Kexer berichtet, wie es um den staatlichen Angriff auf Arbeitslose zehn Jahre nach der Einführung von Hartz IV bestellt ist.
Vor nunmehr 10 Jahren traten die ‚Hartz-Reformen‘ in Kraft. Während es zur Einführung von Hartz-IV mit einem Sektfrühstück vor dem Arbeitsamt noch eine kreative Aktion gab und später die ‚Arbeitsmuffel‘ eine offensive Unterstützung und Begleitung von Betroffenen anboten, ist es mittlerweile sehr ruhig um dieses Thema von Seiten radikaler Linker geworden. Dabei ist der Terror durch die Verhältnisse keineswegs geringer geworden, die sogar Todesopfer fordern, wie unter http://dieopferderagenda2010.wordpress.com nachzulesen ist. Deshalb ist es m.E. Zeit mal wieder hin zu schauen, auch und gerade in einer Zeitschrift mit radikalem linken Anspruch. Nicht nur, weil das Thema aus dem Fokus verschwunden ist, sondern weil hier bislang vor allem intellektuelle Spiegelfechtereien über den „richtigen“ Antifaschismus und die tiefgreifendste Kapitalismuskritik stattfinden. Wer’s mag, bitte sehr. Aber es sollte auch um Menschen, deren Probleme und Bedürfnisse gehen.
Darum richte ich die Perspektive auf die konkrete Situation von Betroffenen. Der Fokus liegt dabei auf sogenannten ‚Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung‘ (AGH) – das waren früher die ‚1-Euro-Jobs‘, heute gibt es 1,20€ -, der ‚Neukundenaktivierung‘ und der derzeit florierenden Branche der Arbeitsvermittlung in Zeitarbeit. Diese Einschränkung mache ich, weil ich in diese Bereiche einen tieferen Einblick habe. Als allgemein bekannt und akzeptiert setze ich hier voraus, dass die Hartz-IV-Sätze unverschämt zu niedrig sind und statt dessen ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt gehört. (Wer da anderer Meinung ist, kann gern eine Diskussion darüber beginnen.)
Über die Floskel des ‚Fördern und Fordern‘ lohnt eine Betrachtung eigentlich nicht. Jede_r die_der mal eine Eingliederungsvereinbarung gelesen hat, weiß, dass von den Betroffenen nur gefordert wird. Die andere Seite, also Jobcenter/ Agentur für Arbeit, sehen das natürlich ganz anders. Aus deren Sicht ist selbst die unsinnigste Zwangsmaßnahme noch Förderung, weil nur zum Besten des ‚Kunden‘. Wer dagegen eine vielleicht sinnvolle Weiterbildung oder Umschulung haben will, muss schwer darum kämpfen. Wenn der entsprechende Finanz-Topf bereits ausgeschöpft ist, hat sie_er kaum eine Chance, selbst wenn es bereits eine konkrete Jobzusage gibt.
Der Rat eine Eingliederungsvereinbarung (EGV) nicht zu unterschreiben ist übrigens so richtig wie müßig. Es zeigt zwar eine gewisse Renitenz, führt allerdings – neben einem entsprechenden Aktenvermerk – nur dazu, dass aus der EGV ein Verwaltungsakt mit der gleichen Verbindlichkeit und den selben Rechtsfolgen wird.
Arbeitsgelegenheiten (AGH)
Auf den ersten Blick sind AGH-Maßnahmen rundweg abzulehnen, was prinzipiell auch richtig ist. Bei einem zweiten, genaueren und differenzierteren Blick wird die Materie komplizierter und es stellen sich die Fragen: Wer wird da warum hin geschickt, bzw. geht da hin und was wird da eigentlich gemacht?
Letzteres lässt sich am einfachsten klären: Laut Gesetz dürfen die Tätigkeiten nicht in Konkurrenz zu regulären Jobs stehen und nicht auf dem freien Markt angeboten werden. Das ist natürlich alles dehnbar und Auslegungssache. Es bleiben gemeinnützige Arbeiten. Da werden beispielsweise aus Sperrholz mit Laubsägen u.a. einfachen Werkzeugen s.g. Lehr- und Lernmittel gefertigt und noch bunt angemalt. Die Ergebnisse werden dann gegen Spendenquittung an Kindergärten und Schulen abgegeben. An anderen Stellen werden Handarbeiten (Häkeln, Stricken, etc.) verrichtet und Schmuck und Accessoires für diverse Feste des Jahres (Ostern, Weihnachten etc.) angefertigt.
