Vorwärts immer – Rückwärts nimmer!

Vor zehn Jahren wurde das besetzte Topf & Söhne Gelände geräumt. Marvin lebte mehrere Jahre im Topf-Squat und schrieb uns seine Erinnerungen.

Sommer 2001, ich hatte gerade mal wieder mit Ach und Krach meine Versetzung an einer Staatlichen Regelschule in der Thüringer Provinz geschafft und es sollten meine letzten, großen Ferien vor den kommenden Abschlussprüfungen werden. Den halbjährigen Gang der Schande zur Zeugnisunterschrift hatte ich gemeistert – meine Eltern hatten das Mahnen schon vor einer Weile aufgegeben – und ich freute mich auf 6 Wochen freie Zeiteinteilung. Freiheit bedeutete für mich damals, mit dem Rad über die Dörfer zu fahren und dabei auf meinem Walkman Falco hoch und runter zu hören. Ich war eher ein Einzelgänger. Das örtliche Schwimmbad mied ich, dort waren nur wieder die Trottel aus der Schule und die lokalen Nazigrößen des sogenannten „Thüringer Heimatschutzes“. Beide waren mir so verhasst, wie die Lehrer*innen, die Polizei, die Eltern, eben all jene Autoritäten, die einem 15-jährigen Dorfpunk das Leben richtig madig machen konnten und dies auch taten. Zum Glück aber gab es selbst in der ländlichen Tristesse Anfang 2000 ein wenig Farbe. Ich war in einer AntiFa-Gruppe, wir stritten gerade um einen Jugendraum und hatten über die lokalen Nazistrukturen unser erstes Interview im AIB (Antifaschistisches Infoblatt). Bei Veranstaltungen und einem Konzert konnten wir auf die Unterstützung anderer Linker aus größeren Städten bauen. Diese war auch mehr als notwendig, denn regelmäßig griffen Faschisten unsere Treffen an. Wir, das waren neben mir noch drei Abiturent*innen, unter ihnen die Tochter des Bürgermeisters.
Politisch waren die Zeiten für mich auch außerhalb des Dorfes aufregend. In Göteborg hatte es am Rande eines EU-Gipfels schwere Ausschreitungen gegeben und die Bullen schossen scharf auf Demonstrant*innen. Ich graste in dieser Zeit jeden Zeitungsladen ab, um an Berichte und Photos zu kommen und wenn wir nachts mal eine Mülltonne am Marktplatz in Brand setzten, war Göteborg sogar ein wenig bei uns. Aber auch zwischen Dorf und Göteborg bewegte sich was. Durch die monatliche Post des Infoladens „Sabotnik“ und ihrer Zeitung „Spunk“ erfuhren wir, dass in Erfurt seit April 2001 ein Haus besetzt sei, es war also nur eine Frage der Zeit bis wir es uns ansehen würden. Am 01. Juli war es so weit. Ich fuhr mit F. in die große Stadt. Sie mit „Ich scheiss drauf Deutsch zu sein“ -Shirt, ich mit Sandalen, Socken, kurzer grüner Hose, schwarzen Shirt und einem umgedrehten Kreuz an einer Halskette. So brachte uns die Regionalbahn in die Landeshauptstadt. Vom Bahnhof in die Rudolstädter Straße 1 war es nicht weit. Einmal über eine große Kreuzung, vorbei an der IHK und einem Autohaus und rechts neben einer Tankstelle, da war es: das Topf Squat. Außen war an die Wand geschrieben: „Seit dem 12.04.2001 besetzt“ daneben ein großes Eisentor mit Stacheldraht drauf und Plakaten dran, ein paar Transparente hingen zerfleddert an der Fassade. Ein paar Autos parkten in der ruhigen Sackgasse. Dazwischen eine Eisentür, die offen stand. Wir gingen rein und betraten einen