Simon Rubaschow interveniert in die aktuelle Debatte um das Verhältnis von Theorie und Praxis. Der Autor ist Mitglied im Club Communism.
In der letzten Ausgabe der Lirabelle entspannen sich an einer Auseinandersetzung mit zwei Texten1 aus der Broschüre Stadt der Vielfalt? Anfänge einer Diskussion um das berüchtigte Theorie-Praxis-Verhältnis. Eine Position sogenannter „kategorialer Kritik“ wurde als „reine“ und „leere“ Theorie kritisiert, ihr gegenüber steht der Anspruch einer auf die Empirie vermittelten Kritik, die ein „dialektisches Verhältnis von Theorie und Praxis“ herstellt. Was damit gemeint sein kann, versuche ich folgend auszuführen, in der Absicht, mit dieser Konkretisierung des Theorie-Praxis-Verhältnisses zugleich eine Kritik an den drei Artikeln2 der letzten Lirabelle zu leisten.
Kein Happy-End in Sicht
Von der Empirie auszugehen hieße für radikale Theorie, von den Bedingungen radikaler Praxis auszugehen. Das sind zunächst die gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen, denen wir alle unterworfen sind: Wir wollen essen, wohnen, Kleidung tragen, gegebenenfalls Schnaps trinken oder andere schöne Dinge machen – die meisten davon kosten Geld, also müssen wir uns mit dem Amt herumschlagen, arbeiten oder Mutti3 erklären, warum das Taschengeld nicht reicht. Verkürzt gesagt: Kapitalismus. Diese Form der gesellschaftlichen Reproduktion, also das gesellschaftliche Sein, ist es, das unser Bewusstsein prägt. Weil wir uns in ihm als Objekte von sich gegen uns verselbstständigten Verhältnissen erleben, vom Kapital als Arbeitskraft angewendet oder vom Amt als Kostenfaktor verwaltet werden, identifizieren wir uns selbst als definierbare und definierte Objekte und werden als solche identifiziert. Als Student, als Frau etc. Und selbst in der angestammten Sphäre des Subjekts, dem Warentausch, sind wir kaum mehr als prognostizierbare Agent_innen gesellschaftlich produzierter Bedürfnisse. Unsere sogenannte Freizeit ist die Zeit, in der wir uns von der Arbeit erholen und unseren Arbeitskraftspeicher wieder auffüllen; indem wir uns zerstreuen, aber auch, indem wir unseren von der Objektivierung und den Zwängen des Alltags geschundenen Selbstwert daran aufrichten, rebellisch, subversiv und ungezwungen zu leben, um Montag wieder bereit zu stehen, schlicht, weil wir müssen. Der Kapitalismus ist also in sofern total, als das er alle unsere Lebensvollzüge, bis zu unseren Bedürfnissen, Hoffnungen und Ängsten, durchdringt und formt. Dass diese Totalität in sich widersprüchlich ist, ist dabei leicht zu erkennen. In einer Gesellschaft, in der Häuser leer stehen und Menschen zwangsgeräumt werden, in der die Würde des Menschen unantastbar ist und Menschen in Abschiebeknästen sitzen usw. usf., in der wir als Subjekte angesprochen werden und gleichzeitig wie Objekte behandelt, sind die Widersprüche offensichtlich. Sie bedingen aber keine Brüche mit dem Kapitalismus, wie auch Ladendiebstahl oder Hausbesetzungen zwar Rechtsbrüche sind, aber kein Riss im Kapitalismus, sondern zunächst einmal ein – berechtigter – Versuch, im Kapitalismus klar zu kommen. Insofern geschieht alles Tun und Handeln in kapitalistischen Formen und jede Regung, jeder Versuch von Widerstand bleibt immanent im Kapitalismus verhaftet – einfach, weil wir durch den Widerstand gegen konkrete Zwänge nicht gleich aus dem ganzen Mist rauskommen.
Diese Widersprüche verweisen auf eine zweite Bedeutung des Anspruchs, von der Empirie auszugehen. Denn von der Empirie auszugehen heißt derzeit, festzustellen, wie schlecht es um die Bedingungen radikaler Praxis bestellt ist. Der Widerspruch, in dem Menschen im Kapitalismus stehen – Subjekt sein zu sollen, Objekt zu sein – wird von ihnen häufig genug versucht, mittels Rassismus, Sexismus und anderen Abwertungsmustern zu lösen, durch die der eigene Subjektstatus an der Objektivierung anderer erlebt werden kann. Im Nationalismus, Regionalpatriotismus oder die Zugehörigkeit zu kollektivistischen Subkulturen, Fußballfanschaften etc. wird ein Kollektivsubjekt imaginiert, dem gegenüber der Einzelne willig Objekt sein mag. Und der Antisemitismus dient gleichzeitig als Projektionsfläche der verdrängten eigenen Machtphantasien, als Erklärung für das Schlechte in der Welt und lässt die eigene Verstricktheit in den Kapitalismus ebenso wie die durchdringende Bestimmtheit von ihm verleugnen. Diese Widersprüche, zwischen bürgerlichem Gleichheitsversprechen einerseits und den Ungleichheitspostulaten zahlreicher Individuen der bürgerlichen Gesellschaft andererseits, sind grundlegend durch den Kapitalismus bedingt, und gleichzeitig haben diese Widersprüche das Potenzial, tatsächlich einen Bruch im Kapitalismus zu erzeugen. Zweifelsohne aber ist dieser Bruch keiner, der aus emanzipatorischer Perspektive genutzt werden kann. Radikale Praxis, die sich auf diesen Bruch bezieht, kann sich einzig negativ, als Abwehr, auf ihn beziehen. Damit ist sie zunächst Verteidigung der vorhandenen widersprüchlichen Totalität – Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Spannung zwischen formaler Gleichheit und realer Ungleichheit – gegen die Versuche, selbst die formale Gleichheit der Individuen abzuschaffen.