Die Mitarbeiterinnen des Jobcenter – es sind tatsächlich in der überwiegenden Mehrzahl Frauen – sehen darin eine [O-Ton] „Erziehungsmaßnahme. Da sollen die Teilnehmer das regelmäßige pünktliche Erscheinen und das ordentliche Arbeiten lernen.“ Dadurch sollen die Teilnehmenden auf ihren Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt vorbereitet werden, so die Argumentation des Jobcenters. Geschickt werden deshalb alle, denen die genannten „Tugenden“ (wieder) beigebracht werden sollen. Dieses Ansinnen ist nicht nur eine Frechheit gegenüber der Selbstbestimmung der Betroffenen, sondern auch völlig absurd, wenn man mal hinschaut, wer die Maßnahme aufgedrückt bekommt. Ein gewisser Teil der Zugewiesenen meldet sich gar nicht erst und nimmt lieber eine Kürzung hin, die immerhin 30% der Regelleistung (seit diesem Jahr 391€) beträgt.
Die die kommen, lassen sich grob in 2 Gruppen einteilen: Eine recht kleine Gruppe sind diejenigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt eventuell noch eine Chance hätten, aber nix kriegen und auch nicht unbedingt wollen. Die machen zumeist in aller Ruhe ihr Ding und nehmen den 1,20 € pro Stunde als Zubrot mit. (Bei 30 Std./Woche kann mensch im Monat auf bis zu 150€ kommen.)
Die zweite Gruppe stellt die überwiegende Mehrheit dar. Das sind Langzeitarbeitslose (5 Jahre und mehr sind keine Seltenheit) mit echten Schwierigkeiten bzw. ‚Vermittlungshemmnissen‘. Diese reichen von Analphabetentum über körperliche Leiden und Einschränkungen bis zu Drogen- und Alkoholproblemen.
Bleibt die Frage, was die Menschen – außer der Sanktionsdrohung – bewegt an einer solchen Maßnahme teilzunehmen. Ein sicher nicht unerhebliches Motiv ist die Möglichkeit mit relativ wenig Aufwand das persönliche Einkommen um ca. ein Drittel zu erhöhen. Aber die Motivation geht oft tiefer. Gerade denjenigen denen klar ist, dass sie keine Chance haben einen regulären Job zu finden, ist es persönlich wichtig etwas (scheinbar) Sinnvolles zu tun. Diesen Teil der Motivation zu ignorieren würde in der Bewertung der Gesamtheit einen Anteil der Menschen ausblenden. Außerdem ist sie ein guter Beleg dagegen, dass Hartz-IV-Empfänger_innen nur ‚auf der faulen Haut‘ liegen und keine gesellschaftliche Aufgabe und/oder Verantwortung übernehmen wollen. Auf der persönlichen Ebene ist es vielen wichtig, in Kontakt mit Anderen zu kommen, die in einer ähnlichen Situation sind. Das ist dann teilweise ein Ausbruch aus Vereinsamung, Isolation und Suchtkreisläufen, in denen sich nicht wenige befinden. Auffallend ist auch der Versuch Anschluss an Leute (Anleiter_innen, Angestellte etc.) zu finden, die aus TN-Sicht gesellschaftlich höher stehen.
Nicht außer Acht gelassen darf bleiben, dass gerade viele der ‚aussichtslosen‘ TN die „Arbeitstugenden“ verinnerlicht haben und als Abgrenzung gegen andere verwenden. Auch werden öfter die Vorurteile der ‚faulen, sozialschmarotzenden Ausländer‘ kolportiert. Was allerdings schon dadurch ad absurdum geführt wird, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund in der Maßnahme sitzen und diese die ‚Arbeitstugenden‘ vielfach besser erfüllen als die ausländerfeindlichen Bio-Deutschen.
