Wenn die Nacht am tiefsten ist…

Simon Rubaschow findet beim Schauen eines exiliranischen, feministischen Vamprifilms die Hoffnung auf die Möglichkeit der Revolution.

Die Begegnung der beiden Hauptfiguren in A girl walks home alone at night könnte das Ende des Films sein, und beim Zuschauen hatte ich Angst um Arash. Ein junger Erwachsener, Einwohner von ‚Bad City‘, einer Stadt die offensichtlich in der Islamischen Republik Iran liegt. Sein alleinlebender Vater ist heroinabhängig, Arash kümmert sich um ihn und seine Schulden, wodurch er sein von mühsam erspartem Lohn gekauftes Cabrio an den Dealer seines Vaters verliert. Dennoch hat er sich seine Unschuld bewahrt und träumt vom Glück der individuellen Freiheit, das zu realisieren er sich zu Beginn des Filmes nur als Imitation der Posen von James Dean vorstellen kann. Nach einigen Wendungen landet er nach einer Kostümparty unter Exctasy-Einfluss auf der Straße und wird von ihr aufgegabelt, der namenlosen jungen Vampirfrau. Sie nimmt ihn mit in ihre Wohnung und legt eine Platte auf – To lose my life… von den White Lies – und er, allein mit einer Frau in einem Zimmer, nähert sich ihr. Anders als er wissen die Zuschauer_innen schon: Sie ist eine Vampirin, und ihre Opfer sind Männer, die Frauen gegenüber übergriffig geworden sind, kein Einverständnis eingeholt haben oder es ignorierten, und fragen sich, ob er sich beherrschen kann. Er kann, und das Bild verkehrt sich. Die Vampirin ist eine klassische Rachefigur, der Grund, warum der Film in der Rezeption weitgehend als feministischer Vampirfilm interpretiert wurde: Die übergriffigen Männer verbünden sich mit ihren Triebregungen und leben sie, gegen die Frauen, aus – die Vampirin tut ihnen gegenüber das gleiche mit ihren Trieben, die Penetration der Männer rächt sie, indem sie sie, qua Biss, penetriert und sie zum Objekt ihrer Lust macht. „The sky set out like a pathway/but who decides which route we take“ tönt die Stimme von Harry McVeigh, während die Zuschauer_innen beobachten, wie sie sich Arashs Hals nähert, und sich fragen, ob die Rache blind ist, keinen Zweck außer ihrer selbst kennt. Sie gibt ihrem Verlangen jedoch nicht nach, die Begegnung ist kein tödlicher One-Night-Stand, sondern die unmittelbare Triebbefriedigung am anderen als Objekt tritt für beide zurück hinter der Zuneigung zum anderen als Subjekt – „That’s why everything’s gotta be love or death“.

Der Film ist tatsächlich feministisch, nicht bloß wegen der praktizierten feministischen Rache im Film, sondern wegen der Verkehrung klassischer Rollenzuweisung. Er ist die unschuldige Hoffnung, die selbst unfähig ist, ihre Hoffnung unter den Bedingungen des schlechten Ganzen zu realisieren, sie ist die schuldbehaftete weil praktische Rache, selbst wiederum defizitär, weil sie nichts hat, wofür sie kämpft und tötet, nur ein wogegen. Derart sind sie beide aufeinander angewiesen. Eine Angewiesenheit, die ein Grund ist, weshalb die Liebe zur Überwindung der polarisierten Vereinzelung eine positive Perspektive ist. Die zwei anderen Gründe haben mit dem Vampirfilm und dem Iran zutun: Der klassische Vampir – Dracula oder Orlok – ist der verführerische Trieb, der junge bürgerliche Frauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus ihrem Bett, von ihren Eltern oder ihrem Verlobten und in den Tod reißt. Eine männliche Projektion eigenständiger weiblicher Sexualität, die sich nicht der patriarchal-bürgerlichen Gesellschaft unterwirft, und damit die Frauen der Kontrolle der Männer entzieht.1 Im postfordistischen Kapitalismus und seiner postbürgerlichen Gesellschaft ist dieser Vampir veraltet, die Triebregulierung ist längst auch in das Innere des männlichen wie weiblichen Subjekts verlagert, und Interview mit einem Vampir von 1976 (Buch) bzw. 1994 (Film) zeigt diese Wandlung anschaulich: Der Vampir, Louis, kämpft nunmehr um die Beherrschung der eigenen Triebe und damit um seinen brüchig gewordenen Subjektstatus, den andere Vampire wie Lestat längst verloren haben. Die Aufgabe der Selbstkontrolle ist gleichzeitig verdammenswert und verlockend. Hinzu tritt jedoch ein weiteres Motiv: Die Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft, die der Untote zu den Lebenden, zu denen er vormals gehörte, erfährt. In Vampirfilmen2 der letzten Jahre erfährt dieses Motiv eine erneute Verschiebung. Ist Louis noch ausweglos alleine mit seiner Entfremdung und seinen Trieben, gibt es nun Hoffnung, in romantischer Liebe die Vereinzelung zu überwinden. Der schwedische Låt den rätte komma in (2008), benannt nach dem Bob-Dylan-Song Let the right on slip in, Jim Jarmuschs Only lovers left alive (2013) oder eben A girl walks home alone at night (2014), deren Hauptfiguren allesamt weibliche Vampire sind3, gehören zu diesen neuen und allesamt exzellenten Vampirfilmen. Liebe deswegen, weil sie zugleich einen Ausbruch aus der Vereinzelung als auch die Option für eine selbstbestimmte, nicht bloß repressive Triebregulierung bietet. Sie bildet damit die Alternative zu der repressiv-patriarchalen Triebregulierung des Mullah-Regimes, aber auch zu der vereinzelnden Befreiung des westlichen Konsumliberalismus. Er wird in A girl walks home alone at night durch eine Tochter aus reichem Hause repräsentiert, die auf Kostümparties zu Techno feiert und deren Glück in einer Schönheitsoperation besteht, mit der sie ihre Nase an das westliche Schönheitsideal angepasst hat. Zu ihr steht die Schönheit der Vampirin in ebenso deutlichem Kontrast wie eine Szene – in der die Vampirin allein zu Dancing Girl von Farah tanzt, in dessen Refrain es heißt: „Männer stehen, Frauen tanzen, Ich beobachte“ – die Kostümparty und damit die ebenfalls sexistische westliche Alternative kontrastiert.

