Simon Rubaschow spürt der Bedeutung von Wut, Angst und Traurigkeit für radikales Denken und revolutionäre Praxis nach. Der Autor ist Mitglied im Club Communism.
Zugegeben, beim ersten Lesen des Textes aus der letzten Lirabelle, der mit ‚L&M’ signiert ist, „Wer nicht wütend ist, kann nicht denken“ wurde ich wütend. Diese Wut nötigte mich, den Text an einem Stück zu lesen, ohne dass sie sich legte. Sie speiste sich aus dem Gefühl, ‚L&M’ übernehmen unredlich Argumente aus den Texten, die sie kritisieren und geben sie als Gegenposition aus, etwa wenn sie mit dem für ihre Argumentation zentralen Position der „Abhängigkeit der Theorie von der Praxis“ auch nicht mehr sagen, als jenes, was ich mit dem Fazit ausdrückte: „Theorie muss, wie schon erwähnt, von der Empirie ausgehen.“1 Ob es sich hierbei wirklich um unredliche Absicht handelte, wie mir meine Wut einflüsterte, wage ich zu bezweifeln – vielleicht ein erster Hinweis darauf, dass sich wütend nicht ganz so gut denken lässt, wie im zitierten Titel des Artikels behauptet.
Die Wut hielt nicht lange, ich las die Lirabelle als Frühstücksliteratur am 21. Dezember und befand mich in Hamburg. Und spätestens nachdem der Kaffee ausgetrunken war und ich mich auf dem Weg zum Auftaktort der Demonstration in der Schanze befand, dominierte ein anderes Empfinden mein Denken: Angst. Am Vorabend noch sachlich mit den Genoss_innen diskutiert, ab welchem Punkt der Demo-Route ein Polizeiangriff zu erwarten ist (ja, wir lagen alle falsch), vermischten sich auf dem Weg zur Demo schlechte Erinnerungen, Sorgen und Anspannung in unangenehmer Weise.
Beide Empfindungen hatten ihren Einfluss auf das Denken, und motivierten mich, der These „Wer nicht wütend ist, kann nicht denken“ zu widersprechen, die Folgen von ängstlichem und traurigem Denken zu betrachten und sie gegen ein wütendes Denkens und die ihm entsprechende Praxis zu stellen.
Zweifellos hat wütendes Denken auch einiges für sich. Gründe zur Wut gibt es in dieser Wirklichkeit mehr als genug, und Wut mag der Antrieb sein, diese schlechte Wirklichkeit abschaffen zu wollen. Auf der Suche nach einem Programm für die anvisierte Abschaffung befeuert die Wut die theoretische Erschließung der Wirklichkeit, ohne aus den Augen zu verlieren, dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern, und nicht bloß zu verstehen. Sie treibt dazu, die Wirklichkeit zu durchdenken, bis in den letzten Winkel auszuloten und detailversessen ans Licht zu holen. Und nichts ist schlimmer, als eine gleichgültige Arbeit an der Theorie, wie sie bei akademischen Theoretiker_innen häufig vorhanden ist.2
Die gleiche Wut ist es aber auch, die sich als Antrieb der Theoriearbeit auf ihren Gegenstand ausdehnt, und wo Wut auf die Vernichtung ihres Objekts zielt, zielt es auch die wütende Theorie und ihr Programm der Abschaffungen. Die bestehende Welt wird, wütend betrachtet, zu einer Welt, die weg muss, sie ist die Katastrophe – und damit liegt die Wut richtig. Sie liegt damit aber auch falsch, insofern, als dass sie tendenziell über die Ablehnung des Bestehenden darüber blind wird, dass der Kapitalismus nicht die schlechteste aller möglichen oder auch nur aller historisch vorhandenen Welten ist, genauer: dass er es ist, der die Mittel seiner theoretischen und praktischen Kritik ebenso selbst produziert, wie das Potenzial zu seiner regressiven Abschaffung. Es geht schlechter als im Kapitalismus – dafür ist ein wütendes Programm der Abschaffungen blind.
