Eine antirassistische Demo gegen das europäische Grenzregime brachte am 22. Juli 2023 ordentlich Drehzahl auf Erfurts Straßen. Anna Nein war nicht dabei, hat aber den Erfahrungsberichten von vielen Menschen zugehört und daraus einige Eindrücke zu einer Rückschau zusammengestellt.
Wer nicht so viel Zeit hat, für den reduziert es der MDR aufs offenbar Wesentliche: Die Demo fand unter besagtem Motto statt, so und so viele Menschen waren da, die „mehr menschenunwürdige Zustände in Lagern und ein Sterbenlassen an den Außengrenzen befürchten“ und die für Verzögerungen im Straßenbahnverkehr sorgten. Wovon auch die zahlreichen Fußballfans betroffen waren, die wegen eines Spiels Dortmund gegen Erfurt ebenfalls in der Stadt unterwegs waren.
Dem Aufruf der Jugendlichen ohne Grenzen Thüringen und der Seebrücke Erfurt vorangegangen war wenige Wochen zuvor ein offenes Aktionsplanungstreffen. So erstaunlich gut es besucht war, so viel Frust und Ratlosigkeit herrschte angesichts der geplanten Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) – eines Systems, das jetzt schon tausende Tote jährlich durch Ertrinken, Erfrieren, Verhungern und ganz aktive körperliche Gewalt an den EU-Grenzen fordert. Auch wenn viel Einigkeit darüber bestand, dass eine oder auch zehn Demos die europäischen Innenminister*innen nicht noch umstimmen werden, dass Appelle und Bitten nichts mehr bringen, teilten alle den Wunsch irgendetwas zu tun. Also ab auf die Straße und es zumindest nicht stillschweigend geschehen lassen.
Der Protest wurde zusammen mit vielen weiteren Aktivist*innen organisiert. Manche haben zum ersten Mal aktiv eine Demo mitgestaltet. Es wurden endlich mal wieder fleißig Plakate verteilt, mehrsprachige Flyer in die Städte und unter die Leute gebracht. Menschen sind zur Demo angereist. Viele junge Leute waren da. Viele, die selber Erfahrungen mit Flucht, Migration und mit dem europäischen Grenz- und Lagersystem und dessen Rassismus haben. Auch aus Lagern in Thüringen sind Menschen gekommen. Insgesamt um die 300 Teilnehmer*innen hat jemand gezählt. Nach der nicht langen, aber intensiven und breiten Mobilisierung wäre da mehr gegangen, nicht wenige Leute waren (so wie ich) wohl irgendwo im Sommerloch verschwunden. Doch ich unterstelle mal, dass auch in der Urlaubssaison ein Höcke mehr selbst deklarierte Antifaschist*innen und Antirassist*innen auf die Straße bringen würde als die ziemlich konkreten Pläne, in Sachen EU-Abschottung nochmal brutal einen draufzusetzen. Dabei reden wir hier von Plänen, die die Ampelkoalition auch Hand in Hand mit mehr oder weniger neuen Faschist*innen verzapft, wie sie in Italien und Ungarn tatsächlich regieren.
„Wenn das diese Demokratie ist, dann zur Hölle damit.“
Die Pläne der GEAS-Reform laufen grob darauf hinaus: Noch mehr Einknasten in Grenzlagern – für quasi alle, für Klein und Groß, die „irregulär“ ankommen. Schnelle Verfahren mit weniger lästiger Überprüfung von Fluchtgründen und schnellere noch einfachere Abschiebungen in noch mehr „sichere“ Länder. Und wer als EU-Mitgliedsstaat wirklich so gar keinen Bock auf noch mehr schutzsuchende Menschen hat, kann sich von seiner Aufnahmeverpflichtung freikaufen, das Geld fließt dann zum Beispiel an anderer Stelle in der EU in mehr Grenzschutz. Es könnte nun wirklich keinen treffenderen Namen für diese Idee geben als „Solidaritätsmechanismus“. Von Bauchschmerz geplagte Grüne schreiben an den besten Geschichten mit.
Die Demo war ein Raum für uns: Menschen konnten Wut und Trauer rauslassen, Vermissen von verlorenen, verstorbenen oder zurückgelassenen Menschen, eigene Verletzungen. Dinge, die einfach raus müssen und die im Alltag oft keinen Platz finden. Menschen erzählen mir, dass vor allem die erste Hälfte der Demo einfach richtig gut war, dass es sich richtig solidarisch, zusammenhaltend und stärkend angefühlt hat. Dass Menschen für sich selbst sprechen konnten, anders als – wie zu oft gewohnt – nur jemand anders für oder über sie spricht. Viele Reden kamen von Aktivist*innen, die den systematischen, behördlichen und alltäglichen Rassismus selbst erfahren.