Betonplatz. Entgegen unserer Erwartungen trafen wir niemanden an und hatten schon ein wenig Sorge zu spät zu sein – meine Mutter war Anfang der 90er viel in Berlin und erzählte auch über die Vergänglichkeit von besetzten Häusern. Alles war bunt angemalt, über dem Hof war ein Tennisnetz gespannt, es standen Feuertonnen rum und nur ein paar Hunde verrieten uns dass die Besetzung wohl immer noch aktuell war. Durch eine große, leere Halle voller Schrott und tonnenweise Taubendreck kamen wir über eine klapprige Leiter auf das Dach. Dort wollten wir uns einen Überblick verschaffen und vor allem in Ruhe einen Joint rauchen. F. drehte gerade die Tüte als R. das Dach betrat. R. arbeitete für die „Thüringer Allgemeine“ und wollte einen Bericht über das Topf und Söhne – Gelände schreiben. (Zu der Zeit war gerade eine Klausurtagung des „Förderkreis Topf und Söhne“ beendet und man stellte die weitere Planung für das Areal vor.) Auch die Besetzer*innen sollten kurze Erwähnung finden. Nur fand R. ,wie wir auch, keine Besetzter*innen. Er fragte stattdessen uns, ob wir für ein Photo kurz stillhalten würden. F. und ich willigten ein. Ich glaube wir waren in dem Moment so fokussiert auf den kommenden Joint, dass wir uns ohne Gegenwehr selbst vom Papst persönlich hätten taufen lassen. Zumindest deute ich heute so das Photo von uns, welches am kommenden Tag in der Lokalzeitung abgedruckt war. Jetzt war ich Besetzer. Zumindest auf dem Papier.
Bis ich in eben jenes Haus einzog, vergingen noch zwei Jahre. Ich war in der Zwischenzeit so gut wie jedes Wochenende da, war es doch diese eine Welt, die ich so sehr suchte. Sie war bunt, laut, sie war all das, was mein Dorf nicht war. Dauernd veränderte sich etwas, es kamen permanent neue Leute dazu, die so klangvolle Namen wie Perle, oder Eidechsen-Lars hatten. Es gab einen Bauwagenplatz und irgendwo schraubte immer jemand an irgendwas rum. Ich war das erste Mal richtig betrunken und verliebt. 2003 zog ich ein. Mittlerweile hatte ich meinen Realschulabschluss mehr ergaunert als verdient und eine Lehre als Verfahrensmechaniker angefangen. Wenn ich morgens gegen 5 Uhr Das Haus verließ, saßen unten noch die letzten Gäste und Bewohner*innen des Wagenplatzes und prosteten mir aufmunternd zu. Die weiteren 9 Stunden verbrachte ich damit vor der Maschine darauf zu warten, dass der fertige Plasteklumpen vorne rausfiel. Oft musste ich mich vom Meister erniedrigen lassen und an den besseren Tagen träumte ich in der Berufsschule in Gotha Ost einfach vor mich hin und kiffte in jeder Pause. Ich glaube, geil war mein Leben zu dem Zeitpunkt nicht, aber ich freute mich jeden Tag darauf, wieder nach Hause zu kommen. Mein Zimmer konnte ich gefühlt schon vom Bahnhof aus sehen und meistens war auch A. oder T. zu Hause, denen ich vom Tag erzählen konnte. S., zu dem ich heute noch Kontakt habe und sehr schätze, kam meistens erst später, weil er auch arbeiten war. Da er im Besitz eines Autos war, galt er als der Wohlhabendste unter uns Gering- bis Garnichtsverdiener*innen. Er war es auch, der die Einkäufe für die WG erledigte und eine ruhige, sachliche Instanz in den vielen Debatten in dieser Zeit darstellte.