Emanzipatorische Brüche dagegen sind hier und derzeit nicht in Sicht; wir leben in nichtrevolutionären Zeiten. Mehr noch, die radikale Linke befindet sich in einer Situation theoretischer und organisatorischer Ohnmacht. Es gibt derzeit keine theoretische Perspektive auf die wirkliche Bewegung, die diese, unsere derzeitigen Verhältnisse aufhebt. Was es für diese wirkliche Bewegung bedeutet, dass eine negative Aufhebung des Kapitalismus – Auschwitz – möglich war und ist, ist ebenso wenig durchdacht wie die Veränderungen des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten, etwa in Hinblick auf die gesellschaftliche Bedürfnisproduktion. Die Niederlagen, die emanzipatorische Kämpfe in den letzten 150 Jahren erlitten haben, sind nicht aufgearbeitet und – abseits der weltgeschichtlichen Ereignisse – vielfach vergessen; das Scheitern und die Vereinnahmung ihrer scheinbaren Siege ist ebenso wenig verstanden. Wie die Arbeiter_innen zu Dialektiker_innen werden sollen, niemand weiß es. Und die organisatorischen Bedingungen, diese Fragen zu beantworten oder auch nur zu stellen, sind allenfalls rudimentär vorhanden. Jede Theorie, die von der Empirie ausgeht, muss es im Angesicht dieser Ohnmacht tun, und jede Praxis muss darauf zielen, diese Ohnmacht zu überwinden, ohne sie zu verleugnen.
Vom Elend ist auszugehen
Diese Ohnmacht ist den drei Texten, von denen ich hier ausgehe, durchaus bekannt. Ihre große Sorge besteht darin, dass die Theorie diese Ohnmacht nicht angreifbar macht, sondern verlängert. Dazu bestimmen sie Bedingungen für gute Theorie, sie soll „zumindest einen Bezug auf eine bessere, radikalere Praxis“ und den „Ansatz für Destabilisierung“ geben, den die Praxis nutzen kann, „auch wenn man sich dafür die Hände schmutzig machen muss.“ Was sie nicht tun soll, ist „vom Leuchtturm der reinen Kritik aus über die schlechte Welt orakeln“, die Realität nicht „mit der Tünche der theoretischen Totalität“ überfärben, keine „abgrenzende Polemik“ sein, sondern von „Praxisversuchen“ ausgehen und deren „Impulse selbst aufgreifen“. Kurz: Theorie soll also der Praxis zuarbeiten, das Kampffeld bestimmen, die Schwächen des Gegners sichtbar machen und die Waffen auswählen. Theorie, derart bestimmt, soll vor allem Strategie sein.
Ein solches Verständnis von Theorie hat ein doppeltes Problem: Zum einen, aber das ist das kleinere Problem, ist das geforderte „dialektische Verhältnis“ hier nicht mehr vorhanden. Nicht Dialektik, sondern Unterordnung und Ableitung bestimmen die Theorie von der Praxis aus. Entscheidender ist jedoch, dass ein solches Theorie-Praxis-Verhältnis selbst nicht von der Empirie (den gesellschaftlichen Verhältnissen) ausgeht, indem sie die Einsicht in die Ohnmacht der radikalen Linken von vornherein verweigert. Das Postulat, die Widersprüche zu suchen und sofort als (progressive) Brüche zu identifizieren, aber die Totalität des Kapitalverhältnisses absichtlich zu ignorieren, verhindert jenen Abstand, in dem allein eine Perspektive auf die Aufhebung der Verhältnisse zu gewinnen wäre.
