleicht auch einfach zu feige, Farbe zu bekennen. Ihnen fehlte schlicht das Ventil und die Führer. Das ist vorbei. Während also die Staatsantifa und die von ihr beratene Zivilgesellschaft gegen die NPD mobil machte und Lucke, Petry und andere AfD-Vorkämpfer mehr oder minder gewähren ließ, betonte die linksradikale Antifa die Gefahr, die von den demokratisch gewandeten (Proto-)Faschisten ausging.
Die deutsche FPÖ ist da
Mehr als 10 Jahre später haben sich die Vorzeichen geändert. Aus dem diagnostizierten rassistischen Massenbewusstsein ohne Ventil, ist eine protofaschistische Massenbewegung mit eigenem parlamentarischem Arm geworden. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist von rechten, eurokritischen Professoren etabliert worden und hat sich immer weiter zu einer rassistischen, sozialchauvinistischen und nationalistischen Kraft radikalisiert. Was sie von den Nazi-Parteien der 2000er und 2010er-Jahre unterscheidet, ist nicht ihre Programmatik, sondern, dass das Schmuddelimage von NPD & DVU durch Bernd Lucke, Joachim Starbatty, Konrad Adam und andere rechte Protagonisten des Wissenschaftsbetriebes kurzzeitig ferngehalten werden konnte und nachdem der Knoten geplatzt und die Partei etabliert war, es heute niemanden mehr interessiert, dass der Nazidreck überall offen zu Tage tritt.
Dass dieser Prozess einer voll von Enthemmungen und autoritärer Triebunterdrückung war und ist, wird sichtbar an einem der Narrative (Gruß an Karl Meyerbeer) dieser Zeit: «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.» Oder alternativ: «Das darf man ja nicht mehr sagen.» Mit vermeintlichen, in Wahrheit nie dagewesenen, Sprechverboten ging man in die Täter-Opfer-Umkehr. Der Protofaschist gefällt sich als vermeintlich von woken Sprachpolitikerinnen unterdrückter (konformistischer) Rebell, der sich seine überlieferten deutschen Werte nicht ausreden lässt – egal, ob es um die Bezeichnung von Paprika-Schnitzeln und schwarzen Menschen geht oder um die Tradition, sich Ausländern, Linken und anderen Untermenschen mit Gewalt zu entledigen.
Was also die Mitte-Studien aus Leipzig oder die Heitmeyer-Studien aus Bielefeld immer wieder empirisch nachgewiesen haben, nämlich dass es im postfaschistischen Deutschland ein enormes Potential für (Proto-)Faschisten gibt, hat sich in der AfD zur Partei materialisiert und bewahrheitet. Sie ist die parlamentarische Kraft der konformistischen Rebellen und Rassisten, die rechts von CDU/CSU 70 Jahre nach Kriegsende endlich wieder eine politische Heimat fanden. Ein Prozess der in anderen europäischen Ländern wie Frankreich (Front National), Italien (Lega Nord) oder Österreich (FPÖ) bereits weiter fortgeschritten ist.
Jahrelang konnte man sich die hohen Umfragewerte für die Linkspartei im Osten nur umständlich erklären. Warum wählen Protofaschisten eine linke Partei? Heute wissen wir: Sie hatten keine Alternative, um die Ablehnung der westlichen Demokratie an die Wahlurne zu bringen.
Demokratieverteidigung statt radikaler Kritik der Verhältnisse?
Was heißt das heute für die radikale Linke? Rechthaberisch auf die Schulter klopfen? «Wir haben es euch ja gesag»“? Nase rümpfend daneben stellen, wenn wie am Wochenende des 20./ 21. Januar bundesweit hunderttausende auf die Straße gehen, weil nach Recherchen von Journalistinnen und Journalisten der Plattform Correctiv auch dem letzten Nachtwächter aufgefallen ist, dass Faschisten Faschistendinge wie Deportationen planen? Oder kleinlaut mitmachen und für ein Deutschland ohne Nazis protestieren? Wohl wissend wie naiv das ist?