Diese Blindheit hängt damit zusammen, dass es der Wut mit ihrer praktischen Verwirklichung dringlich ist, das ist ihre Stärke wie Schwäche, denn, so konstatieren L&M zutreffend, unter Eile, wenn „man ständig […] gehetzt wird […] dann kann sich kein richtiger Gedanke entwickeln.“
Eine Schwäche, die die Wut mit der Angst teilt. Auch ängstlich ist das eigene Denken ein gehetztes. Anders als das wütende ist das ängstliche Denken aber ein grundlegend defensives; sie zielt nicht zwingend auf die Vernichtung ihres Objekts, sich ihm zu entziehen, genügt ihr. Ihr Objekt teilt sie sich mit der Wut, die Zumutungen da draußen, aber auch – da das ängstliche Denken, wohl stärker als die Wut, auf eine_n selbst gerichtet ist – als Selbstmisstrauen. Es erschließt in seiner Angst das eigene Denken und Fühlen, auf das die Wut sicher aufbauen muss, um sich auf die Welt zu richten und diese zu zerschlagen als zutiefst von der schlechten gesellschaftlichen Normalität durchdrungen. Wo die Wut den eigenen Subjektstatus affirmiert und seine Kraft nutzen will, hinterfragt die Angst seine Formation (in meinem Fall als weißes, männliches Subjekt) als Teil des Schlechten und die Bedürfnisse dieses Subjekts als gesellschaftlich produzierte, nicht per se zu befreiende. Das ängstliche Denken macht sich auch die eigene Praxis zum Gegenstand des Misstrauens, was nicht nur, aber auch berechtigt ist, da sie als Teil des schlechten Bestehenden eine spezifische Eigenlogik entfaltet. Praxis, die auf die Revolution zielt, zielt auf die Abschaffung aller Macht über Menschen, gleichzeitig weiß sie aber darum, dass die Revolution (und schon die Verteidigung des Bestehenden gegen noch schlechteres) kein Hinüberträumen ist, sondern sich im Kampf um gesellschaftliche Macht konstituiert. Diese notwendig auch machtförmige Praxis tendiert dazu, über ihre Eigenlogik ihr konträres Ziel zu verdrängen, Angst hiervor ist notwendig.
Ängstliches Denken nötigt zum ständigen Hinterfragen der eigenen Praxis, damit wird sie eine schüchterne, vorsichtige Praxis. Dort, wo das wütende Denken voranspringen lässt, ist sie tastend. In dieser Vorsicht liegt die Gefahr, aus dem ängstlichen Denken ein Programm der Abwehr abzuleiten, dass die Angst vor dem Schlechteren zum Ausgangspunkt nimmt. Die Abwehr des Schlechteren ist notwendige Vorbedingung jeder revolutionärer Praxis, und in Zeiten der eigenen Ohnmacht häufig die letzte verbleibende vernünftige Option. Dennoch ist sie selbst kein Mittel, einen Zustand ohne Angst herbeizuführen. Zieht sich die Praxis auf ein Programm der Abwehr zurück, stellt sie die Angst auf Dauer.
Gegenteilig zu diesen beiden gehetzten Empfindungen ist eine dritte zu bestimmen, zu der diese Welt andauernd nötigt: die Traurigkeit.
Traurigkeit über das, was verloren ist und auch immer verloren bleiben wird. Die eigenen Beschädigungen und die von ihnen hinterlassenen leiblichen und seelischen Narben, die einen ungeachtet der eigenen Wünsche und Bedürfnisse bis an das Lebensende begleiten und belasten werden. Traurigkeit über die verlorenen Freund_innen und Genoss_innen, die ihre Beschädigungen nicht bis hierhin überstanden haben, die allzu früh gestorben sind. Traurigkeit über die Beschädigungen derer, die es schlimmer als einen selbst erwischt hat, denen ihr Leben lang ihre Zeit und Energie dabei ausgeht, mit ihren Ängsten, Erinnerungen, den bürokratischen Hürden von Krankenkassen & Betreuungsrecht und dem Psychiatriealltag leben zu müssen. Traurigkeit auch ob der verlorenen Revolutionen, den Revolutionären, von denen hier und dort Spuren zeugen, doch deren revolutionäre Praxis es nicht vermochte, die kapitalistische Totalität zu sprengen, die im Kampf darum erschossen wurden, in Knästen oder arm im Alter starben. Und das die Traurigkeit transzendierende, jenseits ihrer Grenzen liegende, grauenhafte Unverstehen vor Auschwitz.