Dieses Problem wird in einer Theorie, die sich gleichsam organisch an die Praxis anschmiegt, unsichtbar gemacht; dieses Problem ist es auch, dass in dem scheinbaren Auseinanderfallen von Theorie und Praxis etwa bei den AGST (und damit der AAI, die im Fokus der Kritik der drei Texte der letzten Lirabelle stand) sichtbar wird. Die scheinbar „seltsame Diskrepanz zwischen ihrer Praxis einerseits und ihren Texten und Redebeiträgen andererseits“ liegt meines Erachtens darin begründet, dass sie darum wissen, dass ihre Praxis derzeit nicht revolutionär sein kann, und daher auch nicht versuchen, revolutionäre Praxis zu machen. Der Ort, an dem ihre Perspektive auf die wirkliche Bewegung überwintert, ist folgerichtig ihre Theorie. Das derart Praxis letztlich eine Verteidigung des Schlechten (der bloß formalen Gleichheit aller im bürgerlichen Staat) gegen das Schlechtere (organisierte Nationalsozialist_innen und den ganz normalen deutschen Mob) wird und die Theorie abstrakt, ergibt sich aus der Situation von Kommunist_innen im Thüringer Wald. Was sie vom bloßen Reformismus scheidet, ist ihr Benennen der Produktion dieses Schlechteren durch das Schlechte, die bürgerliche Gesellschaft. Ihre Praxis ist damit die eines sich bewussten Sisyphos und die tendenzielle Abstraktheit ihrer Theorie ist Ausdruck ihrer konkreten Situation – während sich Praxis, die sich revolutionär gibt, ohne es sein zu können, in blinder Abstraktheit verliert.
Die Theorie muss konkret werden: Widerspruch
Da Sie, werte Leser_innen, es bis hier durchgehalten haben, komme ich nun endlich zu meinem Versuch der Antwort auf die Frage: Theorie und Praxis, dialektisch vermittelt, was soll das denn heißen?
Theorie muss, wie schon erwähnt, von der Empirie ausgehen. Diese Empirie, das sind zum einen die Verhältnisse, die als widersprüchliche Totalität existieren, d.h. als umfassende, alles durchdringende, sich durch Widersprüche hindurch reproduzierende. Zum anderen ist die Empirie, von der auszugehen ist – die Ohnmacht der radikalen Linken – eine theoretische wie organisatorische Ohnmacht. Diese Empirie ist es, die zu überwinden ist, sie ist das Negative, dessen Positives die wirkliche Bewegung wäre. Dementsprechend kann Theorie sich nicht anders auf diese Empirie beziehen als negativ: Theorie kann nur als Kritik progressiv sein.
Diese Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis als negativ und kritisch bedeutet auch, dass Theorie der Praxis nicht einfach unterzuordnen ist, sie nicht einfach von der Praxis in Dienst genommen und inhaltlich oder formal bestimmt sein kann. Dialektisch vermittelt heißt eben auch vermittelt, nicht unmittelbar. Der Abstand zwischen Theorie und Praxis ist notwendig, weil die Praxis in nichtrevolutionären Zeiten notwendig eine Praxis ist, die sich innerhalb des Kapitalismus und seinen Widersprüchen bewegt. Diese Praxis ist dennoch gerechtfertigt, weil sie die Bedingungen des konkreten Lebens verbessert. Theorie jedoch, die sich an diese notwendig reformistische Praxis anschmiegt, wird (ob sie will oder nicht) zum rechtfertigenden Nachvollzug der bestehenden Verhältnisse. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist also nötig, solange die Verhältnisse widersprüchlich sind, damit Theorie überhaupt radikal sein kann. Nur als Kritik des Bestehenden, das auch die eigene Praxis umfasst, kann sie überdauern. Dass diese Kritik dabei allzu leicht abstrakt und allgemein wird, ist ein Problem, vor dem sie ebenso steht wie die Praxis, die sich in ritualisierten Formen und Phrasen ausdrückt, weil sie eben derzeit Teil des herrschenden Spektakels ist und einzelne seiner immanenten Widersprüche ausdrückt und prozessiert.
Der Anspruch auf Aufklärung, der von den drei Texten als realitätsfern kritisiert wurde, ist damit in der Tat hilflos. Er ist aber auch nicht hilfloser als jene Praxis der radikalen Linken, die ebenso wenig in der Lage ist, alle diese Verhältnisse umzustoßen, aber diese Ohnmacht verleugnet und darob abstrakt wird. Im Gegenteil: Darin, dass jene Aufklärung und der erhoffte „Bruch im Selbstverhältnis“ nur „die notwendige“ – also nicht hinreichende – „Voraussetzung“ dafür ist, die Verhältnisse zu erkennen, und die AAI gleichzeitig darum weiß, dass damit der „Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse [] nicht beizukommen“ ist, findet eine Ohnmacht ihren Ausdruck, die anzuerkennen Bedingung für ihre Aufhebung ist. Ohne diese Aufklärung bleibt die Praxis notwendig blind und damit gefangen in der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie ist dann nur möglich als Reformismus oder als Kampf um die Macht (ob nun leninistisch oder gramscianisch), anstatt als Abschaffung alles Kämpfens um Macht.
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1 Zur Notwendigkeit kategorialer Gesellschaftskritik. Redebeitrag der Antifa Arnstadt-Ilmenau bei der ‚Frust’-Demo am 13.10.2012 in Erfurt und Gedanken über das Verhältnis kategorialer Kritik und konkreter Politik. Auswertungspapier zur ‚Frust’-Demo am 13.10.2012 in Erfurt von Eva Felidae.
2 Karl Meyerbeer: Kategoriale Kurzschlüsse, Peter Gispert: Hals-, Bein- und andere Brüche und Lukas: Probleme der Praxis und die Geheimnisse der schönen Seele.
3 bzw. dem (sozialen) Elter, dass dafür zuständig ist.