Eine zweite Szene am Ende des Films bildet einen ähnlichen Entscheidungsmoment. Arashs Vater, dessen sexuelle Lust gänzlich in seiner Heroinsucht sublimiert ist, meint eine Sexarbeiterin ‚beglücken‘ zu müssen. Für ihn tritt an die Stelle der phallischen Penetration die Penetration mit der Nadel, die männliche Allmachtsphantasie wird als Spender des Rauschglücks prozessiert, indem er ihr gegen ihren Willen Heroin injiziert – und wenig später von der Vampirin gebissen und dadurch ermordet wird. Arash findet dies heraus, als er, die Hoffnung, durch seine Liebe zu ihr zur Praxis gefunden, sie zur Flucht aus ‚Bad City‘ und in ein besseres Leben auffordert und bei ihr die Katze seines Vaters entdeckt. Er weiß um die Schuldigkeit seines Vaters, doch die offene Frage ist, ob er mit ihrer Schuldigkeit leben kann. Es spitzt sich letztlich die Frage zu, wie die Hoffnung auf ein besseres Leben zusammengeht mit der Notwendigkeit, dass die Praxis auf dem Weg dorthin notwendig befleckt ist von dem schlechten Ganzen, dem es zu entkommen gilt. Zieht sie sich von aller Praxis zurück, um ihre eigene Unschuld zu bewahren, wirft sie sich in die Praxis, wird selbst schuldig und verliert darüber die Hoffnung oder besteht die Möglichkeit, die Hoffnung und Praxis zueinander zu vermitteln ohne sie aufzulösen. In A girl walks home alone at night besteht diese Möglichkeit – die beiden verlassen in seinem wiedererlangten Cabrio die Stadt – in der Liebe, die damit eine Liebe als Anerkennung der bzw. des Anderen als Anderen ist. Sie ist der Schlüssel zur Aufrechterhaltung der Spannung, die auf ihre Aufhebung drängt, ohne sich einseitig auflösen zu lassen. Die Spannung aufrechtzuerhalten gelingt ihr, weil in ihr dem oder der Anderen mit Zartheit und Verlässlichkeit begegnet wird, die in Opposition sowohl zur bürgerlichen Kälte wie zum Eindringen- und Besitzen-Wollen steht. Und solange diese Spannung aufrechterhalten werden kann, bleibt das Bessere, die Revolution möglich – nicht nur im Iran.


1
Einzig Sheridan Le Fanu bringt es in Carmilla von 1872 diese Angst zum Ausdruck, ohne sie durch die Projektion der Triebe auf einen männlichen Vampir wieder zu maskieren. Bei ihm ist die männliche Angst vor einer eigenständigen weiblichen Sexualität in einer lesbischen Vampirin zugespitzt.

2
Und ich meine damit nicht die Filme, in denen Edwards, Selenes oder Erics, die als Vampire firmieren und die – selbst nach den ästhetischen Maßstäben der kulturindustriellen Produktion bloß miese – Action- oder Liebesfilme sind, sondern Filme, die das Motiv des Vampirs zu ihrem Gegenstand haben.

3
Tim Burtons misslungene Komödie Dark Shadows von 2012 arbeitet mit einem ähnlichen Motiv, hier ist der Vampir jedoch männlich.

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