The grass is always greener on the other side

Die Autorin Minna Takver ist Mitglied des Club Communism und hat den Blick über den Thüringer Tellerrand gewagt, in der Hoffnung vom Umgang mit Outcalls in Leipzig etwas lernen zu können für die Jenaer Szene. Geschrieben hat sie diesen Text im März 2022.

Seit Anfang 2020 hat es sowohl in der linken Szene Thüringens als auch in Leipzig mehrere Outcalls gegeben, die sexualisierte Gewalt gegen Genoss*innen zum Inhalt haben und die Täter in der eigenen Szene anprangern. An dieser Stelle soll die Form von Outcalls diskutiert werden. Da mittlerweile Genoss*innen, die Outcalls verfasst haben, diese selbst reflektieren und diskutieren, was gut und was schlecht gelaufen ist, scheint es mir angemessen, nun einen ebensolchen Blick auf die Form des Outcalls zu werfen. Dafür werden zwei Grund verschiedene Outcalls sowie die Reaktionen des jeweiligen Umfeld verglichen. Ich hoffe, dabei hinreichend sensibel vorzugehen, immerhin ist ein Outcall in der Regel einer der letzten Wege, der in der Auseinandersetzung mit einer potentiell traumatisierenden Gewalterfahrung bleibt. Er erfordert Mut und bleibt nie ohne Risiko, selbst wieder verletzt zu werden – dies verdient Anerkennung.
Der Outcall über einen ehemaligen Jenaer Genossen war ein Text, der zunächst bei Instagram veröffentlicht wurde. In ihm wurde ausführlich von der toxischen Beziehung mit sowie den Übergriffen und der Vergewaltigung durch den Täter berichtet. Von der*dem Autor*in wurden darin erste Forderungen an den Täter und die Szene formuliert. In einem zweiten Text auf indymedia wurden diese konkretisiert und sich insbesondere an sein Freund*innen-Umfeld gewandt. Die Reaktion(en) der Szene wurden und werden vom Schlechten Gewissen eindrucksvoll dokumentiert.1 Bis heute aber bleiben die Menschen, die zeitweise besonders enge Beziehungen zum Täter pflegten, es schuldig, sich dazu öffentlich zu äußern, ob/warum sie sein Verhalten tolerierten und welche Konsequenzen sie gezogen haben.
In Leipzig wiederum sticht ein anderer Outcall besonders heraus. Am Wohnhaus des Täters und an einem Leipziger sowie einem Berliner Club wurden jeweils ein kurzes Stencil angebracht, das einprägsam eine Vergewaltigung durch den Täter öffentlich macht.2 Auch hier wurde durch die Auswahl der Stencils das Täterumfeld direkt adressiert. In diesem Falle wurde das nähere Umfeld des Täters unmittelbar aktiv: er flog aus dem Wohnprojekt3 und ist kein Teil seiner ehemaligen Veranstaltungscrew mehr. Beide Gruppen setzen sich in einem schmerzlichen, selbstkritischen Prozess damit auseinander, dass der Täter Teil ihrer Gemeinschaft war und beide adressierten Clubs solidarisierten sich mit der, dem oder den Betroffenen.4 Hier gab es also eine nachvollziehbare Reaktion des nahen Umfelds.
An dieser Stelle sei betont, dass die Outcalls in anscheinend sehr verschiedenen Szenen gemacht wurden. Die eine ist eine links-alternative Rave‑Szene, während die andere selbstbewusst antifaschistisch ist. Nun könnte man sich darauf ausruhen, dass der staatliche Repressionsdruck es den letzteren schwerer macht sich öffentlich zu äußern, während die ersteren nicht fürchten müssten, einen Teil ihrer Strukturen zu gefährden. Das wird jedoch dadurch konterkariert, dass es unter den Antifaschist*innen in Thüringen bereits mehrere Gruppen und Einrichtungen gibt, die sich selbstkritisch von Tätern distanziert haben und betroffenen Genoss*innen Unterstützung versichern.5 Keine*r von ihnen ist auf Grund eines solidarischen Statements bis heute von der Staatsanwaltschaft vorgeladen worden oder hatte eine „Hausi“ im örtlichen Infoladen.
