„Gut organisiert war nur die Registrierung“

Die Lage von Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften zeigt auf besonders erschreckende Weise die Krise der Reproduktion: Gegessen wird, was vom Amt kommt. Bei Krankheit muss man darauf hoffen, dass ein Arzt im Lager ist. Privatsphäre gibt es keine. Im Lager werden selbst die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse nicht erfüllt und die Menschen darüber hinaus von den Möglichkeiten der Selbstsorge abgeschnitten. Karl Meyerbeer hat für das Thüringer Netzwerk Care-Revolution mit Katrin gesprochen, die als Flüchtlingssozialarbeiterin arbeitet.

Du hast in einem Lager, dass von einem großen Wohlfahrtsverband betrieben wurde, gearbeitet. Wie waren die Leute dort untergebracht?

Katrin: Die Geflüchteten waren in Doppelstockbetten untergebracht, die meisten in 8er-Zimmern, teilweise aber auch bis zu 36 in einem Raum, 750 in der ganzen Einrichtung. Es gab pro Stockwerk 8 Toiletten und 5 Duschen für jeweils etwa 75 Leute. Die Verhältnisse waren also beengt. Ärztliche Versorgung gab es nur, wenn gerade ein Arzt in der Einrichtung war. Für alles, was die Leute wollten, mussten sie Schlange stehen. Mit dem Essen waren alle sehr unzufrieden. Mittags eingeschweißte Assietten, morgens und abends ungetoastetes Toastbrot mit einer Dose Fisch, Käseeckchen oder abgepackter Marmelade. Erst nachdem die Lokalpresse über die schlechte Qualität des Essens berichtet hat, wurde die Cateringfirma gewechselt und das Essen wurde ein bisschen besser. Alle zwei Wochen haben die Bewohner_innen eine Garnitur Bettbezüge bekommen. Viele haben damit in den Räumen ihre Betten abgehangen, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu haben. Zusätzliche Laken durften wir aber nicht rausgeben. Der Grund dafür war mir nicht klar. Es durfte nur im Essenszelt gegessen werden. Die Leute durften sich noch nichtmal einen Tee mit auf ihr Zimmer nehmen. Und obwohl die Kleiderkammer voll war, durften wir lange nichts davon ausgeben. Das führte wirklich zu der Situation, dass Leute wochenlang keine Schuhe hatten, obwohl es Massen von gespendeten Schuhen gab. Das einzige, was gut organisiert war, war die Registrierung. Dazu kam zwei Wochen lang die Bundespolizei ins Haus und hat bei allen Einwohner_innen geprüft, ob sie schon erfasst sind. Erst danach durften die Leute wieder das Gelände der Einrichtung verlassen.

Ein Journalist aus Syrien hat gesagt, dass sich Sozialarbeiter im Lager meistens wie Gefängniswärter benehmen. Was man am schnellsten in Deutschland lerne, wäre, dass man Anweisungen befolgen muss. Kannst Du Dir vorstellen, wie es zu dieser Wahrnehmung kommt?

Katrin: Ja, klar. Die Leute müssen sich dauernd mit unsinnigen Vorschriften auseinandersetzen. Damit die Regeln befolgt werden, gibt es eine Security. Beim Betreten und Verlassen des Lagers werden die Taschen kontrolliert. Und es gibt auch Zimmerkontrollen von der Security und von den Sozialarbeiter_innen. Einmal haben sie jemanden dabei erwischt, wie er sich auf einer Kochplatte ein Spiegelei in seinem Zimmer braten wollte. Acht Securitys rückten an und konfiszierten die Kochplatte . Der Mann hat dann vor Wut die restlichen rohen Eier in seiner Hand zerdrückt und traf damit auch die Security. Deshalb wurde zur Strafe noch am selben Tag die komplette Familie in ein noch schlechteres Lager umverteilt.

Du hast vor Deiner Anstellung selbstorganisiert mit Geflüchteten zusammen gearbeitet. Konntest Du die Erfahrungen aus dieser Zeit im Lager einbringen?

Katrin: Ich habe mehrmals angeregt, dass die Leute mehr einbezogen werden. Aber das war von der Leitung aus nicht gewollt. Wenn man die ganze Einrichtung offener und partizipativer gemacht hätte, wäre es für alle sehr viel besser gewesen. Die Leute hätten dann wenigstens die Möglichkeit gehabt, ihre Lage zu besprechen und gemeinsam für Verbesserungen einzutreten. Aber solche Gestaltungsmöglichkeiten waren von der Leitung her größtenteils nicht gewollt. Um die Lage wenigstens etwas zu verbessern, haben wir Sozialarbeiter_innen versucht, einen Sozialbereich einzurichten, wo man sich auch mal aufhalten kann. Dazu wollten wir einen leerstehenden Raum im Keller mit ein paar Sofas zurecht machen. Aber selbst das ließ sich nicht durchsetzen. Es gab also selbst für die Sozialarbeiter_innen, die für die Geflüchteten Möglichkeiten eröffnen wollten, keine Spielräume, in denen man hätte was gestalten können.

