Darstellung und Interpretation der Hausbesetzung am 06.12.2013 in der Neugasse 17 in Jena

von Jens Störfried.

In diesen Zeiten emanzipatorisch zu überleben ist schwer genug. Dies fällt noch mal schwerer, ist eine_r im Knast und wir daher alle Gefangene sind.1 Trotz allem Mensch zu sein ist eine schier unendliche Herausforderung, welche für ihre Bewältigung nur durch die Auseinandersetzung in den und gegen die herrschenden Verhältnisse geschehen kann. Das radikale Abarbeiten an den kleinen und großen widersprüchlichen und widerlichen Alltäglichkeiten ist jener konkrete Prozess, welcher das Ziel einer befreiten Gesellschaft stets neu wieder ins Bewusstsein ruft und unsere eigene Orientierung darauf hin zu lenken vermag. Wenn (Anti)Politik sich in diesem Sinne nicht einer Begründung, jedoch einer vollständigen Rechtfertigung entzieht, da sie dem subjektiven Bedürfnis des eigenen menschlichen Überlebens entspringt, braucht es keine (moralischen) Urteile darüber, wer welche Beiträge leistet und wie qualifiziert sie im Detail sind. Wir haben die Wahrheit nicht gepachtet, machen uns aber auf den Weg, verdrängte Wahrheiten ans Licht zu bringen.
Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, wie es gelingen kann, dass eine emanzipatorische Bewegung entsteht, welche sich als eine solche versteht und voran kommen kann. Dazu braucht es viele und vielfältige Beiträge, Stile, Menschen. Festzustellen ist, dass es offenbar wenige Menschen gibt, welche sich um den kollektiven Prozess bemühen, verschiedenen Formen emanzipatorischen Handelns zusammen zu führen und diese sowohl inhaltlich als auch vom politischen Gewicht her weiter zu entwickeln.2 Ob und wie diese komplizierte Aufgabe gelingen kann, erweist sich jedoch nicht in strategischen Überlegungen, sondern im Versuch mit diesem Anspruch beispielsweise in die Materialität einer Stadt zu intervenieren.

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Warum diese Abhandlung, wenn es in diesem Beitrag um die Hausbesetzung der Neugasse 17 am 06.12. letzten Jahres in Jena gehen soll? Ein halbes Jahr nach dieser kleinen, widersprüchlichen, aber im hiesigen Kontext zumindest neuartigen Aktion will ich auf anfängliche Überlegungen verweisen, welche die Besetzer_innen offenbar bewegt haben, als sie den Versuch wagten mit dieser konsequenten und naheliegenden Aktionsform auf gewisse Dinge aufmerksam zu machen. Ich beziehe mich dabei auf die lesenswerten Hintergrundtexte, die veröffentlichte Erklärung, die anfängliche Auswertung der Aktion, dass aufschlussreiche Interview mit dem ClubCommunism3 und jenen endlosen Gesprächen, welche sich glücklicherweise jeglicher Fixierung entziehen. Ebenso wie diese und andere Aktionen, ist den auf sie bezogenen Texten anzumerken, dass sie einen Zwischenstand darstellen – Überlegungen, welche nicht im gedanklichen Raum verharren sollten, sondern mit der konkreten Absicht angestellt wurden, ein Haus zu besetzen. Thesen wie Charlie Pepper sie in der letzten Lirabelle entwickelt, sind als Beitrag zur Debatte und gelungene Reflexion begrüßenswert und durchaus hilfreich. Streiten lässt sich aber über die militärischen Konnotation, den inhaltlichen Gewinn des Begriffes „Stützpunkt“ und über seine Verwendung durch die Nachwuchsnazis. Ich verweise an dieser Stelle jedoch auf die Erklärung der Besetzer_innen, welche eben dies und keine „rein theoretische“ Reflexion ist und darum einen Unterschied der Herangehensweise verdeutlichen soll, welcher aus meiner Perspektive nicht unwesentlich ist. Darüber gilt es zu diskutieren.4
Die Aktion selbst wiederum verstand sich nicht isoliert, nicht als revolutionär oder sonstwie romantisch verklärt, sondern als Anstoß zu weiterer Debatte und Politik im lokalen Kontext. Sie versuchte damit meiner Ansicht nach nicht, „radikale Realpolitik“ zu praktizieren, sondern eine radikale Intervention in übermächtige Verhältnisse zu wagen; Vielleicht sogar, gewisse Wahrheiten über sie aufscheinen zu lassen. Es ging also um das eine konkrete Haus. Und darüber hinaus ging es paradoxerweise nicht um das eine Haus. Sondern um alles. Es geht darum, wie etwas getan wird. Aber auch: das etwas getan wird.

