Auf der Suche nach einer revolutionären Praxis kuckt sich Simon Rubaschow den Film „Die wilde Zeit“ an.
Mitte Oktober sah ich „Après Mai“ (Nach-Mai, der deutsche Verleihtitel ist „Die wilde Zeit“) im Rahmen einer politischen Veranstaltung zum zweiten Mal, und zum zweiten Mal wühlte er mein Denken und Fühlen auf und um. Dem Film gelingt das (zumindest bei mir), da er gleichzeitig das Bedürfnis nach einem ganz anderen Leben drängend zum Ausdruck bringt als auch in der nötigen Bitternis den Widerspruch der herrschenden Verhältnisse zu diesem Bedürfnis aufzeigt. Er spielt – wie der Originaltitel schon sagt – nach dem Mai 1968 in Frankreich. Die Praxis einer Gruppe Abiturient_innen um die Hauptfigur Gilles wird in ihrem letzten Schuljahr und der Zeit danach portraitiert.
Nach etwa der Hälfte des Films findet sich eine Schlüsselszene: Ein französisches Filmkollektiv diskutiert mit italienischen Arbeiter_innen über einen zuvor gezeigten Film, der vom Kampf der laotischen Volksbefreiungsarmee berichtet. Aus dem Publikum kommt eine „Frage an die französischen Genossen: Eure Filme übernehmen die gleichen Muster, wie sie auch von der Bourgeoise genutzt werden. Sollte das revolutionäre Kino nicht auf eine revolutionäre Syntax verwenden?“ Die Antwort des Filmkollektivs: „So ein Stil wäre wahrscheinlich ein Schock und eine Überforderung für das Proletariat. Wir sind angetreten, um aufzuklären“, und: „Wäre es nicht denkbar, dass die revolutionäre Syntax, von der der Genosse gesprochen hat, in Wahrheit vielleicht eher der individualistische Stil des Kleinbürgertums ist.“
In der anschließenden Party knüpft Gilles, der das Filmkollektiv auf dessen Reise begleitet, an die Diskussion an. Er hat „nicht verstanden, wieso die revolutionäre Syntax der individualistische Stil der Kleinbürger ist.“ Gegen die Antwort, dass es „vor allem darum [gehe], über Konflikte zu informieren“ und er „den Stil“ vergessen solle, weil es „doch nur [gelte] das Volk überzeugen, nicht die Ästheten“ stellt er die programmatische These: „Neue Ideen verlangen nach einer neuen Sprache.“
Das Verhältnis neuer Ideen und ihrer Ausdrucksweise ist das Grundthema des Films. Die Gruppe an Abiturient_innen, die im Zentrum des Films stehen, sind im Nach-Mai, im Herbst der gescheiterten Revolution von 1968, auf der Suche nach revolutionärer Praxis, die sie als untrennbares Projekt der Revolutionierung der Verhältnisse und der Lebensform ansehen. Es geht ihnen gleichermaßen um die Abschaffung der Aufstandsbekämpfungspolizei wie um den Kampf gegen die überkommene herrschende Sexualmoral. Sie suchen gleichermaßen nach Formen gesellschaftlicher Selbstverwaltung wie nach einer neuen Formensprache in Popmusik und abbildender Kunst. Die Bewegungen, an die sie dazu anschließen, haben diese Einheit aber längst aufgegeben. Daher finden sie einerseits trotzkistische und maoistische Gruppen vor, für die die Revolutionierung der Geschlechterverhältnisse im besten Falle nebensächlich, ansonsten aber Schmuddelkram ist, der ihren Kampf delegitimiert und die zu organisierenden Arbeiter abschreckt – und andererseits Hippies, die sich gänzlich aus der Politik zurückgezogen haben, und in Spiritualität und Esoterik ihre Befreiung von der instrumentellen Vernunft suchen.1
Gilles kann oder will die Einheit der Revolution auch in dieser postrevolutionären Situation nicht aufgeben. Und während sich seine Genoss_innen und Freund_innen Stück für Stück verstreuen und ihr gemeinsames Ziel zugunsten berauschender Parties, dem Verteilen von Flugblättern vor den Werktoren oder Anschlägen der Stadtguerilla aufgeben, sucht er weiter nach der verlorenen Revolution. Durch diese Suche steht er notwendig abseits der ihren gemeinsamen Bezug verlierenden Bewegungen, bekommt seine Beschäftigung mit künstlerischen Ausdrucksformen ebenso vorgehalten wie seine Missachtung der eigenen Kunst. Und entsprechend bleibt Gilles auch über das Ende des Films hinaus auf der Suche: In der letzten Sequenz sehen wir ihn, mittlerweile in London als Assistent bei einer B-Movie-Produktion sein Geld verdienend, einen Text der Situationistischen Internationalen (SI) lesen. Ihre Diagnose und ihr Programm scheint die Antwort auf die fragende Suche Gilles zu sein: „Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Ebene der Gesellschaft will man weiter machen wie bisher. […] Die Forderung nach Leben ist zum revolutionären Programm geworden.“ Doch diese Antwort täuscht, gedruckt ist sie in die 1972 erschiene Auflösungserklärung „Die wirkliche Spaltung der Situationistischen Internationalen“ und ihre Formulierung ist eher Ausdruck der drängenden Notwendigkeit als der wirklichen Aktualität der Revolution. Die neue Zeit ist (den Möglichkeiten nach) zutiefst revolutionär und zugleich (ihrer Realität nach) so nichtrevolutionär, dass der revolutionären Gruppe, die die SI darstellt, nichts bleibt als ihre Auflösung.
