Ein Raumschiff voller Kritik

Science Fiction zeigt die Welt, so wie sie sein könnte. Oder? Pascal Späth und Karl Meyerbeer über ein Genre, das als Kleine-Jungs-Traum von heldenhaften Heldenmännern, glitzernden Superraumschiffen und bösartigen außerirdischen Monstern begann.

Von Pulp, Hollywood und New Wave

Die erste größere Verbreitung fanden Zukunftsgeschichten in den USA in den 1940er-Jahren als Groschenroman in billigem Druck („Pulp Fiction“). Diesen ganzen Bereich deswegen als Schundliteratur abzutun würde aber ignorieren, dass es im Genre schon immer auch Erzählungen gab, die nicht in das Schema „blonder Superheld rettet die Welt vor insektenäugigen Monstern“ passen. Das Nachdenken über neue Ideen, Technik und gesellschaftliche Entwicklungen ohne an die Schranken der momentanen gesellschaftlichen Situation gebunden zu sein, war schon von Anbeginn an Teil dessen was heute als Science Fiction (SF) bezeichnet wird. Ab den 1960er Jahren begann parallel zu den gesellschaftlichen Umbrüchen innerhalb der festgefahrenen Industriegesellschaft mit ihren vorgeschriebenen Lebensläufen und einengenden Familienstrukturen eine Entwicklung, die in anderen literarischen Genres schon stattgefunden hatte: Die sogenannten „New Wave“-Autor_innen brachen mit neuen Themen, wie der Beschäftigung mit Rassismus, Geschlechtsidentität und sozialen Fragen, aber auch mit experimentelleren Erzählstrukturen das traditionelle Genre auf. Bekanntere Autor_innen der US-amerikanischen „New Wave“ waren beispielsweise Ursula K. LeGuin, Samuel R. Delany, Philip K. Dick oder John Brunner. Parallel dazu schrieben im Ostblock Autor_innen wie die Brüder Strugatzki oder Stanisłav Lem an einer phantastischen Verarbeitung des Realsozialismus.
Die Vorzeigewerke der emanzipatorischen SF sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Genre oft eine ideologische Verkleisterung des falschen Ganzen liefert. Eine ältere Ausgabe der Zeitschrift „Radikal“ liefert einen exzellenten Überblick darüber, wie das im SF-Film geschieht (http://radikal.squat.net/155/07.html). Wir wollen hier gar nicht so umfassend argumentieren, sondern nur das Werk zweier zeitgenössischer Autor_innen vorstellen, die wir ausgewählt haben, weil sie aus einer explizit linken oder emanzipatorischen Perspektive alternative Welten entwerfen: Octavia E. Butler und Chiena Mieville.