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Am Nachmittag des 6. Dezember fanden sich vor der Neugasse zahlreiche Unterstützer_innen des Besetzten Hauses ein, welches 18 Stunden später brutal von der Polizei (unter anderem der Landesbereitschaftspolizeieinheit „Bison“) geräumt werden sollte. Mit Transparenten und Ansagen durch Megaphon wurde von den Besetzer_innen auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht, mit Flyern auf Inhalte und Ziele der Aktion hingewiesen und ein Brief an die Nachbarschaft verteilt. Im Erdgeschoss wurde mehr symbolisch als de facto das Infocafé „Wolja“5 eröffnet, welches von den oberen Etagen getrennt war, in denen sich die Besetzer_innen aufhielten. Um eine dauerhafte Unterstützung zu ermöglichen, wurde vor dem Haus eine permanente Kundgebung angemeldet, deren Status nach Versammlungsrecht, bei der Räumung am nächsten Mittag durch die Polizei gebrochen wurde. Dieser faktische Rechtsbruch wurde später im Thüringer Innenausschuss dementiert und die notwendige Aufklärung darüber durch Staatsvertreter unterbunden.
Während der Besetzung kam es zu keinerlei „Verhandlungen“6 mit dem Eigentümer JenaWohnen in Vertretung des Geschäftsführers Stefan Wosche-Graf, von dessen Seite aus. Die entsprechende Möglichkeit dazu wurde den Besetzer_innen nicht eröffnet, sondern aus taktischen Gründen von Polizeichef Treunert lediglich behauptet, welcher mit fingierten „Angeboten“ auf „Straffreiheit“ offenbar versuchte, die Besetzung sang- und klanglos untergehen zu lassen um die Ordnung wieder herzustellen. Gleichfalls zeigte sich Oberbürgermeister Albrecht Schröter zu keinerlei Verhandlungen über das konkrete Gebäude bereit, sondern machte sich bei seinem Auftreten unmittelbar vor der Räumung in unglaublicher Weise lächerlich, indem er die Besetzer_innen als Stalinisten beschimpfte und sein eigenes „Engagement gegen Rechts“ betonte. Er hätte die Gelegenheit auch nutzen können, um ein paar Worte über die lange Geschichte der Zusammenarbeit der Thüringer Polizei mit Faschos und die Verstrickung staatlicher Behörden mit dem Nazidreck zu verlieren, welcher auch und gerade von hier kam und kommt.
Unter den Unterstützer_innen zeigte sich eine gewisse Desorientierung und Ratlosigkeit, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die Aktion einer Besetzung für viele Menschen wenig bekannt ist und es Kommunikationsschwierigkeiten gab. Insofern kann sie aber als Beitrag dafür gelten, überhaupt den Grund für derartiges Agieren vor Ort zu legen, abgesehen von der Erweiterung der Debatte, welche dadurch ermöglicht wurde. Bei allen Widersprüchlichkeiten und einer wohl zeitweise recht unangenehmen Stimmung vor dem Haus, ist allerdings auch zu betonen, dass im Laufe des Abends und der langen Nacht bei widrigen Wetterumständen überhaupt viele Menschen beim Haus waren. Aus verschiedenen Gründen gelang es aber nicht, auch am nächsten Mittag viele Menschen vor Ort zu haben, welche Zeug_innen der Räumung hätten werden können, geschweige denn, diese zu verzögern.
Ebenfalls gab es keine weiteren bekannten dezentralen Aktionen an anderen Stellen, was die Frage nach dem Spannungsfeld von Spontaneität und Organisation aufwirft und deutlich werden lässt, dass an beidem notwendigerweise gearbeitet werden muss, um auf derartige Ereignisse reagieren zu können. Zudem gab es zwar viele vereinzelte Gespräche über die Situation, nicht jedoch eine gemeinsame Auseinandersetzung mit ihr vor Ort. Dass diese aber im Nachhinein – zumindest in inoffizieller Weise – geführt wurde, war ein wichtiger Bestandteil des Prozesses, wo Menschen all zu oft nach Aktionen mit ihren Gefühlen und Gedanken allein bleiben/gelassen werden und darum auch wenig Bewusstseinsbildung geschieht. Insgesamt ist der Verlauf der Unterstützung als wirkliche Erfahrung auf unbekannten Terrain anzusehen – das gilt aus meiner Sicht für alle Beteiligten, unabhängig von ihren bisherigen Erfahrungen. Es stellt sich darum auch jetzt, ein halbes Jahr später, die Frage, wie wir mit diesen Erfahrungen umgehen und was wir damit anstellen.
Bei der Räumung selbst zeigte sich, dass die Polizei die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte. Unter anderem hatte sie eine Gefangenensammelstelle in der Kahlischen Straße eingerichtet, in welcher zeitweilig vier Menschen interniert wurden, bevor diese auf der Polizeiinspektion verhört werden sollten. Zwei Menschen vor dem Haus wurden von der Polizei verletzt und bekamen deswegen Anzeigen auf Widerstand gegen die Staatsgewalt. Glücklicherweise sind diese inzwischen aufgrund ihrer Unhaltbarkeit fallen gelassen worden. Eine völlig unnötigerweise durch Polizisten verletzte Person hat sich wieder erholt. Dennoch haben drei Menschen offene Verfahren wegen Hausfriedensbruch am Laufen, deren Ausgang noch offen ist und sicherlich noch eine Weile auf sich warten lassen wird. Dies gilt es weiter zu verfolgen, denn eine langfristige Unterstützung der Besetzer_innen ist notwendig, um den politischen Gehalt einer eintägigen Aktion zu verdeutlichen. Denn diese ist eben nicht als isoliertes Ereignis sondern Prozess zu verstehen, welcher mit allen Menschen geschieht, die sich auf unserer Seite mit diesen Dingen auseinandersetzen.