„Es gibt immer noch Rassisten, die hier in den Cafés sitzen, Kaffee trinken aus Afrika, aber keine Afrikaner hier haben wollen. Solange ihr uns, unsere Länder und Ressourcen ausbeutet, kommen wir.“
Es wurde viel und laut gerufen, was wir seit Jahrzehnten rufen: Dass Grenzen auf und Zäune zerschrottet gehören, dass Abschiebungen gestoppt werden müssen, dass fliehende Menschen willkommen sind, uvm. Noch Tage später waren Menschen heiser – und schienen, darauf angesprochen, sehr froh darum. So herzlich man miteinander war, so klare Worte gingen unmissverständlich und unversöhnlich an die vielen schlendernden, kaufenden, mampfenden, schlürfenden Menschen in der Innenstadt. Ohne große Umschweife und hochtrabendes Verlesen von Analysen brachten Redner*innen auf den Punkt, wie ungebrochen Kolonialismus und Kapitalismus sich niederschlagen im normalisierten Rassismus. Und machten klar, dass uns allen ein freies Leben und Bewegungsfreiheit nicht erst durch unsere Nützlichkeit oder Verwertbarkeit zustehen.
So betrachtet wäre das alles also ein richtig starker Tag gewesen. Doch die Stimmung der Menschen, die mir berichten, wechselt im Laufe ihrer Erzählung immer wieder von Begeisterung zu Unmut und Besorgnis. Eine Person erzählt, dass ihr noch nie auf irgendeiner Demo so eine breite Aggression und rechte Grundstimmung entgegen schlagen sind, dass es derartig das Stadtbild geprägt hat. Jemand anders hatte zum ersten Mal in Erfurt Angst, dass es nicht bei Anmachen und Pöbeleien bleibt, sondern es zu körperlichen Angriffen auf sie oder andere Demoteilnehmer*innen kommen könnte. Klingt für manche vielleicht auch für Thüringen normal, doch für alle Menschen, die ich gefragt habe, war es wirklich dolle. Offensive Feindseligkeit ging nicht nur von erkennbaren Fußballfans und offensichtlichen Neonazis aus, sondern auch von äußerlich unauffälligem gutbürgerlichen Publikum.
Ein Hitlergruß zum Auftakt, aus einem Restaurant an der Route skandiert ein Typ was vom „Nationalen Widerstand“ und erntet von weiteren dafür Applaus. Unvergesslich bleiben manchen die Blicke und rassistischen Beleidigungen. Ein Fascho spaziert auf der Abschlusskundgebung zum Lautsprecherwagen und wirft schwarze Luftballons mit aufgedruckten Penissen auf die Person am Steuer. Es brodelte zur gleichen Zeit an anderen Stellen, weshalb er er nicht gestoppt wurde.
Mehrere Leute sagen mir, dass sie es ungern eingestehen, aber, wären die Bullen an ein paar Stellen nicht dazwischen gegangen, hätte es geknallt – und wäre vermutlich scheiße für unsere Leute ausgegangen. Geschenkt, dass die Cops auch oft genug geträumt oder mit Nazis rumgekumpelt haben. Die wenigsten waren auf so ein Level vorbereitet.
Lag es am Spieltag und den vielen aufgekratzten vor allem Männern mit dem ausreichenden Schlückchen angetrunkenem Mut zur rassistischen Hetze? War Erfurt an jenem Samstagmorgen einfach mit dem rechten Fuß zuerst aufgestanden? Oder wird das in Zukunft nun einfach immer genau so und noch mehr?
Ob Menschen die Demo trotzdem an diesem Tag durchgezogen hätten, wenn sie vorher dieses dämliche Fußballspiel auf dem Schirm gehabt hätten? Die meisten sagen ja. Eine*r findet „dann erst recht“. Doch dann werden wir zusammen nachdenklich – wir bleiben trotzig und finden das richtig, doch das bedingungslose Bejahen fühlt sich doch mit der präsenten Erfahrung an, als würden wir Menschen in Gefahr bringen.
Ein praktischer Lerneffekt wird öfter wiederholt: Es hätte mehr und erfahrenere Ordner*innen gebraucht. An Tagen wie diesen sollten wir – nicht nur für die Außenwirkung, sondern auch in Solidarität miteinander – mehr Menschen sein. Wir brauchen kollektiv mehr einsetzbares Wissen und Skills, wie wir unsere Demos besser schützen und zur Not verteidigen können. Viele weitere Schlüsse müssen wir gemeinsam aus den Erfahrungen ziehen, also bitte: Setzt das fort, lasst euch nicht entmutigen.
Trotz all den beklemmenden, bedrohlichen und brenzligen Momenten am 22. Juli wogen diejenigen ebenso schwer, in denen am Mikrofon jemand genau das sagte, was eine andere gerade fühlt und für das sie keine Worte findet. Und die Momente, in denen sich Menschen einfach wie Bolle gefreut haben über die vorbeilaufende Demo und die Solidarität, die sie nach außen getragen hat.
„Auch wenn sie ganz Europa verbarrikadieren – wir werden kommen. Europa gehört uns allen, genauso die Ressourcen.“