Mit S. fuhr ich auch Jahre später noch auf Demonstrationen und viele Konzerte und ihm habe ich es wohl zu verdanken, dass ich heute nicht nur schlechten Deutschrap höre. T. brachte mir bei, wie man Wanderrucksäcke voll Lebensmittel und Zigaretten aus einem nahe gelegenen Supermarkt klaute. A. schätzte ich als Zuhörerin sehr, wir gingen aber schon bald unterschiedliche politische Wege. Wenn ich mit T. nicht gerade klauen war, war er meistens damit beschäftigt, im Fernsehbauwagen rumzuhängen oder er schmiedete große Umbaupläne für die WG, von denen er keinen einzigen verwirklichte. Im Winter 2003, ich war im 2. Lehrjahr, hatte ich dann die Schnauze voll von der Arbeit. Gerade meine Volljährigkeit erreicht, befand ich dass zwei Jahre Lohnarbeit vollkommen ausreichend seien und schmiss, sehr zur Begeisterung meiner Familie, alles hin. Fortan war auch ich damit beschäftigt noch mehr zu kiffen, im Fernsehbauwagen mit dem Sofa eins zu werden, große Pläne zu schmieden und nichts zu verwirklichen. Worin ich aber sehr gut war, war verbissenen Streits anzufangen und mich als belesener darzustellen als ich war. Oft war ich in Argumentationen unterlegen, aber mit viel Polemik + Arroganz fühlte ich mich dennoch meist als Gewinner. Wenn ich heute Texte aus der Zeit lese, die ich damals geschrieben habe, dann schäme ich mich immer ein wenig. Wenn ich an einzelne Personen denke, die ich mit meinem Verhalten verletzt habe, dann habe ich das Bedürfnis mich zu entschuldigen. Für solche Erkenntnisse brauchte es allerdings Zeit. Nach einem harten, kalten Winter zog ich aus dem Besetzten Haus aus, blieb aber auch in den kommenden Jahren dem Projekt verbunden. Meine schönsten Abstürze hatte ich dort und auch in ein paar Schlägereien war ich verwickelt. Meistens mit pöbelnden Nazis vor dem Tor und meistens schwang ich mehr Worte als Fäuste. Manchmal auf mit Besucher*innen. Z.B. wenn diese ein Palituch trugen. Letzteres war mit viel Spannungen im Hausplenum verbunden und um ehrlich zu sein, ja, darauf legten wir es an. Heute erinnere ich mich lieber an die Nachtwachen in den letzten Tagen, die ich auf dem Dacheingekuschelt in alte Transparente mit meiner damaligen Freundin und viel Sternburg Bier verbrachte. Der schwierigste Tag für mich war der Tag der Räumung. Es waren jetzt 8 Jahre vergangen, ich war 24, lebte von Arbeitslosen- und Kindergeld und noch immer war vieles für mich ein Spiel. Was es bedeuten würde, einen Ort wie das Besetzte Haus zu verlieren, war mir nicht bewusst. Es gab große Demonstrationen in Erfurt, bundesweit solidarische Aktionen und selbst Bernd das Brot wurde für kurze Zeit vom Fischmarkt in Erfurt entführt. Aber jenseits der radikalen Linken waren wir alleine. Ich glaube, in den Verhandlungen mit der Stadt gingen wir nicht immer taktisch sinnvoll vor oder wir hatten schlicht keine Linie, was wir eigentlich wollten. Die Linkspartei war ein wankelmütiger Gesprächspartner. Vor allem war es in der Partei nicht klar, wie man zu alternativen Lebensformen stehen sollte. Ich erinnere mich noch gut an Debatten mit alten Parteimitgliedern, die vorwurfsvoll fragten, wie man denn „so“ nur leben kann. Die SPD tat das, was die SPD schon immer tat: Linken in den Rücken fallen. Dass man bei einem Arschloch wie Bausewein aber keinen Blumentopf wird gewinnen können, wussten wir. Es war also ziemlich hoffnungslos. Ich verbrachte die letzten Tage damit, mich auf einen anderen Gegner zu besinnen. Bei den Nachtwachen auf den Dächern des Squats hatte ich viel Freude daran, vorbeifahrende Polizeistreifen zu bewerfen, oder die Aufklärungsflüge der Cops mit dem Einsatz von Pyrotechnik zu sabotieren. Genützt hat das freilich nichts. Am Tag der Räumung war Schluss. Ein Traum war aus, ein Spiel zu Ende. Auf wenige Minuten erbitterte Gegenwehr folgten, noch ehe die Sonne richtig aufgegangen war, Verhaftung durch das SEK, viele Stunden Knast und eine nächtliche Verhandlung mit Nervenzusammenbruch vor einem Haftrichter. Am nächsten Morgen schon war „meine“ Munkebude weg. Was blieb, war ein Schutthaufen aus bunten Steinen und meine Sturmhaube, die ich heulend in den Trümmern fand. Den Schlüssel zum Eingangstor habe ich immer noch.
