Lukas rezensiert die Kunstzeitschrift „Haar und Fusz“ (Weimar 02/2013)
Ich habe sie lange nicht verstanden. Ich habe mich aber lange darum bemüht. Heute versteh‘ ich sie.
Alberto Vasallo di Torregrossa
Ich habe mir eben die zweite Ausgabe der Weimarer Kunstzeitschrift „Haar&Fusz“ durchgelesen, lege das Heft beiseite und bin ratlos. Zu Beginn wurde ich in einem Gedicht instruiert, dass im weiteren Verlauf alles eine Frage der Perspektive, also „Einstellungssache“ sei: „Wenn du dich aufregen willst, reg dich auf! Wenn du nachdenken willst, denk nach! Wenn du das schöne sehen willst, dann freu dich!“ Das Heft hat mir nicht gefallen, ob ich wollte oder nicht, wenn es mich zum Nachdenken gebracht hat, dann über das Elend heutiger Kunststudenten (oder kommen noch andere auf die Idee, so etwas zu produzieren?), bloß aufregen will ich mich nicht, denn ich will mir nicht auch noch meine Wut von solchen Leuten zugestehen lassen. Auf der letzten Seite des Heftes liest man folgendes Statement: „Mit dem Inhalt dieser Angelegenheit wollen wir niemanden, nichts, gar niemanden verletzen, Menschenwürde nehmen oder gar politische Motivation darstellen. Mit Pornographie und, oder Sexismus haben wir auch nichts zu tun. Kunst ist frei und soll es auch…“, und auf der Rückseite sticht eine Zeile unter den anderen heraus: „Ich übernehme keine Verantwortung, ich bin nur ein Medium.“ Aus solchen Statements spricht, dass das, was hier für 2 Euro („Eulen, Euronen, Tacken, usw.“) als Kunst verkauft wird, nicht für sich selber steht, nicht aus sich heraus gelesen werden soll, sondern kommentiert werden muss – man will niemanden verletzen, keine Grenze übertreten und sich im Vorhinein darüber versichern, dass auch ja keine derartige Wirkung einsetzt. Doch hinter dieser Kunst, die von ihren Produzenten derart kommentiert werden muss, eine Motivation oder gar ein Konzept entdecken zu wollen, läuft ins Leere – denn es gibt offensichtlich nichts (vor allem keine politische Motivation oder gar etwas, für das die Autoren Verantwortung übernehmen würden), das sich darin greifen ließe. Dabei wird nicht einmal eine Erwartung enttäuscht, die mich als Rezipient etwa auf eine falsche Fährte locken würde, mich aufs Glatteis führt und mich dann enttäuscht, um mich eines Besseren zu belehren – denn es wird mir schon vorher gesagt, dass es um nichts geht, das Geltung beanspruchen will, dass alles eine Frage der Perspektive sei, bzw. dessen, was ich wollen würde. Das ist für mich ein Problem, beispielsweise wenn mir einige inhaltliche Aspekte des Heftes aufstoßen, ich sie zum Kotzen finde. Denn es gibt keine Möglichkeit der Kritik daran – die Kritik eines Objekts ist nur möglich, wenn es dem Kritiker einen gewissen Grad an Widerstand entgegenbringt. Jeglicher Widerstand, jede materielle oder ideelle Eigenständigkeit ist im vorliegenden Fall – wir wollen ja nicht, reg‘ dich gern auf – im Vorhinein ausgehebelt. Versuche ich dennoch eine Kritik (auf welche Weise auch immer) zu formulieren, besteht die Gefahr, das Objekt ernster zu nehmen, als es sich selbst nimmt und sich dadurch lächerlich zu machen – die Lächerlichkeit des Objekts fällt auf den Kritiker zurück. Bleibt die Polemik, die den Apfel nicht kostet, sondern ihn zertritt, die das Objekt nicht retten, sondern es zerstören will. Also Gegenangriff: die Autoren (die nicht über die infantile Begeisterung an Pimmeln und Muschis hinweggekommen sind, aber darin so unfrei sind, dass sie noch drunter schreiben müssen, dass es kein Porno, sondern Kunst ist) selbst lächerlich machen. Doch auch dieser Angriff läuft ins Leere, denn die Lächerlichkeit ist zum Programm erhoben, während jegliches Programm verleugnet wird – eine Provokation, die jede mögliche Reaktion vorweg nimmt, also nicht mal Provokation sein will. Überhaupt nichts wird gewollt. Also erzähle ich eine Geschichte.
