Ox Y. Moron weist Peter Gisperts Versuch, die Theorie im wattierten Verkehr abzuschaffen, zurück.
In der vergangenen ersten Ausgabe dieser Zeitschrift gab sich Peter Gispert als einer von drei Desperados die Ehre, gegen zwei Texte bzw. die Ansätze von Eva Felidae und der Antifa Arnstadt-Ilmenau zum Verhältnis von Theorie und Praxis zu opponieren. Kurz gesagt, argumentierten Felidae und die Antifa Arnstadt-Ilmenau für eine theoretisch reflektierte Praxis, die in einer total vergesellschafteten Gesellschaft den Verblendungszusammenhang, der sich vor die wirklichen Verhältnisse geschoben hat, durch kategoriale Kritik durchdringt, um diese Gesellschaft zunächst überhaupt als im Wesen veränderbar begreifbar zu machen. Wer etwas abschaffen, aufheben oder verändern will, tut nämlich gut daran, zunächst zu verstehen, womit er es zu tun hat. Angesichts verhärteter und unbewusster Verhältnisse genügt dafür nicht die gut gemeinte Information, sondern es bedarf der die unbewussten Vergesellschaftungsformen durchdringenden Reflexion, es bedarf der Brüche im gesellschaftlich-hergestellten Selbstverhältnis der Einzelnen, der Einsicht, dass die Gewalt, die von den Verhältnissen ausgeht, eine gesellschaftlich-notwendige Gewalt ist.
Gispert versperrt sich dieser Einsicht, weil er meint, sie ohnehin schon zu kennen. Und so legt er los, indem er Fetzen aus dem Marx’schen Werk so zusammen dichtet, dass seine zum Teil unbegründeten bis widersprüchlichen Behauptungen Sinn ergeben. Ziel dieser Flickendecke aus Marx-Zitaten ist die Suggestion, bei Marx finde sich ein Primat der Praxis, das er aus der Theorie ableite. Auf den Gedanken, dass das aus der Marx’schen Theorie destillierte Verhältnis zur „einreißenden Praxis“ nach der Praxis der Nationalsozialisten, die nicht nur Millionen Menschen in den Tod, sondern auch die Idee der Menschheit1 einrissen, ein anderes sein müsste, kommt Gispert nicht. Vorwärts immer, rückwärts nimmer – das, war für die Herrschenden im DDR-Staatskapitalismus noch Ideologie zur Anstiftung der Massen, für den Bewegungslinken Gispert ist es der Glaube an die Allmacht der Rationalität2, der so zeitlos zur Ideologie des Kapitalismus gehört, wie er angesichts der Geschichte sich als geschichtslos blamiert hat. Nach Auschwitz möchte der Bewegungslinke Gispert am liebsten bei Marx‘ elfter Feuerbachthese weitermachen, wonach es, nach der Interpretation der Welt, darauf ankomme, diese endlich zu verändern. So sieht das also aus, wenn Linke einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen und es spricht Bände über das Verhältnis dieser Linken zum Nationalsozialismus, über den etwa von Moishe Postone schon in den 80er und 90er Jahren kritisierten Wunsch dieser Linken nach Normalisierung.3
Glaubensfragen
Anstoß seiner Kritik ist zunächst ein Gedanke aus dem Text von Eva Felidae, die die kollektive Erkenntnis – und damit meint Felidae nicht weniger als die Aufklärung jedes Einzelnen über die sich hinter den Rücken der Menschen verselbständigten Formen der Vergesellschaftung – zur Voraussetzung von aufhebender Praxis erklärt. Die Frage nach dem „Was tun?“ wird obsolet in dem Sinne, dass die Gesellschaft, die das in ihr schlummernde Unwesen erkannt hat, von jener Erkenntnis selbst zur Praxis getrieben wird, dass sie emphatisch gesprochen zur Wahrheit über ihren eigenen Begriff schreitet, aufhebt, was Quelle endlosen Leidens ist. Nun kann man der Genossin sicher vorwerfen, dass dieses Verständnis von Praxis etwas einfach gedacht ist, dass auch nach der kollektiven Erkenntnis des gesellschaftlichen Unwesens die Organisation einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu regeln ist, dass die Genossin – aus gutem Grund – also die Frage der aufhebenden Praxis zunächst umgeht; ihr vorzurechnen, sie mache aus Praxis ein bloßes Gedankending, ist falsch. Eva Felidae beschreibt die Erkenntnis des Unwesens als die notwendige, nicht aber als hinreichende, Bedingung seiner Aufhebung. Insofern steht sie vor der Ohnmacht, die Frage nach der aufhebenden Praxis – die Frage nach richtiger Praxis4 ist beantwortet: Aufklärung über unverstandene Verhältnisse – nicht beantworten zu können, weil sie über die Hindernisse, die solch revolutionärer Praxis im Weg stehen, weiß.