Heute wohne ich nicht mehr in Thüringen, nicht mehr in Deutschland. Immer wenn ich zu Besuch in der Provinz bin, fährt der Zug an dem Ort meiner Jugend vorbei Ich sehe die neuen Häuser, die Einkaufsmöglichkeiten, versuche mich zu erinnern wie es bis 2009 ausgesehen hat und noch immer kommt kurz Trauer und ein wenig Wut auf. All das schreibe ich 10 Jahre nach der Räumung. Ich sitze an meinem Mac Book, im Hintergrund läuft eine Playlist „Klassik zur Konzentration“, ich bin jetzt 33 Jahre alt. Ich habe irgendwann wieder mit der Lohnarbeit angefangen, rauche und trinke seit Jahren nicht mehr, gehe gerne wandern und pflege meine Zimmerpflanzen. Bin ich ein Spießer? Vielleicht. Vielleicht war ich das auch schon immer. 2003 fegte ich gerne im Treppenhaus des Squats, weil mich die Massen an Hundehaaren störten und heute fege ich gerne meine Mietwohnung, weil ich die Flusen nicht mag. Ich bin immer noch Links, bin immer noch Sozialist und noch immer freut es mich, wenn sich Menschen Freiräume nehmen, erstreiten, oder halt kaufen. Ich würde nicht mehr in einem solchen Projekt wohnen wollen. Neulich fragte ich S., ob er glaubt, dass es das Besetzte Haus ohne Räumung heute noch geben würde. Er meinte „ja“. Ich meinte, dass wir dann vermutlich unsere eigenen Jobs dort geschaffen hätten. Früher soziale Revolution, heute soziale Arbeit. Vielleicht doch gut so, dass es anders gekommen ist. Ich bekomme ja schon bei dem Wort „Plenum“ Stresspickel. Und trotz alledem:
Wenn man mit über 30 noch immer nicht seinen Frieden mit dem Schweinesystem gemacht haben will, dann gab es sicher einen Ort, wo man alles ausprobieren und lernen konnte. Wo man Fehler machen konnte, Pläne, Verwerfungen, Neuanfänge. Wo man stritt, wo man Bündnisse schmiedete, oder verließ und wo man am Ende trotzdem solidarisch zusammen stand. Ich möchte nicht zurück. Ich bin froh, den Wirren der Jugend entkommen zu sein. Ich würde aber auch nichts tauschen wollen. Keinen Winter mit einem Ofen, der fast das ganze Dachgeschoss in Brand gesetzt hätte, keinen Streit um USA-Fahnen in meinem Fenster, kein mieses Konzert, keine Barschicht, nichts von all dem bereue ich.
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich von Leuten höre, die damals aktiv waren und auch heute noch der radikalen Linken verbunden sind. Ich freue mich jedes Mal, wenn Menschen zeigen, dass es jenseits der grauen Stadt ein Leben gibt.
Und was seit 10 Jahren für Erfurt nichts an Gültigkeit verloren hat, sind die Forderungen nach eben diesem Ort. Den verlorenen Dorfpunks, Linken, Künstler*innen, und allen anderen, die in dieser scheiß Welt nicht das Ende der Geschichte sehen -all denen wäre es zu wünschen. Und mir wünsche ich es auch. Dann kann ich als Opa „Geschichten aus dem Krieg“ erzählen und IHR müsst zuhören, danach gibt es warmen Tee an der Bar und wir wärmen uns die Hände an der Feuertonne. Schön wäre das.

PS: Danke an S., der mich in all den Jahren als Freund begleitet hat. Danke an alle Anwält*innen, die uns immer wieder rausgehauen haben, danke an die handvoll parlamentarischer Linker, die sich auch heute noch solidarisch zeigen. Danke an euch, die ihr immer noch aktiv seid. Und zu guter Letzt, danke an den Thüringer Ermittlungsausschuss, auf dass niemand vergessen wird.

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