Die Aufgaben der Anleiter_innen in dem System sind: Die Zuteilung der und Einweisung in die Aufgaben, aber vor allem die Umsetzung des erzieherischen Teils. D. h. Anwesenheit kontrollieren und Fehlzeiten ohne wichtigen Grund sofort zu melden, auf die Motivation der Teilnehmenden einzuwirken und über Gespräche und Vorkommnisse jeglicher Art Protokolle zu führen. Gerade diese Sachen sind Bestandteil der mindestens monatlichen Inspektionen von Vertreter_innen der örtlichen Arbeitsagentur, die auch noch die Zulässigkeit der Art der Arbeiten und die Arbeitsbedingungen prüfen. Dabei geben sie sich zumeist jovial und begründen eine etwaige Penibilität mit eigenem geprüft werden durch eine höheren Instanz. Von den Besuchen der Arge erfährt man meist informell und kann die Unterlagen und Arbeitsplätze entsprechend vorbereiten. Dabei sollte nicht alles zu ordentlich sein, um die Existenzberechtigung der Kontrollen nicht zu gefährden und den Anschein der echten Zufälligkeit dieser Kontrollen zu wahren – ein feinfühlig arrangiertes Schauspiel. Dagegen kommen die vierteljährlichen Kontrollen des ‚Regionalen Einkaufzentrum (ReZ)‘ in der Regel tatsächlich unangekündigt. Mängel und Nachlässigkeiten, wie offene Getränke und Essen an den Arbeitsplätzen oder überfällige Fehlzeitmeldungen ans Jobcenter, fallen da auf. Beim Erscheinen dieser Kontrolleur_innen bricht meist hektische Betriebsamkeit aus: Die Geschäftsleitung bittet zum Gespräch und serviert Cappuccino, während Teilnehmer_innen und Anleiter_innen schnell Arbeitsplätze und Papiere in Ordnung bringen. Im Ganzen ein gutes Beispiel dafür, wie Druck und Kontrolle von oben nach unten weitergegeben und legitimiert werden. Auf den unteren Ebenen gibt es dabei einen gewissen Auslegungs- und Handlungsspielraum. Praktisch zeigt sich das z.B. daran, wie streng die Einhaltung der Arbeitszeit kontrolliert wird oder ob unentschuldigte Fehlzeiten sofort oder erst nach mehreren Tagen weiter-gemeldet werden. Da spielen dann Wohlverhalten und persönliche Sympathien zwischen Anleiter_innen und Teilnehmer_innen eine gewichtige Rolle. Und natürlich gibt es auch bei den Anleiter_innen eine Vielzahl, die den Erziehungscharakter der Maßnahme anerkennen, verinnerlicht haben und umsetzen.
Wie ist das Ganze also zu bewerten? Die Perspektive des Jobcenter ist natürlich idiotisch. Selbst für Menschen die unbedingt auf den ersten Arbeitsmarkt wollen sind Arbeitsgelegenheiten absolut keine Sache, die deren Chancen verbessert. Aus Sicht der Teilnehmenden ist die Einschätzung ambivalenter. Für Einige geht es neben dem Geld auch um soziale Kontakte und ein gehobenes Selbstwertgefühl. Nicht Wenige haben das „Arbeitsregime“ des Kapitalismus internalisiert und wollen es auch für sich so, selbst wenn sie auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben.
Neukundenaktivierung
Wer Hartz-IV-Leistungen neu bzw. das erste Mal beantragt, wird derzeit in der Regel sofort zur Neukundenaktivierung (NKA) oder zum Karriere-Coaching geschickt. Das geschieht zuweilen ganz ohne dass der betroffene Mensch der_dem Vermittler_in persönlicher als aus der Akte bekannt ist. Auch in Erfurt gibt es einige Bildungsträger, die großteils von solchen Kursen leben. Oberstes Ziel ist die ‚Eingliederung‘ – also Vermittlung – in den Arbeitsmarkt, egal um was für Jobs es sich handelt und wie mies die bezahlt sind. Da ist es auch „nicht so schlimm“, wenn trotz Job weiterer Leistungsbezug nötig ist. ‚Hauptsache Arbeit‘ ist die Parole. Das heißt für die Meisten: Sie werden in die Zeitarbeit gedrängt und sollen das machen, was gerade gebraucht wird. In Erfurt bedeutet das, dass mindestens 50% in den Bereich Lager/Logistik geschickt werden, also zu Zalando, redcoon, dem KNV-Buchgroßhändler o.ä.. → Über die dortigen Arbeitsbedingungen würde sich eine gesonderte Betrachtung aus linksradikaler Perspektive lohnen.
Bei den Kursen der NKA ist daher die erste Aktion: Lebenslauf schreiben und Anschreiben formulieren, damit sich die hauseigenen Arbeitsvermittler_innen ‚kümmern‘ können. Dazu kommen dann ‚Exkursionen‘ und Betriebsbesichtigungen, sowie sogenanntes ‚Mobilitätstraining‘. Dabei sollen die Teilnehmenden lernen, wie sie z.B. ins Güter-Verkehrs-Zentrum (GVZ) kommen oder wo und wie sie ein billiges, gebrauchtes Auto kaufen. Weiterhin natürlich Alles für eine erfolgreiche Bewerbung, Gesundheits- und Ernährungsberatung sowie etwas Psychologie und Neurologie (Bewusstsein/ Unterbewusstsein). Ein Thema für knapp 2 Stunden sind die Pflichten als Hartz-IV-Bezieher_in. Dagegen werden die Teilnehmer_innen über ihre Rechte und Möglichkeiten innerhalb des Systems, um wenigstens noch das Beste und Meiste für sich heraus zu holen, nicht aufgeklärt.