Ich wollte etwas. Nämlich einen neuen Wäscheständer, mein alter ist kaputt gegangen. Also spazierte ich am ersten sonnigen Tag dieses Jahres zum Hababusch-Hostel in Weimar, wo ein Flohmarkt stattfinden sollte. Gemütlich schlenderte ich durch einen der Räume, in dem vor allem gebrauchte Klamotten angeboten wurden, bis mich in der hinteren Ecke ein fast ungebrauchter, wunderbar weißer Wäscheständer anstrahlte. Leise pirschte ich mich mit Jagdinstinkt heran und ganz versunken beäugte ich das schöne Teil, es lachte mich an und ich sah es schon, wie es mit meinen schönsten, frisch gewaschenen Kleidern im Badezimmer steht und leise die sanfte Frühlingsbrise durch das offene Fenster über Zwirn und Sammet weht. „Willst du mal hineinschauen?“, diese Worte wecken mich aus den süßen Träumen und ich schaue in ein hornbebrilltes Gesicht mit lässigem Seitenscheitel, das auf den Wäscheständer zeigt. Ich bin verwirrt und verstehe nicht was hier Phase ist – wie soll das gemeint sein, wie soll man in einen Wäscheständer hineinschauen, er hat Beine und Stangen? „Wir arbeiten nur analog“ sagt das Gesicht und ich vollziehe den Blick des Kunststudenten nach und entdecke nun, was ich in meinen Träumen von der Freundschaft mit dem neuen Wäscheständer völlig übersehen haben musste: er liegt voll mit kleinen, offensichtlich selbst gedruckten Zeitschriften im A4-Format. „Ach, das ist eine Zeitschrift…“ frage ich unsicher und nehme schüchtern ein Exemplar in die Hand. Auf einmal fühle ich mich vom ganzen Raum beobachtet, so als wäre ich der einzige hier, der nicht wüsste, worum es geht und nun sind alle gespannt, wie ich auf das reagiere, was sich hinter dem Fuß verbirgt, der aus einer konkav zerklüfteten und scheinbar unfassliche Tiefen verbergenden Vagina strampelt. Ich versuche mich hinter der Zeitung zu verstecken und sehe krakelige Kinderzeichnungen, die mit Schnipseln aus Illustrierten ergänzt sind und mit Schrift hinterlegt sind, die nicht gelesen werden will, weil sie nur aus Großbuchstaben besteht und knallrot ins Auge sticht. Ich sehe, wie im Heft einmal mehr eine Frau zur blutenden, klaffenden Wunde gemacht wird (keine Ahnung ob als Fremd- oder Selbstzuschreibung), aus der rote Tropfen in ein rotes Meer fallen, ich sehe einen wütenden Japaner, aus dessen Kopf seltsame Rauchschwaden ziehen, bleibe an einer Zeile von Hakenkreuzen hängen, die sich jeweils mit kleinen Herzen abwechseln und lese, während die Leute in Griechenland von Deutsch-Europa durch den nächsten Sparkurs gehetzt werden, nachdem die Forderung nach Entschädigungszahlungen für von der SS und der Wehrmacht niedergemetzelte griechische Dörfer abgelehnt wurde, während dies (nicht im Heft, sondern in der Wirklichkeit) geschieht, lese ich also von einem Künstler, der gerne Hakenkreuze malt, weil jedes Hakenkreuz in einem liebevollen oder humorvollen Kontext das deutsche Gewissen erleichtern soll, lese den Kommentar eines Freundes dieses Künstlers, der voll subjektiv auf den Anblick eines Hakenkreuzes reagiert und auch nicht weiß, wer diesen bösen Geist des Hakenkreuzes gerufen hat, ich sehe noch mehr Hakenkreuze, halbe Kühe, halbe Frauen, doppelte Pimmel, zwei Textblöcke, die das World Trade Center darstellen und wo ein Krikel-Krakel Flugzeug reinfliegt, ich sehe Ludwig Erhard, eine qualmende Schreibmaschine, immer mehrKrikel-Krakel und dazwischen immer wieder Textfetzen, die ich, aus welchem Grund auch immer, nicht verstehe. Ich bekomme Angst. Alle um mich herum verstehen. Ich bin der einzige, der nicht versteht. Was will der von mir? Ich bekomme Angst. Wie komme ich raus aus dieser Affäre? Ich glaube, die lassen mich hier nicht ohne weiteres wieder gehen, mir bleibt nichts anderes übrig, ich drücke dem Gesicht 2 Euro in die Hand, gehe langsamen Schrittes Richtung Tür und renne nach Hause. Erst, als ich die Tür hinter mir zugeknallt habe, merke ich, dass ich das Magazin tatsächlich noch in der Hand habe. Ich wollte etwas. Ich wollte einen Wäscheständer. Ich habe keinen Wäscheständer bekommen, aber ein Magazin, das mir Angst gemacht hat. So ein Scheiß. Ich habe mich voll zum Ei gemacht. Das ist alles harmlos. Zu was sind diese Studenten eigentlich nütze? Für was haben ihre Eltern die auf eine Kunst Uni geschickt? Fuck them. Kunststudenten in die Produktion1!
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1 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es war das Bauhaus, das sich darum bemühte, in der künstlerischen Produktion einen Standard für eine gesamtgesellschaftliche Produktion zu erreichen.