Lasse Hirsch darüber, dass die Anderen die Hölle sind, vor allem, wenn man durch Abstammung dazu verdammt ist, sie zu ertragen. Der Text thematisiert familiäre Gewalt und kindliche Ohnmachtserfahrungen.
Ein kleiner Campingplatz irgendwo im Nichts, in Brandenburg, wo es eigentlich keine Menschen mehr gibt. Der Kapitalismus hat sich zurückgezogen, eine Rezeption gibt es nicht mehr. Mit ihm verschwunden sind funktionierende sanitäre Anlagen. Die Dauercamper sind noch da, sie sitzen zwischen wuchernden Gebüsch in einer wunderschönen Landschaft an einem See. „Ihr könnt bleiben, wenn Ihr nicht so einen Lärm macht.“ Machen wir gerne. Wir freuen uns, dass der Platz in Selbstorganisation weiterbetrieben wird. Wir stellen die Fahrräder ab und bauen unser Zelt gleich am Strand auf. Der Blick aus dem Zelt ist wunderschön: Zwischen dem aufragenden Schilf führt ein kurzer, sandiger Pfad leicht abschüssig zum Wasser, das in der niedrig stehenden Sonne ganz ruhig daliegt. Außer uns gibt es noch ein paar Camper. Wir sehen drei Zelte. Ein Jugendlicher geht schwimmen und ignoriert uns. Als ich auf dem Spirituskocher das Abendessen zubereite, kommt ein zweiter aus einem der Zelte. Er ist jünger als der Schwimmer, vielleicht zehn oder zwölf, eigentlich noch ein Kind. Er bleibt kurz bei uns stehen. Leise sagt er „Hallo“ und guckt uns schüchtern an. Wir erwidern seinen Gruß freundlich. Er zögert einen Moment und geht weiter zu einem Wohnwagen.
Nach dem Essen gehen auch wir schwimmen, nackt, wie es sich im Osten gehört. Da wir erst spät angekommen sind, wird es bald dunkel. Um den Stechmücken zu entgehen, ziehen wir uns ins Zelt zurück und dösen schon bald in der abendlichen Sommerhitze vor uns hin. Dann kommen Menschen.
Es gibt ja Leute, die sagen, Brandenburg wäre schön, wenn man von den Menschen absieht. Die Leute, die kamen, waren aus Berlin, zwei Männer und eine Frau. Man hörte schon von weitem, dass sie einiges getankt hatten und sich nur noch mit Mühe über den Platz schleppten. Als ihr Lallen deutlicher wurde und wir hörten, dass sie unser Zelt zur Kenntnis nahmen, hielten wir die Luft an. „Hoffentlich vergessen die uns schnell wieder.“ flüsterte meine Begleitung, einen Wunsch, den ich nur teilen konnte, weil das Grüppchen inzwischen angefangen hatte, sich lauthals zu streiten. Der Eine war auf dem Rückweg von der Kneipe vom Fahrrad gefallen und hatte sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Das fanden der Andere und Sie nicht gut und wollten ihn dazu überreden, sich verarzten zu lassen. Trotzdem auch Sie ordentlich abgefüllt war, traute sie sich zu, die Wunde zu säubern und zu verbinden. Anlass des Streits war, dass der Eine das partout nicht wollte. Obwohl der Andere blumig schilderte, wie viel Blut der Eine schon verloren hatte und Sie sich über die Gefahren nicht gereinigter Wunden ausließ, wollte der Eine lieber schlafen. Schon an dieser Stelle dachte ich, obwohl ich Atheist bin: „Oh Gott, lass es vorüber gehen.“ Aber es kam noch schlimmer. Um dem Einen klarzumachen, dass er sich unbedingt verarzten lassen müsse, brachte der Andere ein neues Argument in die Diskussion ein: „Denk doch an Deinen Sohn!“
Der schüchterne 10-12jährige hieß Paul. „Paule, sag‘ Deinem Vater,er muss sich verarzten lassen.“ „Paule hilfst Du uns, Deinen Vater vom Zelt in den Wohnwagen zu holen?“ „Paule, halt doch mal hier fest.“ Paule hilft. Auch wenn er zwischendurch leise weint und wir seine Angst und Verzweiflung aus der Stimme heraushören, hilft er tapfer bei jedem Schritt, beruhigt, wo es sein muss, schreitet ein, wenn der Andere zu aggressiv auf den Einen einredet und bringt seinen Vater letzten Endes dazu, sich verarzten zu lassen. Endlich. Für Paule ist der Abend damit noch nicht vorbei. Der Andere fragt ihn: „Paule. Alles Okay?“ Wahrscheinlich hat er trotz seiner erheblichen Intoxikation mitbekommen, dass mitnichten alles okay ist, wenn man einen 10-12jährigen nachts aufweckt, damit er sich um drei sturzbetrunkene Erwachsene, darunter sein Vater, kümmert. Natürlich weiß auch Paule, dass nichts okay ist, dass die drei besoffenen Riesenarschlöcher sich eigentlich um ihn kümmern müssten und nicht umgekehrt. Ich kenne das aus meiner Kindheit: Wenn sich Erwachsene abgeschossen haben und die Situation sowieso schon völlig außer Kontrolle ist, hat man Angst, dass es noch komplizierter wird, wenn man die eigenen Bedürfnisse ins Spiel bringt. Also antwortet Paule „Ja.“ Nicht nur einmal. Vielleicht ist der Andere zu blau, um sich zu erinnern, dass er schonmal gefragt hat, vielleicht weiß er, dass die Antwort gelogen ist. Er fängt immer wieder an. „Alles okay?“ „Ja. Ich bin nur müde.“ Auch das kenne ich. Die Hoffnung, dass es vorbeigehen möge. Die Hoffnung, dass sie jetzt endlich aufhören, sich und mich zu quälen. Das Hochschrecken davon, dass die Scheiße doch wieder losgeht. Ich döse ein und schrecke hoch, das Herz rasend. Aber es ist nur „Alles okay?“ „Ja. Ich bin nur müde.“ Ob der Andere es kapiert hat oder einfach so eingeschlafen ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall kehrt Ruhe ein.
Ich lag noch stundenlang wach und habe darüber nachgedacht, was ich Paule gerne sagen würde. Ich hab’s irgendwann geschafft, der Scheiße zu fliehen. Irgendwann wusste ich: Meine Eltern haben den Generationenvertrag gebrochen, als sie mich im Suff vollgelallt haben, mein Spielzeug zerbrochen und mir panikerfüllte und schlaflose Nächte bereitet haben. Irgendwann konnte ich mir klarmachen, dass ich mich nicht um sie kümmern muss. Ich habe die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht und „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ gehört, ich bin ausgezogen, weggegangen, habe mir über mich und die Welt Gedanken gemacht und kann heute durchschlafen. Wenn ich nachts von einem Geräusch aufwache, rast mein Herz nicht mehr. Normalerweise. Ich habe Leute um mich, die sich um mich kümmern und um die ich mich kümmere – weil wir uns mögen. Das gibt es. Es muss nicht so sein, dass man Leute um sich herum hat, die einen quälen, weil man durch Abstammung dazu verdammt ist, sie zu ertragen. Das hätte ich Paule gerne erzählt. Aber es gab keine Gelegenheit. Als wir am nächsten Tag aufgestanden sind, waren die Anderen schon weg.