Aus der jetzigen Situation gäbe es eine ganze Reihe von praktischen Schlussfolgerungen. Hier eine Auswahl:
- Einen klaren Kopf bewahren. Bei allen Parallelen zur Situation Anfang der 1930er-Jahre. Die AfD ist kein Wiedergänger der NSDAP. Die politischen Verhältnisse sind noch wesentlich stabiler als vor knapp 100 Jahren. Und wer die vorhandene Demokratie als das kleinere Übel zur Verteidigung ausruft, vergisst bitte nicht, dass es eben die gegenwärtige Verfallsform kapitalistischer Vergesellschaftung ist, die die Kräfte zur ihrer falschen Abschaffung hervorbringt.
- Die eigenen Strukturen auf eine offene Regierungsbeteiligung der AfD vorbereiten. Warum offen? Insgeheim regiert die AfD längst mit, weil Politik und Verwaltung im Entgegenkommen zu den Forderungen der AfD versuchen, ihr zu entkommen. Selbstmord aus Angst vor dem Tod gewissermaßen. Aber all das ist noch nichts gegen die Möglichkeiten, die die AfD hat, wenn sie offen mitregiert. Das heißt Strukturen, die sich mitunter durch Staatsknete finanzieren, breiter aufstellen und absichern. Kulturprojekte auf Gegenwind aus der Verwaltung vorbereiten. Etc. pp.
- Antifaschistische Kräfte und Betroffene rassistischer Gewalt stärken – personell und materiell. Wer noch Ressourcen hat und noch kein Dauerspender beim lokalen Zeckentreff ist, worauf wartet ihr? Wer noch Ressourcen hat und kein Dauerspender bei Projekten der Flüchtlingshilfe ist, worauf wartet ihr? Dort, wo helfende Hände gebraucht werden, anfassen. Es gibt unzählige Mittel und Wege.
- Haltung zeigen. Egal, ob im Betrieb, in der Bahn, an der Supermarktkasse, am Familientisch, auf der Straße, im Internet. Die Wähler der AfD haben sich in den Blasen der Sozialen Hetzwerke (Instagram, Twitter, Tiktok & Co.) eingerichtet und bekommen täglich das eingespielt, was sie gerne lesen und sehen wollen, um sich gegen Vernunft abzudichten. Oft haben diese Leute eine selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit entwickelt, in der jeder Misston nur eine Fackel der «Lügenpresse» sein kann. Diese Leute wird man nicht überzeugen, aber man kann sie in ihre Schranken weisen, ihnen Grenzen setzen.
- Intervention in breite Bündnisse (wo es sie gibt), ohne eigene Positionen aufzugeben. Auch wenn das bedeutet, dass, angesichts der Marginalität der radikalen Linken, mehr als die Verteidigung des Status quo nicht drin ist und dass man von einer Massendemo aufgesogen wird, die hinterher Vereinnahmungsversuche von Markus Söder, Friedrich Merz und anderen Arschlöchern über sich ergehen lassen muss. Immerhin: Auf der Demo am 20. Januar gab es so kräftige Kritik an der Abschiebepolitik der Ampel-Regierung, dass es sogar dem bratzigen Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD) zu ungemütlich wurde. Per Twitter verkündete er, dass die Demo zwar nett war, aber man doch bitte nicht gegen die SPD rumspalten sollte, schließlich geht es gegen die AfD. OB Bausewein (auch SPD) hielt es nur rund 200m auf der Demo aus und scherte dann aus. Es gibt also Hoffnung.
Die Erkenntnis von Fritz Bauer im Rahmen der Ermittlungen zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, wonach die Zivilisation in diesem Land nur eine sehr dünne Decke ist, die schnell wieder abblättert, dürfte an Aktualität nichts verloren haben. Ebenso wie eine praktische Weisheit Bauers, die auch gilt, wenn der Kommunismus nicht mehr auf dem Programm steht: «Wir können aus der Erde keinen Himmel machen. Aber jeder von uns kann etwas tun, dass sie nicht zur Hölle wird.»