Ein bisschen Frieden

Ox Y. Moron über den politisch-moralischen Bankrott des deutschen Pazifismus im Angesicht des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine ringt die Friedensbewegung um Fassung. Ausgerechnet Russland marschiert in ein souveränes Nachbarland ein und ausgerechnet die NATO eilt den Angegriffenen mit Sanktionen gegen Russland, Geld und Waffen zu Hilfe. Ein echter Tiefschlag nachdem man jahrzehntelang das westliche Militärbündnis als Aggressor verteufelt und dessen Auflösung gefordert hatte und während der Trump-Ära so nah am Ziel war wie nie. Es dauerte einige Wochen bis man zurück in die Spur fand. Dann häuften sich die Bedenkenträger, offenen Briefe und Rufe nach Appeasement mit dem Aggressor.
Eine der zentralen Institutionen der Thüringer Friedenspolitik ist der Ostermarsch in Ohrdruf und anderen Thüringer Städten. Im Aufruf des Ostermarschbündnisses finden sich neben allerlei vernünftigen Forderungen etwa zur Aufnahme von und Solidarität mit Geflüchteten auch die üblichen Forderungen nach Abrüstung und einer Verhandlungslösung sowie Deeskalation im Ukraine-Krieg: „Keine weitere Aggression, Abrüsten statt Aufrüsten, Frieden und Kooperation, das geht nur mit einer klaren Unterstützung für zivile Strukturen und internationaler Zusammenarbeit“, heißt es da unter anderem im Aufruf des Thüringer Ostermarschbündnis.
Der Ruf nach Deeskalation und der „Rückkehr an den Verhandlungstisch“ (ebenda) ist dabei nicht nur Ausdruck von völliger Ohnmacht – denn der Kriegsherr Wladimir Putin interessiert sich einen Dreck dafür, was Thüringer Friedensaktivisten fordern. Darüber hinaus ist diese Forderung freilich eine Konzession an den Unverstand der Massen: Man bringt einen auf den ersten Blick pragmatischen Vorschlag zur Lösung des Problems, für den aber in der Wirklichkeit alle Voraussetzungen fehlen. Schließlich eskaliert in diesem Konflikt keine Partei, auf die man im Westen irgendeinen Einfluss ausüben könnte, sondern die Gewalt geht vom russischen Regime und der russischen Armee aus, auf deren Einmarsch in der Ukraine alle anderen Parteien nur reagieren.
Die Forderung nach Waffenstillstand, Abrüstung, Deeskalation kann sich also nicht an die Politik der Ukraine und ihre Unterstützer der NATO richten, sondern nur an den Machthaber im Kreml und seine Silowiki, jene Führungselite um Wladimir Putin, die sich an den Trümmern der Sowjetunion politisch und wirtschaftlich bereichert hat. Insofern sind Forderungen, keine (schweren) Waffen zu liefern, wie sie in offenen Briefen und diversen Timelines der deutschen Friedensbewegung nachzulesen sind, eine moralische Bankrotterklärung erster Güte. Ohne das durch die NATO im Eiltempo hochgerüstete ukrainische Militär wäre die russische Armee vielleicht schon an der polnischen Grenze und das Land übersät von Massengräbern wie in Butscha, Mariupol und Borodjanka.
Die Argumentation, weitere Waffenlieferungen würden Putins Armee nur provozieren, haben etwa das analytische Niveau derjenigen, die behaupten kurze Röcke provozieren Vergewaltigungen und Kippas antisemitische Übergriffe. Die Strategie, einen zu alles entschlossenen Despoten wie Putin mit Appeasement und Entgegenkommen zu beschwichtigen, ist historisch völlig substanzlos. Die vergangenen russischen Militäreinsätze in Georgien und Syrien sprechen eine klare Sprache. Die Ermordung der Zivilbevölkerung, etwa durch die Bombardierung von Schulen und medizinischen Einrichtungen, die systematische Zerstörung ganzer Wohnquartiere – all das war festes Repertoire der russischen Syrienpolitik: Assad oder Tod. Die Hoffnung, das könne in der Ukraine jetzt anders sein, ist völlig unbegründet. Und die Eskalationsstufen legt nicht der Westen fest, sondern der russische Machthaber. Wenn dieser Gründe sucht, um etwa chemische oder biologische Waffen gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen, wird er sie finden.