Dass Peter Gispert den Widerspruch bzw. die Situation der Ohnmacht, die Eva Felidae zu Papier bringt, nicht verstanden hat, wird deutlich, wenn er schreibt: „Um Kapitalismus abzuschaffen genügt es nicht, wenn wir alle ganz fest daran glauben, dass wir uns selbst nur Gewalt antun.“ Der Glaube – und offensichtlich meint Gispert, es ginge in (anti-)politischen Auseinandersetzungen um Glaubensfragen – Felidae wie der Antifa Arnstadt-Ilmenau ginge es darum, Menschen von der Wahrscheinlichkeit zu überzeugen, dass ihre Position die richtige ist, blamiert Gisperts Ansatz und macht die Auseinandersetzung schwer. Wenn wir nämlich nur noch über Meinungen und Glauben reden und jeder sich notfalls auf seine unumstößlich-persönliche herauszureden meint, können wir die Sache lassen. Weder Eva Felidae noch der Antifa Arnstadt-Ilmenau geht es darum, die Menschen etwas glauben zu machen, ihnen die Wahrheit anzupreisen oder aufzuschwatzen, denn: „Durch den Umstand, daß die Menschen sich zur Einsicht erst überreden lassen mußten, wäre die Wahrheit für immer vergiftet.“ (Pohrt) Es geht vielmehr darum, Aufklärung im besten Sinne zu betreiben, den Menschen die Wahrheit über die Gesellschaft und ihre Gewalt mit Evidenz begreifbar zu machen. Solche Aufklärung ist keine von den Aufklärern ans Volk verordnete, keine Belehrung über dies und das, keine Agitation und Propaganda, sondern solche Aufklärung ist gedacht als Erkenntnis der Gesellschaft, der man selbst angehört und schon deshalb zuerst als Selbsterkenntnis. Im aufklärerischen Prozess soll das Individuum sich selbst, seiner Präformierung durch die objektiven Verhältnisse, bewusst werden. Dieser Bewusstwerdung geht ein Bruch im Selbstverhältnis der Einzelnen voran, der den Kitt von Ideologie, der zwischen den Subjekten und ihrer Selbsterkenntnis steht, lockert und zu dem die Antifa Arnstadt-Ilmenau und Eva Felidae beitragen wollen. Und: Solche Aufklärung bringt das Bedürfnis nach der Veränderung des Selbst und der Gesellschaft mit sich und widerlegt die unwahre Behauptung Gisperts, wonach Theorie bzw. theoretische Erkenntnis „niemals [Praxis] sein kann.“
Dass Gispert aber lieber glauben als begreifen will, wird auch am Fortgang der Argumentation sichtbar. Die Brüche im Selbstverhältnis, zu denen radikale Aufklärung, wie sie die inkriminierten Texte einfordern, beitragen will, missversteht Gispert als Ärger der Leute beim Arbeitsamt. Er setzt die Unzufriedenheit der Einzelnen mit bestimmten Dingen mit der fundamentalen Erkenntnis von gesellschaftlich-notwendigen Selbstwidersprüchen in eins. Sicher kann erstere zu letzterer werden, sie ist es aber nicht a priori. Dass Menschen beim Arbeitsamt und anderswo schikaniert werden, führt noch lange nicht dazu, dass sie dafür die objektiven Verhältnisse und ihre Verstrickung darin verantwortlich machen, dass sie den menschenfeindlichen Charakter der Ordnung erkennen, ihr Unwesen begreifen. Viel näher liegt dem Einzelnen, die Schuld beim Ausländer oder bei der falschen Politik zu suchen. Die Lösung – und die Praxis im Sinne von Gispert – ist dann im besten Fall, dass die Betroffenen beim nächsten mal (wieder) die Linkspartei wählen und/oder mehr Stütze fordern. Eva Felidae und der Antifa Arnstadt-Ilmenau geht es dann nicht darum, die Forderung nach mehr Stütze abzubügeln, sondern sie als das einzuordnen, was