Von Dampflokomotiven, seelen-fressenden Monstern und Räten

Wenn es gelingt, dass unterschiedliche Stränge radikaler Politik aus Graswurzelbewegungen und Kooperativen, Gewerkschaften, antisexistischen und antirassistischen Gruppen gemeinsam kämpfen, kann die Linke handlungsfähig werden.
Diese Idee ist zumindest ein verbindendes Moment von Chiena Mievilles politischem Engagement in der britischen Kleinstpartei „Left Unity“ und vieler seiner Romane. Aber während andere explizit politische SF-Romane bei aller gesellschaftspolitischen Bedeutung schlichtweg langweilig sind, funktionieren Mievilles Bücher sehr mitreißend.
„Ich liebe Monster mit Hingabe“ – und wer die seelen-fressenden Falter aus dem gleichnamigen Buch oder das monströse Seeungeheuer in „Die Narbe“ kennenlernt, weiß, wieso der Autor das sagt. Mieville bezieht sich damit explizit auf den Unterhaltungswert der Pulp Fiction und verbindet diese in seinen Büchern mit Aussagen von sozialer Sprengkraft. Der Autor ist auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel aktiv und wie dort üblich sind die alternativen Welten, in denen seine Romane spielen, mit viel Liebe zum Detail aufgebaut. Ich höre schon den Zwischenruf: „Krasse Monster und eine rollenspielmäßig aufgepeppte Welt, das klingt nun genau nach dem Schund, aus dem die SF kam“. Der Zwischenruf ist angebracht, weil tatsächlich ein Reiz der SF darin besteht, ein konzeptionell ausgearbeitetes Universum von immer neuen Seiten her kennen zu lernen. Dies ist aber nicht ein Alleinstellungsmerkmal von anspruchsloser Serienware a la Perry Rhodan (die wohl bekannteste und langlebigste SF-Heftreihe aus Deutschland). Auch die schon erwähnten Strugatzki-Brüder verstanden es, auf der Folie ihres kontinuierlich ausbuchstabierten Mittags-Universums immer wieder neue Geschichten zu erfinden, ohne den „Ich-lerne-einen-Kontext-Kennen“-Effekt zum Selbstzweck werden zu lassen.
Zurück zu Miville und seinem Bas-Lag Universum: Im Mitteleuropa der Geschichtsbücher hat der Benzinmotor irgendwann die Dampfmaschine abgelöst und sich mit dem Auto tief in jede Pore und Falte der Gesellschaft ausgebreitet. In Mievielles Universum hat der behäbigere Dampf die Oberhand behalten und so treffen wir neben reichlich Lokomotiven auf dampfgetriebene Flugapparate und Computer sowie sogenannte „Remade“ – Menschen, die als Strafmaßnahme in dampfgetriebene Cyborgs verwandelt wurden. Das militärische und kulturelle Zentrum der Welt ist der Stadtstaat New Crobuzon. In einer autoritären Demokratie mit stark ausgeprägter Klassengesellschaft kämpfen dort die ökonomischen und politischen Eliten für den Erhalt ihrer Herrschaft. Die Unterdrückten versuchen immer wieder, sich in kleinen Gruppierungen (unter anderem mit der Untergrundzeitschrift „Das Lauffeuer“) dagegen zu organisieren.
Besonders der Roman „Der eiserne Rat“ rückt widerständige Praxen ins Zentrum der Erzählung: Bei einem monumentalen Eisenbahnlinien-Großprojekt, mit dem New Crobuzon seine militärische Dominanz sichern will, revoltieren die Arbeiter_innen angeführt von einer Sexarbeiterin. Sie organisieren sich basisdemokratisch und beginnen, die Schienen hinter ihrem Bauzug herauszureißen und davor wieder einzubauen, um Stück für Stück dem Einflussbereich der Stadt zu entkommen. Zwischen dem Drang nach Unabhängigkeit und dem Wunsch, die keimende Revolte in der Stadt zu unterstützen, entfaltet sich eine Geschichte, die durchaus als Metaerzählung über mögliche politische Strategien der Linken gelesen werden kann. Die Art und Weise, wie Mieville vor allem im Eisernen Rat soziale Kämpfe thematisiert, erinnert an Autoren wie Upton Sinclair, die in den 1920er-Jahren die Lage des entstehenden Proletariats in den USA beschrieben hat und dabei immer deutlich auf Seiten der Protagonist_innen standen.
Der realpolitische Mievielle hat sich in innerparteilichen Auseinandersetzungen als Antisexist positioniert. Dass die zentralen Frauenfiguren in seinen Romanen in vorhersagbarer Regelmäßigkeit scheitern, ist mir unangenehm aufgefallen. Andererseits scheitern im Grunde die meisten der Protagonisten in Mievilles Büchern am Ende an den übermächtigen Verhältnissen. Was bleibt, ist eine Vision, dass die Welt anders als unmenschlich sein könnte, nicht sie es irgendwann sein muss.