Die Situation, die im Film dargestellt wird, zwingt einen Analogieschluss geradezu auf. Auch heute und hier ist das Umstürzen aller Verhältnisse eine Angelegenheit, die nicht in Reichweite erscheint. Und entsprechend verliert sich die radikale Linke auch hier in lauter Nischen, in denen stets ein Teil des Ganzen bearbeitet wird, während für alles andere alte Formen reproduziert werden. Und während es in den ‚Alternativen Orientierungstagen‘ [Anm.: Veranstaltungsreihe in Jena zu Beginn des Wintersemesters 2014/15]– im Zuge derer der Film gezeigt wurde – Veranstaltungen zu Landwirtschaft, Flüchtlingskämpfen, Feminismus, Nazis, Arbeitskämpfen, Aktionsklettern usw. gab, waren es doch stets thematische Gruppen, die zu ihrem Thema eine Veranstaltung machten und so unabsichtlich die gegenwärtige Realität der radikalen Linken reproduzierten, die sich auf ihr jeweiliges Thema zurückzieht.2 Die Kritik an dieser szenebildenden Linken3 ist aber selbst durch den Film kritisiert: Denn eine Szeneverachtung, der es um „Anschlussfähigkeit“ an die Massen geht, vergisst, das neue Inhalte eine neue Form brauchen und die gescholtenen Szenen oft der einzige Ort sind, wo nach einer solchen Form praktisch gesucht wird. Die Revolutionierung der Verhältnisse kann, soviel ist aus „Après Mai“ zu lernen, nur als Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verkehrsformen gelingen, ansonsten schlägt sie in eine konterrevolutionäre Praxis um, die Politik als bloßen Kampf um Herrschaft versteht, sich auf die Organisierung von Hegemonie (ob nun in der Kultur oder auf der Straße) zurückzieht und wie das eingangs erwähnte Filmkollektiv zugunsten von Massenkompatibilität jeden transformatorischen Anspruch aufgibt.
Revolutionäre Praxis in nichtrevolutionären Zeiten ist ebenso notwendig wie unmöglich und lässt sich analog zu Gilles Praxis, nur als andauernde Erkundung realisieren. Sie geht mit wiederkehrenden Enttäuschungen einher, die unserer Ohnmacht geschuldet sind. Das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht nicht zu verdrängen und sich an seiner statt Illusionen4 über die Revolution als gegenwärtige Praxis, sondern einen bewussten Umgang mit dieser Ohnmacht und den Enttäuschungen zu finden, ist die Aufgabe, die die Ablehnung der herrschenden Verhältnisse stellt.
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Originaltitel „Après Mai“, dt. „Die wilde Zeit“, (2012)
Regisseur: Assayas, Olivier.
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Und sich damit grundsätzlich von denen unterscheiden, die heute in politischen Kreisen manchmal verächtlich als ‚Hippies‘ bezeichnet werden. Diese suchen zumeist nicht verzweifelt eine Transzendierung der Spaltung zwischen dem Selbst und der Welt. Den historischen Hippies ging es, weil sie das Subjekt-Sein-Müssen des Kapitalismus ablehnten, darum in der Welt oder dem Nichts aufzugehen; wozu sie Meditation, psychedelisch wirkende Substanzen und esoterische Rituale in Anschlag brachten. Stattdessen geht es heute, weniger verzweifelt als gemütlich, um das Aufgehen in einem Schutzraum, der sich als naturverbundene Gemeinschaft imaginiert wird.
2
Zu betonen ist, dass politischer Kampf, der konkrete Lebensbedingungen verbessern will, hiermit nicht abgelehnt werden soll. Er darf nur darüber nicht vergessen, dass die Zusammenhänge, die zur Bewältigung des je eigenen Themas ausgeklammert werden, trotzdem auf ihn wirken. Problematisch wird er dort, wo die je anderen Themen nicht ebenso als eigene Aufgaben verstanden werden, und etwa die Reflexion auf den eigenen Sexismus oder die Arbeit an einem theoretischen Verständnis der Verhältnisse an andere delegiert wird.
3
Die deswegen keine Mosaiklinke ist, wie gerne behauptet wird, weil ihre einzelnen Steine keine Beziehung zueinander haben, es sich also nicht um ein Mosaik, sondern um einen (kleinen) Trümmerhaufen handelt.
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Die Illusion revolutionärer Praxis war es auch, zu deren Zerstörung zumindest bei einem Teil der „formlosen Bewegung der heutigen Rebellion“ die SI sich auflöste, um nicht selbst als lebendiger Mythos Kraftquelle dieser Illusion zu sein.