sie ist, eine immanente Anforderung an den Moloch, der für Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung, usw. verantwortlich ist. Bei solch naheliegenden und vielleicht deswegen reformistischen Forderungen schon von einem Bruch im Selbstverhältnis zu sprechen, wie ihn etwa die Antifa Arnstadt-Ilmenau beschreibt und wie Eva Felidae ihn impliziert, ist absurd. Weil hierüber krasses Unverständnis bei Gispert herrscht, kann er die Position von Eva Felidae und der Antifa Arnstadt-Ilmenau nur als böses, abgrenzendes Verhalten von jenen verstehen, die sich doch für ein besseres Leben einsetzen. Eben weil Gispert nicht versteht, dass die Form der Vergesellschaftung über die Kämpfenden hinweggeht, sich reproduziert, wenn sie unverstanden bleibt, muss er seinen Diskussionspartnern Distinktion und eine „Strategie der Ohnmacht“ vorwerfen, muss er denen, die auf sie reflektieren, vorwerfen, sie würden die Ohnmacht propagieren. Und weil diese Abwehr in putativer Weise geschieht, garniert er sie mit einem Ordnungsruf gegen die polemisch auftretende Theorie. Polemik begreift Gispert nur als Mittel der Abgrenzung, die Identität und Sicherheit gewährleisten soll, aber das Gegenüber nicht mehr erreicht – statt zu begreifen, dass nur in der Zuspitzung die Wahrheit über den Gegenstand vor Meinungsbildung und Glaubensfragen zu retten ist.
Umgangsformen
Dabei kann man am heutigen Zustand der Linken ablesen, wohin einen die Nettigkeiten gebracht haben. Diese Linke befindet sich nämlich in einem erbärmlichen Zustand, was ihr theoretisches Niveau angeht. Die größten Teile dieser Linken sind Reformisten, also Kapitalismusverbesserer – ob sie nun darum wissen (SPD) oder nicht (Jusos, Linkspartei und Anhang) – und die Splittergruppen, die nach wie vor an seiner Abschaffung festhalten wollen, gleichen einem Sektenwesen, bei dem Theoriebildung durch Glaubensbekenntnisse ersetzt worden ist. Dazu kommt eine akademisierte Linke, die durch postmodernes Diskursgesülze regelrecht verblödet ist. Was in dieser Linken eine Randerscheinung ist, sind Gruppen und Personen, die klare, theoretisch begründete Positionen offensiv vertreten und sich nicht in jeder ihrer Äußerungen für die Relativität ihres Denkens entschuldigen müssen, weil sie den Anspruch auf Wahrheit, wie die Postmodernen, für ein ideologisches Relikt oder postmodern formuliert: Konstrukt des Sowjetmarxismus halten.
Die „wattierten“ Umgangsformen in dieser Linken – das hat Wolfgang Pohrt einmal beschrieben – lassen auf linken Gruppen- und Bündnistreffen eine Atmosphäre wie im Altersheim entstehen. Im wattierten Verkehr soll jeder seine Meinung, seinen Glauben, seinen Wahn äußern dürfen, ohne dafür kritisiert zu werden und – das ist die Kehrseite – ohne dafür ernst genommen zu werden: „Wer Unsinn redet, erfährt nicht durch Kritik, daß er auch anders könnte und sich gefälligst anzustrengen hat. Statt dessen gibt ihm die herzlose Toleranz der Genossen zu verstehen, daß er sich als Sozialfall zu betrachten hat, von dem man gar nichts anderes erwartet.“ Etwas nicht zu wissen oder nicht zu verstehen, ist keine Schande, schändlich ist sich dieses Defizit zum Wesensmerkmal des Einzelnen zu rechtfertigen und so zu tun, als ob Leute, die dumme Sachen sagen und tun, dafür schon ihre subjektiven Gründe haben und dafür nicht kritisiert gehören.