Aus einem Denken dieser Traurigkeit und dem Denken der Grenzen der Traurigkeit selbst könnte die trügerische Hoffnung eines Programms der Rettungen oder zumindest der Rächungen resultieren. Aber auch die Rache restituiert das Verlorene, restituiert die Verlorenen nicht oder erreicht sie auch nur. Was trauriges Denken stattdessen für die Praxis bedeutet, ist, zu wissen, dass der Verlust in sie unlöschbar eingeschrieben ist. Die Revolution kann nur noch eine beschädigte, verspätete, unzureichende sein. Wir sind schon zu spät. Praxis selbst wird so zu einer traurigen, sie wird zur Trauerarbeit. Derart traurig kann die Praxis in sich aufnehmen, was dem wütenden Programm der Abschaffungen ebenso wie dem ängstlichen Programm der Abwehr tendenziell entgeht: Es so zu lassen, wie es ist, ist Komplizenschaft mit der Gewalt, alles zu zerschlagen, liefert uns aber ebenso an sie aus. Die Trauerarbeit liefert stattdessen die Vorlage für ein Programm der Aufhebung: Sie zielt darauf, die Trauer zu überwinden ohne das Verlorene zu vergessen, umgekehrt gelingt ihr die Überwindung der Trauer nur durch die Bewahrung des Andenkens an die Verlorenen. In revolutionärer Praxis wird diese Aufhebung jedoch immer eine unvollständige bleiben. Hegels versöhnte Synthese ist für immer verloren, die Traurigkeit wird uns auch in einer befreiten Gesellschaft nicht verlassen.
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1
Hier ließe sich eine ganze Liste anschließen, von inhaltlicher Zustimmung, die als Kritik ausgegeben wird, beispielsweise, „dass das Verhältnis von Theorie und Praxis in dem Moment prekär wird, in dem es keine machtvolle Revolutionäre Bewegung gibt“ (L&M), das dem tendenziellen Abstraktwerden von Praxis und Theorie entspricht. Von falschen Behauptungen, etwa die Aussage, ich hätte von „aufhebender“ Theorie geschrieben – was ich absichtlich nicht tat oder tun würde und falschen Unterstellungen, wie der, die von L&M kritisierten seien Praxisfeinde. Aber auch schlichte Wiederholungen von Positionen aus der ersten Lirabelle, etwa dass man, wenn „man Praxisversuche kritisiert […] dabei ein paar Vorschläge machen [sollte], was man stattdessen tun könnte.“ (L&M). Dieser Zwang zur konstruktiven, strategischen Kritik wird nicht richtiger, indem er wiederholt eingefordert wird – und L&M’s Vorschläge, die folgen, beschreiben zwar zutreffend den traurigen Alltag der radikalen Linken, aber keine revolutionäre Perspektive. Wohl dementsprechend ist von Auschwitz und der Bedeutung dieses Bruchs mit jeder einfacher Hoffnung auf Revolution, wie sie die AAI in der zweiten Lirabelle ausführte, bei L&M zügig abgehandelt, damit weiter schlicht postuliert werden kann: „Der Klassenkampf ist zu organisieren.“
2
Deren emotionale Gleichgültigkeit sich wiederum aus der Tatsache speist, dass es sich für sie bei der Theorie um Lohnarbeit, also ihr entfremdetes und entfremdendes Mittel zur individuellen Reproduktion handelt, dessen affektive Besetzung nur die eigene Ausbeutbarkeit ins gesundheitsschädliche steigern würde.