Der neue deutsche Pazifismus von AfD bis zu Teilen der Linkspartei verbindet, was seinen ideologischen Zuschnitt angeht, Putinversteher, die die russische Propaganda so feiern wie die Corona-Leugner ihre Jebsens, Bagdhis, Wodargs und Konsorten, bis hin zu den linken Überzeugungspazifisten, die sich ihre alten Gewissheiten (Frieden = Appeasement notfalls noch mit den übelsten Verbrecherregimes) nicht ausreden lassen wollen.
Auch nicht als Putins Armee am 8. April einen Bahnhof in Kramatorsk bombardieren ließ. Der Bahnhof diente zur Evakuierung der Zivilbevölkerung. Hier warteten vor allem Alte, Frauen und Kinder auf die Züge nach Westen. Männer dürfen das Land bekanntlich nicht verlassen. Die eingesetzte Bombe war eine sogenannte Totschka-Rakete mit Splittergefechtskopf. Diese explodieren einige Dutzend Meter über dem Einschlagsort und zerstückeln alles Leben im Umkreis durch tausende Metallsplitter. Die auf die rettenden Züge Wartenden wurden also regelrecht tranchiert. Mindestens 50 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Kurz darauf eintreffende westliche Journalisten, die u.a. für den Spiegel arbeiten, berichteten davon, dass sie nach wenigen Minuten die Dreharbeiten und das Fotografieren abbrachen, da man diese Bilder niemals irgendwo zeigen könne. Das Ausmaß an Grausamkeit ist unvorstellbar. Es gibt unzählige Berichte von Verschleppungen ukrainischer Zivilisten nach Russland. Was diesen dort widerfährt, ist weitgehend unbekannt. Der russische Kriegseinsatz dient nicht nur der Eroberung eines Landes. Er dient der Unterwerfung durch Grausamkeit wie sie die prorussischen Separatisten in den seit 2015 besetzten Ganglands im Donbass bereits praktizieren.
Wer hier mit einer Friedenspolitik nach dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ aufwartet, meint mit Frieden einen würdelosen, rechtlosen, unfreien Zustand körperlicher Existenz. Dieser Pazifismus, zumal in Deutschland, ist nicht erst seit heute politisch völlig bankrott; er war es schon seit Jahrzehnten und das brachte keiner so vortrefflich auf den Punkt wie einst Wolfgang Pohrt: „In der Tat hat Deutschland den Pazifismus diskreditiert und ad absurdum geführt, indem es praktisch vorgeführt und damit empirisch bewiesen hat, dass es Schlimmeres geben kann als den Krieg; dass Schrecken möglich sind, von denen nur eine starke Armee befreit. Deutschland selbst unter den Nazis war dieser Schrecken, gegen den es kein Mittel als Bomberflotten und Panzerverbände gab. Die Armee als wirklichen Befreier und den Krieg als wahren Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit in die Weltgeschichte eingeführt zu haben, ist das verhängnisvolle Verdienst dieses Landes.“
Vielleicht tun sich deshalb die Friedensaktivisten in Deutschland so schwer damit, das Richtige zu fordern. Vielleicht führt ihnen diese Forderung vor Augen, dass es einst die deutschen Vernichtungstruppen waren, die den Krieg als Bewahrer der Menschlichkeit in die Weltgeschichte eingeführt haben und dass es einen Unterschied ums Ganze bedeutet, dem Aggressor in den Arm zu fallen oder den Verteidigern die Waffenhilfe zu verweigern.