Von Aliens, Menschen und dem Anderen

Octavia E. Butler begann in einer Zeit in den USA zu schreiben, in der es für eine schwarze Frau schwer vorstellbar schien, als Autorin bekannt zu werden, geschweige denn den Lebensunterhalt davon zu bestreiten. Geboren Ende der 1940er Jahre, prägten die Armut und der Kampf ums Überleben mit vorübergehenden Jobs auch ihre ersten Jahre als Schriftstellerin.
Erfolgreich als Autorin wurde sie erst Anfang der 1980er-Jahre unter anderem mit einigen preisgekrönten Kurzgeschichten. In diese Zeit fällt auch das Erscheinen der Xenogenesis-Trilogie.
Die Ausgangssituation für die Trilogie ist ein für die SF der 1980er-Jahre typischer Plot: Kalter Krieg und Atomwaffen führen zur Verwüstung der Erde, Aliens kommen daher und retten einige wenige Menschen. Da endet es aber auch schon mit den herkömmlichen Zutaten. Zwischen den Oankali und den übriggebliebenen Menschen entwickelt sich eine Beziehung, die von der Fremdartigkeit der Aliens und dem starken Machtgefälle geprägt ist. Die Oankali retten die Menschen nämlich nicht aus altruistischen Gründen, sondern weil sie nur fortbestehen können, indem sie sich im Laufe der Zeit immer wieder mit anderen Lebewesen vermischen und sich dadurch genetisch weiterentwickeln. Die Rettung der Menschen gestaltet sich aus Sicht von Lilith, der Hauptperson des ersten Bandes, auch eher als Entführung und lange grausame Gefangenschaft. Die Oankali ändern ihr Verhalten gegenüber Lilith erst, als diese beginnt mit den Aliens zu kommunizieren und auf ihre, je nach Sichtweise Wünsche oder erpresserischen Forderungen, eingeht. Die Oankali stehen also nur vor der Wahl, sich mit den Menschen zu vermischen oder nicht, während den Menschen andererseits keine Wahl gelassen wird, da die Oankali herausgefunden haben, dass die Menschen allein auf Dauer nicht überlebensfähig sind.
Die Themenfelder, die in den drei Bänden aufgespannt werden, sind vielfältig: Rassismus, Kolonialismus, Macht und hierarchische Strukturen, Sexualität (die Oankali haben drei Geschlechter, die alle zur Fortpflanzung beitragen müssen), der Umgang mit absoluter Fremdartigkeit, die eigene Identität, was es ausmacht ein Mensch zu sein und was daran überhaupt erhaltenswert ist.
Abgesehen von Lebensformen, die so andersartig sind, dass eine Kommunikation oder ein überhaupt gegenseitiges Wahrnehmen als intelligente Wesen überhaupt nicht möglich ist (wie z.B. der „Ozean“ in Stanisław Lems „Solaris“), sind die Oankali eine der fremdartigsten und zugleich plastischsten Alien-Erfindungen über die ich bis jetzt gelesen habe.
Dementsprechend ist natürlich die Frage des Umgangs der übrigen Menschen mit diesen von ihnen ursprünglich als abstoßend empfundenen Wesen ein Hauptthema der Bücher. Die Analogie zum Hier und Jetzt mit den „Anderen“ innerhalb der menschlichen Gesellschaft, denen die „Normalität“ versagt wird ist augenscheinlich und Lilith rät ihrem oankali-menschlichen Kind folgendes: „Die Menschen fürchten Verschiedenheit.[…] Die Menschen verfolgen diejenigen, die anders sind als sie, aber sie brauchen sie, um sich Definition und Status zu geben. Die Oankali suchen Verschiedenheit und sammeln sie. […] Wenn du einen Konflikt fühlst, versuche, den Oankaliweg zu gehen. Umarme Verschiedenheit.“
Die alles überspannende Frage, die in allen Werken von Butler durchscheint, ist jedoch die Frage nach dem Erhalt der eigenen Prinzipien unter dem Druck einer alternativlosen Situation. Ist es besser oder erstrebenswerter, für die eigenen Ideen zu sterben oder sich den Gegebenheiten anzupassen und zu versuchen, unter den momentan nicht änderbaren Zuständen für sich und andere das bestmögliche Weiterleben zu ermöglichen? Butler bezieht sich dabei vor allem auf den Hintergrund der jahrhundertelangen Erfahrung afrikanischer Sklav_innen in Amerika. Im bequemen Lesesessel und in einer relativ sicheren Lebenssituation lässt es sich leicht darüber urteilen, wie sich die Unterdrückten angesichts der Diskriminierungen bitteschön heldenhaft zu verhalten haben. Butlers Figuren bieten ebenjene heldenhaften Lösungen nicht an, sondern stellen die unterschiedlichen möglichen Handlungsweisen angesichts untragbarer gesellschaftlicher Verhältnisse dar, ohne in moralisierender Weise darüber zu urteilen.

Vom Lesen, Denken und Handeln

Trotz aller Unterschiede in Herangehensweise und Blickwinkel der beiden Autor_innen haben wir diese Beispiele ausgewählt, weil ihnen gemeinsam ist, dass sie das SF-Genre nutzen, um gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen und über mögliche Wege zu deren Beseitigung zu reflektieren. Die SF-Genreelemente werden aber nicht als bloßes Vehikel genutzt, um die Message zu verbreiten.
Sowohl Mievielle wie auch Butler erzählen spannende und unterhaltsame Geschichten. Freunde der Space-Opera fragen sich da vielleicht: „Was hat denn auch der blöde Feminismus in unseren Heldengeschichten zu suchen?“. Und Theoretiker_innen mögen der Ansicht sein, dass die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen besser in Form von Sachtexten erfolgen sollte. Beides zeigt das Potential dieser Geschichten: Leute, die sich für Unterhaltungsliteratur interessieren und nie ein theoretisches Buch in die Hand nehmen würden, werden mit Fragen konfrontiert, über die sie sonst eventuell nie nachdenken würden. Und statt in sozialwissenschaftlicher Erbsenzählerei winzige Gesellschaftsfragmente zu beschreiben oder gesellschaftstheoretisch ohne Gegenstand über die Welt zu orakeln bietet SF die Freiheit, unfertig und experimentell die großen Fragen durchzuprobieren: Wie kann eine widerständige Subjektivität zwischen Autonomie und Verbundenheit aussehen? Braucht der Kampf um Befreiung neben einer Transformationsstrategie auch eine revolutionäre Moral? Wie lässt sich das Verhältnis von Einzelinteresse und allgemeinem Interesse in politischen Auseinandersetzungen strategisch bestimmen? Wie hängen diesbezügliche Strategien mit politischen Kräfteverhältnissen zusammen? Mieville und Butler bieten keine fertigen Antworten auf diese Fragen, schon gar keine Anleitung dafür, wie in der heutigen Situation zu verfahren ist. Aber beide illustrieren einen imaginären Raum, der zur Diskussion darüber einlädt, wie ein ganz anderes Ganzes aussehen kann. Und das ist in Zeiten gefühlter Alternativlosigkeit schon eine ganze Menge.

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