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Momentan ist die Diskussionen um die Frage, wie wir in dieser Stadt Raum ergreifen können noch nicht abgebrochen. Nach der Besetzung gab es einige gute Graffitis, Plakate und eine weitere symbolische Aktion.7 Weiterhin wurde unabhängig davon ein neuer „Raum“ erschlossen, welcher – wenn auch im Privatbesitz – die Chance beinhaltet, auch inhaltlich weiter zu kommen. Ein weiterer Szene-Treffpunkt ist dabei freilich etwas anderes als eine Hausbesetzung, welche unmittelbar in die Struktur der Stadt hinein wirkt.8
Was sich konkret tut und möglich werden kann, hängt von den Menschen ab, welche sich mit dieser Thematik beschäftigen. Es geschieht eben mit und durch die Menschen, die sich einer solchen Beschäftigung widmen, nie gegen sie oder über sie hinweg. In diesem Sinne will Intervention organisiert sein.

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1
Siehe in dieser Ausgabe ab S. 40.

2
Hierbei geht es nicht darum, beliebig „alle Leute mit ins Boot“ zu holen, sondern gezielt Menschen auf einen gemeinsamen Weg der Selbstermächtigung mitzunehmen. Weder ist eine inhaltlich diffuse und nicht-radikale Bewegung erstrebenswert, noch sind es die selbstgenügsamen und elitären Kreise, in denen viele von uns sich bewegen oder die innere Emigration vor dem einsamen Schreibtisch etc… Gäbe es eine sogenannte „Mosaik-Linke“, könnte auch diese nur ein Bild ergeben, wenn die Konturen der einzelnen Steine klar gezogen wären.

3
u.a. „Über den Willen zu tun“ und „Vom Sinn, Zweck und Versuch einer Hausbesetzung in Jena“ auf: http://wolja.noblogs.org; sowie „Interview zur Besetzung der Neugasse 17“ auf: http://clubcommunism.wordpress.com/2014/03/06/176/

4
Beispielsweise ist zu lesen, dass: „die Hausbesetzung an sich einen geringen Beitrag zu langatmigen Kämpfen gegen Privateigentum, die Verwertung sämtlicher Lebensbereiche und die dafür notwendige hierarchische Strukturierung der Gesellschaft dar[stellt]. Die Aktion kann nur einen neuen Raum eröffnen, als Startpunkt gesehen werden, sich weitere Räume anzueignen, in denen die widerständige Praxis reflektiert werden kann. Reflektion und das Verstehen der allgegenwärtigen Widersprüchlichkeiten ermöglichen überhaupt erst eine Bewegung. Die Besetzung schafft keinen Freiraum – sie schafft einen Raum für Befreiungsprozesse.“ (Hervorhebungen von mir), von: http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/06/jetzt-hausbesetzung-in-jena/

5
„Wolja“ ist ein schwer fassbares ukrainisches Wort welches Wille, Weite, Sehnsucht und Freiheit meint. Die paradoxe Offenheit und Bestimmtheit des Begriffs scheint dem Versuchscharakter der Besetzung zu entsprechen. Dass die Situation in der Ukraine sich auf die bekannte Weise zuspitzte, war offenbar nicht abzusehen, schafft aber im Nachhinein ganz eigene Assoziationen…

6
Die Besetzer_innen formulierten deutlich, dass sie von der Stadt konkret dieses Gebäude fordern und sich ansonsten der Gewalt des Räumung aussetzen würden, welche sie dann erfuhren. Es ging dabei nicht um eine fundamentale Anti-Haltung gegenüber jeglichen Verhandlungen und einer Realitätsverweigerung im Allgemeinen, sondern um die Bedingungen, nach welchen Verhandlungen in Erwägung gezogen werden könnten. Sind diese nicht erfüllt, ist das konsequente Aufzeigen der eigenen Position bedeutungsvoller, als sich von der bürokratischen Maschine zermahlen zu lassen. In diesem Sinne hatte die Besetzung in Jena nichts mit jener in Ilmenau zu tun, sondern stimmt weitestgehend den Schlussfolgerungen zu, welche Ox Y. Moron vor längerer Zeit zog: „Vom Hausbesetzer zum Standortschützer“. (Vgl. Lirabelle #3, S. 22-27.)

7

Es gibt immer ein zweites Mal…

8

Wolja lässt grüßen… – zu einer widersprüchlichen Raum-Ergreifung

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