Diese Position teilt der Jenaer Soziologie Hartmut Rosa eher nicht. In einem als Gastbeitrag abgesonderten schwer verdaulichen Betroffenheitskitsch auf Spiegel Online rechtfertigt Rosa die Waffenlieferungen an die Ukraine auf der letzten moralischen Rille: „Klar muss aber sein, dass eine solche Waffenlieferung, wenn sie denn sein muss, ein solcher De-facto-Kriegseintritt, nur eine katastrophische Ausnahmesituation sein und bleiben kann, ein einmaliger entsetzlicher Rückfall in einen archaischen Zustand.“ Rosa hat offensichtlich die letzten 56 Jahre seines Lebens in einem Bunker verbracht, abgeschottet von der Wirklichkeit. Denn im wieder gut gewordenen Deutschland sind Waffenlieferungen kein entsetzlicher Rückfall in einen archaischen Zustand, sondern die Normalität des langjährigen Waffenexportweltmeisters. Dass diese Waffen diesmal nicht an Ägypten, Saudi-Arabien, Katar oder andere lupenreine Demokratien gingen, sondern an die sich gegen einen übermächtigen Aggressor verteidigende Ukraine, musste sich Rosa mit seinem Gesinnungsaufsatz auf Spiegel Online rechtfertigen als „verantwortungsethische Entscheidung in einer moralischen Zwangslage zwischen ‚diabolischen Mächten‘ in einer politischen Polarnacht von ‚eisiger Finsternis und Härte‘“. Darunter geht’s freilich nicht mehr. Was er den Ukrainern eigentlich zwischen den Zeilen zuflüstert: Sterbt bitte leise.
Immerhin gibt Rosa nicht der Ukraine, ihrem Präsidenten oder der NATO die Schuld. Vielleicht reichte dafür auch die Zeichenvorgabe nicht aus. Auf der Suche nach Rechtfertigungen für die russische Intervention jedenfalls ist man im pazifistischen Lager sonst sehr erfinderisch: Das Heranrücken der NATO an die russische Grenze, die Einflussnahme des Westens auf ehemalige sowjetische Republiken, das vermeintlich provokative Auftreten der ukrainischen Führung, Putins verletzte Gefühle, weil Obama das Land mit der Wirtschaftsleistung Spaniens einmal als „Regionalmacht“ geschmäht hat – all das sind Hilfskonstruktionen, mit denen Linke ihre alten Feindbilder (der kalte, reiche, vereinzelnde Westen gegen den sozialen, armen, auf kollektive Interessen schauenden Osten) aufrichten wollen. Diese Feindbilder sind heute mehr denn je unbrauchbar. Hier wie da herrschen heute unangefochten die Interessen des Kapitals. Und wer angesichts der Wahl zwischen der prekären Freiheit des Westens und der repressiven Unfreiheit des ehemaligen Ostblocks letzteres vorzieht, der steht der AfD näher als er vielleicht glaubt. Die Protofaschisten hegen eher offen als heimlich Sympathien für den autoritären Führer im Kreml und sind jederzeit bereit, für billiges Gas und Öl („deutsche Interessen“) das Leben und die Freiheit von ungezählten Ukrainerinnen und Ukrainern preiszugeben.
Was diese Auseinandersetzung – genauso wie die um die Corona-Politik übrigens – so hoffnungslos macht, ist die Tatsache, dass es heute keine kämpfenswerte Alternative zur spätkapitalistischen, verdinglichten Gesellschaft mehr gibt. Alles, was sich gegen diese Gesellschaft in Stellung bringt (Oligarchenkleptokratie in Russland, Staatskapitalismus in China, Islamfaschismus im Iran), ist noch viel schlimmer als das Geschäftsmodell des Westens. Und jede aktuelle politische Bewegung, die den Weg aus der Nische findet, führt uns nicht heraus aus der rastlosen Tauschwertproduktion, sondern macht sich nur den eigenen falschen Reim darauf. So bleibt der kommunistischen Idee der progressiven Überwindung des Bestehenden nur das Überwintern in der prekären Freiheit der kapitalistischen Verdinglichung. Das heißt aber eben auch Solidarität mit den Verteidigern der ukrainischen Demokratie, Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten und russischen Deserteuren und Dissidenten. Und das heißt, sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen, während man sich den Satz Paul Spiegels vergegenwärtigt, wonach man niemals a priori Nein zum Krieg sagen dürfe, da die Konzentrationslager nicht von Friedensdemonstranten, sondern den alliierten Streitkräften befreit wurden.

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