Die verschiedenen Formen der Outcalls haben je eigene Vor- und Nachteile. Der Leipziger Stencil-Outcall ist erst mal irritierend. Es gibt keine Möglichkeit der direkten Antwort, keine Chance auf den*die Urheber*in(nen) zuzugehen. Aber er ist letztlich ausreichend, denn wenn ich grundsätzlich Betroffenen sexualisierter Gewalt glaube, brauche ich auch keine erschöpfenden Details zum Akt der Gewalt. Wenn mir meine Genossin sagt, dass sie vergewaltigt wurde, dann ist das so. Wie ich, wie wir damit umgehen, ist unser Problem. Dies verdeutlicht das Leipziger Stencil: Der kurze Satz stellt keine Forderungen und eröffnet damit verschiedene Möglichkeiten und Nötigkeiten im Umgang mit dem Täter zu handeln. Es gibt kein Ausruhen darauf, dass gestellte Forderungen unrealistisch oder unangemessen seien. Es ist unmöglich, die betroffene(n) Person(en) in maßregelnder Absicht zu konfrontieren. Der Minimalismus des Stencils erzeugt eine undurchdringliche Anonymität für sie, die einem Schutzwall gleichkommt. Diesen Schutzwall zu verlassen und damit nachträglich die Anonymität aufzugeben, mag dann umso schwerer sein, wenn es darum geht Hilfe aus der Szene anzunehmen. Es bleibt zu hoffen, dass Beratungs- und Unterstützungsangebote außerhalb der Szene der/den betroffenen Person(en) zugänglich sind. Denn in der Regel ist der Umgang mit einer solchen Gewalterfahrung umso schwerer, wenn man damit alleine bleibt.
Der Jenaer Outcall wiederum zeigt einerseits, dass sich (fast) alles von der Seele zu schreiben eine Form der Psychohygiene sein kann. Eine autonome Praxis der Selbstsorge, die damit auch eine Art der Selbstermächtigung ist. Es werden Konsequenzen eingefordert, an denen sich alle Angesprochenen messen lassen müssen. Andererseits bietet der Text dem sozialen Umfeld von Täter und betroffene*r Genoss*in die Möglichkeit, genau zu hinterfragen, was auf den eigenen Partys, den Plena und in den eigenen Betten so abgegangen ist und geht. Er enthält damit eine Unterstützung, um genau dieses Geschehen zu ändern, sodass eine Wiederholung weniger wahrscheinlich wird. Ein solcher Outcall ermöglicht es so auch anderen (potentiell) Betroffenen sich und ihren Alltag zu reflektieren und Worte dafür zu finden, was geschieht oder geschehen ist.
Eine Veröffentlichung auf einer Plattform wie Instagram erlaubt, den*die Verfasser*in zu kontaktieren – neben Unterstützungsangeboten und ermutigenden Solidarisierungen kann das auch dazu führen, dass sich andere Betroffene mit ihren Geschichten melden. Und schließlich birgt ein solch ausführlicher Text auch Indizien dafür, wer ihn verfasst hat. Dies öffnet die Tür, die betroffene Genoss*in auch in böser Absicht zu konfrontieren oder abwertende Kommentare zu hinterlassen. Umso wichtiger ist es, dass für diesen Fall vorgesorgt wird. Dass es idealerweise eine Unterstützungsgruppe gibt, die solche Konfrontationen abfängt oder/und begleitet. Ansonsten kann die Reaktionslawine zu einer erneuten Ohnmachtserfahrung der betroffenen Person führen, was einem Heilungsprozess sicher nicht zuträglich ist.
