Zwischen Freiheit und Ordnung

Das Biko und Freund_innen im Gespräch über Utopien, politische Perspektiven und die Revolution.

Ihr habt euch im August 2014 in einer Veranstaltungsreihe mit Utopien auseinandergesetzt. Gibt es ein zentrales Ergebnis?
Gabel: Es gibt keine Utopien mehr. Wenn überhaupt, dann gibt es Werke, die schwanken zwischen Utopie und Dystopie.
Löffel: Die meisten Science-Fiction-Filme der letzten Jahre waren eher Dystopien. Was dort mit filmischen Mitteln – heroische Musik, Herz-Schmerz-Bilder, ergriffene Menschen – als utopischer Teil verkauft wurde, das waren Elemente aus der Vergangenheit, das war American Dream, Boy meets Girl bei der Weizenernte mit Rock‘n‘Roll. Das beste, was man offenbar heutzutage noch von der Zukunft erwarten kann, ist, dass es wieder so wird, wie es mal war.
Messer: Auch in der Literatur rollt seit 10-20 Jahren eine große dystopische Welle. Ich frage mich, in welchem Zustand sich Gesellschaften befinden, in denen man nicht dazu in der Lage ist, eine positive Zukunft zu entwerfen. Es herrscht da offenbar eine große Skepsis vor.

Habt Ihr eine Idee, wieso das so ist?
Messer: Das hat vielleicht damit zu tun, dass Dinge, die als utopische Entwürfe begonnen haben, dystopische Ausmaße angenommen haben. Das Standard-Beispiel ist der Kommunismus, aber man kann auch für Technologie sagen: Da gab es eine utopische Hoffnung, dass alle besser, schöner und mit weniger Arbeit leben sollten, die reale Dystopie sind die Arbeitsverhältnisse von heute, die allgegenwärtige Überwachung, die Angst davor, die Technik nicht mehr zu verstehen, etc.
Pfannenwender: Ich würde sagen, dass schon immer Utopie und Dystopie recht nahe beieinander waren. Ernst Bloch beschreibt Utopien im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Ordnung und zeigt dabei, dass viele utopische Zukunftsentwürfe eine klaustrophobische Enge annehmen, weil alles durchstrukturiert ist. Warum uns das heute so negativ auffällt, ist, dass es damals beide Zukunftsoptionen noch möglich schienen. Jetzt hat aber die Gegenwart selbst eine dystopische Qualität und deswegen fällt uns das so stark auf.
Kartoffelstampfer: Ich glaube eher, dass in der westlichen, scheinbar postideologischen Gesellschaft, in der wir leben, Utopien grundsätzlich unter Ideologieverdacht stehen. Das trägt dazu bei, dass sich keiner mehr traut, eine Utopie durchzudenken, ohne eine Dystopie mit aufzubauen. Ich denke, dass es das in anderen Teilen der Welt ganz anders ist. Der Islamische Staat z.B. baut etwas auf, dass für seine Anhänger die Verwirklichung einer Utopie ist. Dass das für alle anderen eine ganz schlimme Dystopie ist, spielt keine Rolle.
Löffel: Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie macht in ihrem Roman Americanah die Beobachtung, dass die europäischem Erzählungen von Hoffnung und Größe – anders als in Afrika – immer in der Vergangenheit spielen. Vielleicht ist das zu groß gedacht, aber es könnte daran liegen, dass sich der Gesellschaftsentwurf der europäischen Aufklärung blamiert hat. Trotz – oder wegen – all der tollen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist die Welt in einem desolaten Zustand, die Lohnarbeit und der Alltag macht die Leute trotz allem materiellen Reichtum kaputt.
Pfannenwender: Dazu fällt mir ein Titel von der Pop-Band „Ja, Panik“ ein: „Ich will zurück nach da, wo‘s nach vorne geht“. Das ist genau die Perspektive, man möchte zurück und es nochmal anders probieren, weil die Verhältnisse katastrophal geworden sind.
Messer: Aber für die meisten Leute sind doch die Verhältnisse nicht katastrophal hierzulande. Eigentlich geht’s den Leuten doch gut.
Pfannenwender: Also wenn‘s den Leuten wirklich gut ginge, dann gäbe es auch kein Problem.
Schere: Es gibt eine neue Studie darüber, wie toll es den Thüringern geht. Über 60% sagen, dass es ihnen gut geht, obwohl 86% sagen, dass sie schlecht bezahlt werden.
Kartoffelstampfer: Es gibt auch immer genügend Ablenkung, damit man nicht merkt, wie es einem geht.
Pfannenwender: Und Männer lernen einfach nicht, zu sagen, dass es ihnen schlecht geht. Ich würde sagen, unter der Oberfläche geht es den Menschen nicht gut.
Löffel: In Europa grassieren auch die Depressionen in epidemischem Ausmaß. Und was individuelles Glück angeht, liegen die reichsten Staaten der Erde in Untersuchungen regelmäßig auf den hintersten Plätzen.