Die Polemik ist ein Mittel, das solchen Umgangsformen ein Ende macht und zum Streit fordert. Sie zielt nicht auf das streitende Subjekt und ist deswegen kein „Runtermachen“, sondern sie zielt auf den streitbaren Gegenstand. Insofern ist Polemik abzugrenzen etwa von Formen der ordinären Publikumsbeschimpfung, wie sie etwa die Antifa Task Force Jena – und wie ich das sehe, an dieser Stelle völlig richtig – bei einem Bratwurstfest gegen Rechts in Kahla betrieben hat5. Polemik hat ihre Stärke darin, dass sie dem Meinungsrodeo der pseudopluralistischen deutschen Öffentlichkeit eine Absage erteilt und darin, dass sie Verhärtungen der gesellschaftlichen Verblendung aufbricht. Dass sie dabei hin und wieder „unredlich“ vorgeht, wie linke Spießer unken, weil sie nicht überall das Für und Wider abwägt, sondern Streit provoziert in dem Wissen, dass sich gerade darin nachhaltiger Erkenntnisse gewinnen lassen, als im lauen Werben um Zustimmung – geschenkt.
Der Ordnungsruf von Peter Gispert ist also sowohl in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht – sofern man das trennen mag – zurückzuweisen. Die sich der eigenen Ohnmacht bewusst machende, polemisch zuspitzende Kritik und damit Praxis gegen unbewusste und verhärtete Vergesellschaftungsformen mag den durchschlagenden Erfolg vermissen lassen. Sie ist gegen jeden Angriff, sie gegen pragmatisches Mitmachen einzutauschen, zu verteidigen.
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1 Das meint die Idee eines solidarischen Miteinanders einer die Differenzierung nach Hautfarben, sexuellen Vorlieben, etc. zurückweisenden Menschheit, den über den Globus sich erstreckenden Verein freier Menschen, der die Verhältnisse von Staat und Kapital mit diesen ebenso wie ihre ideologischen Reflexionsformen aufgehoben hat.
2 Bezeichnend für solchen geschichtslosen Fortschrittsglauben ist, dass Leute wie Gispert überall „Radikalisierungsprozesse“ sehen, fördern und sich durch „kleine Schritte“ dem Ziel nähern wollen. Warum die „Radikalisierer“ seit Jahrzehnten bestenfalls auf der Stelle treten bzw. jeden gesellschaftlichen Fortschritt, den das Kapitalverhältnis mit sich bringt (z.B. die Eingliederung der Frauen in den Arbeitsprozess und die damit einhergehende rechtliche Gleichstellung) als Sieg der „Bewegung“ feiern, hinterfragen die wenigsten.
3 Für die begründete Zurückweisung dieses Bedürfnisses der deutschen Linken, eine normale Opposition in einem normalen Land zu sein, die nicht nur Peter Gispert durchblicken lässt, wäre eine gesonderte Auseinandersetzung nötig.
4 Das schließt das Eintreten für die Verbesserung der Lebens- und „Kampfbedingungen“, also eine reformistische Praxis, die aber auf ihre eigene Verflochtenheit reflektiert und deswegen über sich hinaustreibt, mit ein. Die Vorstellung von Aufklärung als Schmökerstunde mit Marx und Adorno greift zu kurz. Sie ist auch als Reflexion auf die Beschränktheit oder Vergeblichkeit realer Kämpfe, sie ist Kritik im Handgemenge. Die Praxis der Antifa Arnstadt-Ilmenau könnte einige Beispiele liefern.
5 http://atfjena.blogsport.eu/2013/06/15/redebeitrag-aus-kahla/