Woran lag das?

Katrin: Die Einrichtungsleitung kam aus dem Katastrophenschutz und war paramilitärisch geschult. So ist sie auch an die Arbeit herangegangen. Da wurden klipp und klar von oben nach unten kleinteilig Aufgaben verteilt. Ohne Rücksprache durfte ich im Grunde nichts tun, die Bewohner_innen noch viel weniger.

Die Geflüchteten vom Oranienplatz fordern die Abschaffung der Lager- und Residenzpflicht, den Stopp aller Abschiebungen, ein dauerhaftes Bleiberecht, das Recht auf Arbeit, Bildung und selbstbestimmtes Wohnen, sowie das Recht auf Bewegungsfreiheit. Was kann Sozialarbeit tun, um das zu unterstützen?

Katrin: Eigentlich müssten sie sich dafür einsetzen, sich selbst abzuschaffen und das Geld, das dann frei würde, direkt den Geflüchteten zur Verfügung zu stellen, damit sie sich geeigneten Wohnraum beschaffen können und genug zum Leben haben. Leider sind die Sozialarbeiter_innen einem riesigen Bürokratieüberbau und den Zwängen ihrer Arbeitgeber ausgesetzt. Da ist es leider wichtiger, irgendwelche Qualitätsmanagementunterlagen zu verwalten und seinen/ihren Arbeitsplatz zu erhalten, als wirklich die Lage der Geflüchteten zu verbessern. Und es gibt natürlich auch die, die sich in ihren Rassismen bestätigt sehen, wenn die Geflüchteten sich nicht unendlich dankbar zeigen, sondern sich wehren.

Der Fachdiskurs fordert umfangreiche Standards für Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften. Wie waren eure Arbeitsbedingungen?

Katrin: Was die Bezahlung angeht waren wir als Sozialassistent_innen eingruppiert, obwohl wir den Job von Sozialarbeiter_innen gemacht haben. Und die Leitung hat bewusst damit gearbeitet, dass viele der Beschäftigten Angst hatten, ihren Job zu verlieren und deswegen nicht aufgemuckt haben. Es gab so gut wie keine Supervision oder Fort- und Weiterbildungen. Wenige der Beschäftigten kannten sich im Asylrecht aus, wir konnten den Leuten diesbezüglich gar nicht helfen.

Als wir beim Thüringer Netzwerk Care-Revolution über Deinen Bericht diskutiert haben, kamen wir zu dem Schluss, dass die geschilderten Zustände nicht alleine dadurch zu erklären sind, dass ein Träger Mist baut, sondern die Misere System hat. Wir haben uns gefragt, ob Geflüchtete nicht von Anfang bis Ende schlecht behandelt werden, um Menschen abzuschrecken?

Katrin: Ich glaube nicht, dass das „System“ vorsätzlich so handelt. Es steht sich nur selbst im Weg, da es vor einen Berg Verordnungen und Gesetzen gelähmt ist und alle so weiter machen, weil sie z.B. Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ich denke auch nicht, dass sich Menschen aus den Krisenregionen wirklich abschrecken lassen. Alles ist besser als im Bombenhagel zu sterben, zu verhungern oder gefoltert zu werden.

Kannst Du ein Fazit zu Deiner Arbeit im Lager ziehen?

Katrin: Mein Gesamteindruck der Lage im Lager war, dass die Leute dort immer noch auf der Flucht sind. Sie haben keine Intimsphäre. Sie haben nichts zu tun. Das monate- oder jahrelange Warten und Gegängel macht viele Leute psychisch kaputt. Sie werden nach intransparenten Kriterien ungleich behandelt und ihnen wird nicht erklärt, wie lange sie in dieser Lage sein werden. Ihr Leben ist einem bürokratischen Koloss mit unverständlichen Regeln unterworfen. Und dann werden sie noch nach nationalen Kriterien ungleich behandelt. Für den Träger steht im Mittelpunkt, Geld zu verdienen. Mir war relativ schnell klar, dass man unter diesen Bedingungen keine gute Arbeit machen kann. Deswegen habe ich diesen Job auch gekündigt.


Das Netzwerk Care Revolution ist ein bundesweiter Zusammenschluss von über 70 Gruppen und Einzelpersonen, die nach einer Gesellschaft streben, in der nicht Profitmaximierung, sondern menschliche Bedürfnisse im Zentrum stehen und Care-Ressourcen nicht nach rassistischen, sexistischen oder klassenbezogenen Kriterien erbracht und verteilt werden.

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