Das klingt beides so, als ob Hoffnung nur noch in der Vergangenheit oder im globalen Süden zu finden ist. Seht Ihr derzeit eine revolutionäre Perspektive?
Pfannenwender: Eine revolutionäre Perspektive ist nur weltweit denkbar.
Messer: Ja, wenn überhaupt, muss es schon eine weltweite Revolution geben. Die Idee, dass die südamerikanische Guerrilla uns zeigt, wie wir in Europa alles besser machen können, ist schon in den 1960er und 1970er-Jahren gescheitert. Und heute sehen sich viele Gesellschaften im globalen Süden auf dem Weg einer nachholenden Entwicklung, die einfach das nachholt, was im Norden schon Fakt ist. Das ist die Idologie der Herrschenden, die von vielen Beherrschten geteilt wird. Was im großen Rahmen allenfalls noch anders läuft, als hier, ist, dass es hier und da staatssozialistische Elemente gibt, ansonsten zeichnet sich auch in den südamerikanischen Staaten ab, dass es auf einen modernen Kapitalismus westlichen Typs hinausläuft. Für die Leute aus Basisbewegungen, die wir da kennen, ist schon klar, dass das nicht das Ziel ist, was sie erreichen wollen. Aber sonderlich bedeutsam sind Vorstellungen von gesellschaftlicher Selbstorganisation auch dort nicht.
Kartoffelstampfer: Vielleicht ist die Suche nach Utopien einer gewissen Heldenverehrung gewichen. In Barrack Obama wurden z.B. alle Utopien reinprojiziert. Oder der Sportler Oscar Pistorius, der als Projektionsfläche dafür herhalten musste, dass Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen besser sein können, als Menschen, deren Gliedmaßen vollständig sind. Das was eigentlich als gesellschaftliches Problem gelöst werden müsste, wird dabei auf einzelne Personen ausgelagert und die sollen das dann stellvertretend lösen. Und dieser Heldenmythos endet immer dann, wenn die Figuren persönlich gescheitert sind.
Löffel: Für meine Begriffe gibt es da zwei gegenläufige Trends. Zum einen gibt es diese Idealfiguren, die stellvertretend das Gute in die Welt bringen sollen, das ist dann Snowden oder Obama oder wegen mir auch Greenpeace. Die verlangen nur, dass Du sie an die Wand klebst, sie wählst oder ihnen Geld rüberschiebst. Auf der anderen Seite gibt es einen starken Trend von „bei sich selbst anfangen“, der aber völlig individualisiert stattfindet. Das sind dann die Leute, die meinen, durch Veganismus oder Containern die Welt zu retten. Die reagieren in der Tat auf ein großes gesellschaftliches Problem, gehen dann aber mit ihrem eigenen Körper auf die Verhältnisse los, statt sich zusammen zu tun. Es gibt also zum einen den Trend „Die sollen‘s machen“, zum anderen die Vorstellung „Ich muss die Welt retten“. Dass die Welt nur durch kollektives Handeln zum Besseren hin verändert werden kann, kommt in diesen beiden Trends nicht vor.
Schöpfkelle: Die Frage ist, wie sich die Ideen von Anders Leben ausbreiten, damit sie eben nicht individuell bleiben.
Kartoffelstampfer: An der Stelle frage ich mich: An welchem Punkt ist Alternativ-Sein uncool geworden? Als ich in meinem klenen Dorf aufgewachsen bin, da waren Punks und Hausbesetzer cool. Wenn ich jetzt mit meinem kleinen Cousin rede, dann hat der keinen Bock auf Punks und Hausbesetzer, das sind für ihn Leute, die ihm vorschreiben wollen, dass er nicht bei McDonalds essen soll.
Schere: Aber das zeigt doch, daß das Glücksversprechen des Kapitalismus doch funktioniert. Und die Alternative ist halt eine Verzichtslogik, das ist nicht cool.
Löffel: Ja, das ist doch das Problem! Anders zu leben, weil ich einsehe, dass es für‘s Große und Ganze gut ist, wenn ich Verzicht übe, ist ein total spießiger Begründungszusammenhang. Man kann auch anders leben, weil‘s einfach geiler ist, anders zu leben, es macht mehr Spaß. Und mir scheint, das verschiebt sich gerade massiv hin zu diesem Spießer-Begründungszusammenhang – vielleicht auch, weil die Bedingungen, unter denen man anders leben kann, kontinuierlich schlechter werden.
Pfannenwender: Das sind halt Abwehrkämpfe.
Messer: Genau. Das haben wir in der BRD auch schon gehabt als die 68-er-Geschichte zu Ende ging, dass es dann die sogenannte Alternativ-Bewegung gab und die Leute in ihre Gruppen, Bio-Höfe und dies und jenes gegangen sind und da versucht haben, im Kleinen was zu ändern und dann zu 95% gescheitert sind. Und man könnte genau so sagen, dass nach der Hoch-Zeit der globalisierungskritischen Bewegung in den 2000er-Jahren jetzt die Hausprojekte aus dem Boden schießen.
Löffel: Aber kann man das mit dem Scheitern wirklich so sagen? Ganz viel von dem, was soziale Bewegungen der 1980er und 1990er-Jahre gefordert haben, ist mittlerweile total normal geworden. Wenn man vor 20 Jahren in Thüringen bei der Antifa war, musste man auf jeder Ebene gegen die Autoritäten anrennen. Heute gehst Du auf die Blockade vom Nazi-Aufmarsch und triffst dort Deinen Sozialkunde-Lehrer. Wie uncool ist das denn?
Messer: Ich würde trotzdem von Scheitern sprechen. Die akzeptableren und liberalen Inhalte der Bewegungen wurden übernommen, aber die grundsätzliche Veränderung, die sie sich gewünscht haben, ist nicht eingetreten.
Pfannenwender: Ich denke, dass es alleine deswegen notwendig ist, andere Lebensmodelle auszuprobieren, weil das Leben, so wie es jetzt ist, unerträglich ist. Wenn man das macht und was anderes ausprobiert, dann finde ich es ganz wichtig, dass man sich vor Augen hält, dass das ein Versuch ist, wo man Erfahrungen machen kann, die auch die Art und Weise des Versuchs wiederlegen kann. Das zu vergessen ist ein großes Problem von solchen identitären, moralischen Konzepten, das halt gesagt wird: „Das ist es jetzt“ und dann fahren die Leute das einfach weiter, bis sich sich komplett zerlegt haben oder unerträgliche Menschen geworden sind.

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