Gerade wenn keine Support-Struktur hinter einem Outcall erkennbar ist, ist möglicherweise bei solidarischen Genoss*innen der Impuls einen „bitte melde dich“-Aufruf zu verfassen, besonders stark. Wenn wir so etwas formulieren, sollten wir unsere Gründe dafür genau hinterfragen und ihn entsprechend umsichtig einrahmen. Warum soll die betroffene Person gerade zu meiner politischen Struktur Kontakt aufnehmen? Was können wir ihr anbieten? Einen Outcall anonym zu verfassen, geschieht aus gutem Grund. Es sollte also Priorität bei einem „bitte melde dich“-Aufruf haben, dass ein solcher Kontakt ebenso anonym erfolgen kann. Dabei sollten Zweifel, ob so etwas gegebenenfalls ausgenutzt werden kann, hinten angestellt werden.
Der Outcall in Jena führte zu szene-internen Diskussionen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt und zu einem höheren Druck auf alle Strukturen, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Er brachte ebenso neue Zusammenkünfte hervor, die hoffentlich lange nachwirken. Gleichzeitig war der Druck auf das Täterumfeld nicht groß genug, um dieses zu einem erkennbaren Umgang mit dem Outcall und seinen Forderungen zu bewegen. Bis heute ist es durchaus möglich, dass die ehemalige Bezugsgruppe des Täters zu ihm hält und sich gleichzeitig weiter antifaschistisch engagiert. In Leipzig dagegen gab es im Täterumfeld erkennbare Konsequenzen. Ein Stencil genügte, damit der Täter sein Hausprojekt und seine Veranstaltungsgruppe verlassen musste. Es wird sicherlich auch in diesem Fall Leute geben, die weiter davon überzeugt sind, dass er ein tadelloser Mensch sei; entscheidend ist aber, dass diese nicht bestimmen, ob/dass der Täter noch Zugang zu Szene-Räumlichkeiten hat.
An den verschiedenen Reaktionen auf die beiden Outcalls zeigt sich, dass weniger die Form des Outcalls entscheidend ist, als mehr die Sensibilität der Szene entweder mit dem Thema sexualisierter Gewalt oder im Umgang mit dem Täter. Wenn es ein breites Wissen darum gibt, was sexualisierte Gewalt ist, wie sie sich äußert, welche Folgen sie hat und dass ihr gesellschaftliche Strukturen zu Grunde liegen, dann kann auch ein kurzer Outcall eine angemessene, Betroffenen-solidarische Reaktion bewirken. Wenn innerhalb der Szene hingegen ein Täter schon als sexistisches Arschloch bekannt ist und man das bis dahin so hingenommen hat, wird auch der detaillierteste Outcall wenig bis nichts innerhalb dieses Sauhaufens ändern. (Schweine-Freund*innen mögen mir an dieser Stelle verzeihen.) Damit ist nicht gesagt, dass das eine oder das andere in Jena oder Leipzig so plakativ passiert; wahrscheinlicher ist es in beiden Fällen eine Mischform. Der Ausweg daraus ist, den Arsch in der Hose zu haben, solche Typen aus unseren Läden zu schmeißen, auch wenn wir mal ihre Genoss*innen oder Freund*innen waren einerseits, und andererseits die eigene Rolle bei den Taten zu hinterfragen, zu reflektieren was man bisher normal oder nicht so schlimm gefunden hat – und diese Reflexion auch für Betroffene wie für andere Genoss*innen erkennbar zu machen. Beides ist das Minimum, das wir den Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, schuldig sind.


1 https://dasschlechtegewissen.noblogs.org/chronik/

2 https://statement.sick-crew.de/

3 https://www.mixcloud.com/beiunsdochnicht/folge-9-outcalls-als-feministische-praxis-gegen-sexualisierte-gewalt/

4 https://menschmeier.berlin/2021-04-statement-sexualisierte-gewalt sowie https://www.facebook.com/institutfuerzukunft/posts/10158813526096488

5 Nachvollziehbar in der Chronik von Das schlechte Gewissen.

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