So werden mit mehr oder weniger sinnvollen Inhalten 3 Monate gefüllt. Oft geschieht das durch Honorardozent_innen, die selbst prekär beschäftigt sind.
Eine Sache der alle Kund_innen der Agentur für Arbeit unterliegen, ist der Zwang Bewerbungen zu schreiben. Es gilt eine festgelegte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben. Völlig egal ist dabei, ob die angebotenen Jobs passen oder nicht – es kommt nur auf die Anzahl an. Diese Bemühungen um Arbeit sind zu dokumentieren und der_dem Arbeitsvermittler_in vorzulegen. Damit bei den Nachweisen nicht gemogelt wird, wurde bei der Agentur extra eine Abteilung eingerichtet, wo die Bewerbungsbemühungen kontrolliert werden. Das heißt nichts anderes, als das jemand die angegebenen Firmen abtelefoniert und fragt ob sich Person XY beworben hat. Wenn ja, werden Arbeitswille und -einstellung abgefragt bzw. der Grund einer Ablehnung. Sollte sich die Person am Telefon keiner Bewerbung erinnern, wird bei der dritten falsch angegebenen Bewerbung automatisch eine Sanktion – sprich Leistungskürzung – verhängt und die_der Betroffene zu einem Gespräch geladen. Selbiges geschieht, wenn als Ablehnungsgrund zu häufig mangelhafte Arbeitseinstellung genannt wird.
Zeitarbeit
Viele die heute von Hartz-IV in Arbeit kommen oder vermittelt werden, landen in der Zeitarbeit. Dort sind sie „flexibel einsetzbar“, schlecht bezahlt und eigentlich jederzeit kündbar. Dagegen wehren können sich ALG II-Bezieher_innen nicht bzw. kaum, da sie jede zumutbare Arbeit annehmen müssen. Was ‚zumutbar‘ ist, wird meist nicht wirklich überprüft. Unzumutbarkeit muss oft erst gerichtlich festgestellt werden, was natürlich dauert. Bis dahin muss entweder die Arbeit gemacht werden oder die_der Betroffene muss mit einer Kürzung leben.
Eigentlich war Zeitarbeit – genauer ‚Arbeitnehmerüberlassung‘ – gedacht als Instrument um kurzzeitigen Mehrbedarf an Arbeitskräften zu überbrücken. Wobei ‚kurzzeitig‘ ein sehr dehnbarer Begriff zu sein scheint. Ich kenne jemanden, der seit 11(!) Jahren als Zeitarbeiter angestellt ist. Er macht die gleiche Arbeit wie seine fest angestellten Kolleg_innen, bekommt aber nur knapp 2/3 deren Lohns.
Wer nun hofft in Zeitarbeit dem Terror der Arbeitsmaschine entkommen zu sein irrt. Denn wagt sich ein_e Zeitarbeiter_in zu oft oder zu lange krank zu sein, wird sie_er zum Personalgespräch in die Zeitarbeitsfirma bestellt. Ziel ist die Reduzierung der krankheitsbedingten Fehltage oder die Kündigung von Seiten der Arbeitnehmer_in. Da ihm_ihr dann sofort eine Sperre beim Arbeitslosengeld droht, wird sie_er die Kündigung vermeiden und sich auch noch krank zur Arbeit schleppen.
Übrigens ist auch die Seite des_der Disponent_in – Arbeitskräfteverwalter_innen in der Zeitarbeitsfirma – kein Schonplatz für älter gewordene Linksradikale. Sollte der Krankenstand der Kund_innen nämlich über längere Zeit zu hoch sein, „assistiert“ – besser gesagt ‚überwacht‘ – die Teamleitung die Personalgespräche durch Teilnahme. So wird dafür gesorgt, dass auch wirklich Druck ausgeübt wird.
Fazit
Die geschilderten Maßnahmen und Zustände zeigen m.E. deutlich die Absurdität des ganzen Systems und liefern beste Gründe für eine Abschaffung von Hartz-IV zu kämpfen. Dieser Kampf darf jedoch die Betroffenen nicht aus dem Auge verlieren. Bis zur Abschaffung bedarf es einer kritischen Solidarität, welche die Betroffenen ernst und wahr nimmt. Anzuprangern sind die willigen Exekutor_innen des Terrors und zu demaskieren die Firmen, die davon profitieren!