Es gibt diverse Gründe, Deutschland zu hassen

Am 3.10.2022 fanden die bundesweiten Feierlichkeiten anlässlich der Annektion der DDR in Erfurt statt. Das Datum weckt in Erfurt Erinnerungen: Zwischen 2001 und 2004 hatte die radikale Linke die bürgerliche Öffentlichkeit alljährlich vor dem 3.10. mit der Parole „Deutschland hassen“ (als Demomotto in verschiedenen Variationen) vor sich her getrieben und gleichzeitig nach Innen eine erfolgreiche Marke antideutscher Identitätspolitik geschaffen. 2022 sind die Proteste ausgeblieben, obwohl schon im Frühjahr 2022 die Planungen für Gegenaktivitäten begonnen hatten. Die konkreten sozialen Dynamiken des Scheiterns sind zu unübersichtlich, tlw. auch zu banal, um sie hier auszuwalzen. Aber ein Grund für das Scheitern liegt darin, dass Nationalismus sich in den 2020er-Jahren ganz anders zeigt als in den 2000ern und dass die Linke dazu und darin eine ganz andere Position einnimmt – findet Karl Meyerbeer.

2001-2004: Nationalstolz ohne Migrant*innen und Gewerkschaften, Antifa gegen Deutschland
Ich möchte zu Beginn kurz rekapitulieren, was 2001ff gelaufen ist und bediene mich dafür bei der Materialsammlung, die das Biko für eine Veranstaltung im Vorfeld des 3. Oktober unter http://okt3.arranca.de veröffentlicht hat. Am 2.11.2001 wollte die „anarchistisch-kommunistische Gruppe YAFAGO“ (Youth Against Fascism and Governement) unter dem Motto „Es gibt 1000 Gründe, Deutschland zu hassen“ demonstrieren. Unter Bezug auf den 11.9.2001 (Terroranschläge in den USA) begann die CDU eine Kampagne, die sich gegen die Demo und den Anmelder Steffen Dittes (damals PDS-Landtagsabgeordneter) richtete. Letztlich wurde die Demo verboten, Steffen Dittes musste als innenpolitischer Sprecher der Fraktion zurücktreten. Ein für den 3.10. geplantes Straßenfest unter dem Motto „Fest der Einheit der Menschen“ war schon vorher von der Versammlungsbehörde untersagt worden – auf persönliches Betreiben des Erfurter OB Ruge (CDU), der am „einzigen Staatsfeiertag der Deutschen“ eine „Polarisierung“ fürchtete. Mehrere Gewerkschafter erhielten am 3.10. Platzverweise, als sie Flyer gegen das Verbot des Fests verteilten. In den Folgejahren fanden die „Deutschland hassen“-Demos statt, ebenso wie das „Fest der Einheit der Menschen“, letzteres mit Beteiligung von Gewerkschaften, Antifa, Kirchen, linken Gruppen, besetztem Haus, Geflüchtetengruppen, Sozialprotesten (BI gegen Billiglohn) und weiteren. 2004 fanden die bundesweiten Feierlichkeiten in Erfurt statt, auch hier wieder begleitet von einer „Hass“-Demo. In der Offenen Arbeit organisiert sich parallel (und in Abgrenzung) zur Demo Kleingruppenprotest mit Bannerdrops, Störaktionen, Jubeldemos, etc. Die offiziellen Feiern waren 2004 abgesehen vom Bundeswehr-Stand so langweilig, wie die alte BRD eben war: Stände von Bundesministerien und -behörden, daran Schlipstypen, die auch nicht wussten, was sie den Bürger*innen über die Arbeit des Bundesrechnungshofs oder der Bundesanstalt für Materialkunde erzählen sollen.

2022: Nationalismus zum Mitmachen

Viele Akteur*innen, die 2001-2004 gegen die obrigkeitsstaatlich orientierten Einheitsfeierlichkeiten aktiv waren, sind 2022 eingebunden: Während Gewerkschafter*innen 2001 Platzverweise beim Flyerverteilen erhielten, hat der DGB 2022 einen Stand auf dem offiziellen Bürgerfest. Während 2004 migrantische Stimmen nur in der Allerheiligenstraße (beim Fest der Einheit der Menschen) zu hören waren und auch von der Stadt her gar nicht bei den offiziellen Einheitsfeierlichkeiten gewollt waren, gab es 2022 Diskussionen und Plakatwände zu Integration. Und, ganz plakativ: 2004 wurde Samba und Klezmer beim Fest der Einheit der Menschen aufgeführt, die Bühnen der offiziellen Feierlichkeiten waren deutscher Volksmusik und dem Heeresmusikkorps vorbehalten. 2022 spielte die Sambagruppe und die Klezmerband auf der großen Bühne.

Das alles spricht dafür, dass sich zumindest die symbolisch-kulturellen Grenzen der deutschen Nation in den letzten 20 Jahren verändert haben: War 2004 für die Veranstalter*innen noch klar, das Migrant*innen und Gewerkschafter*innen die Harmonie der Volksgemeinschaft stören und „polarisieren“ (Ruge 2004), so scheint 2022 klar, dass Arbeiter*innen und Migrant*innen zumindest dazu gehören können. Wobei man einschränkend sagen muss: Wir sprechen hier über Kultur- und Diskurspolitiken, nicht über tatsächliche Zugehörigkeiten. Anders gesagt: Dass Migrant*innen (wenn sie produktiv sind) jetzt auch am 3.10. mitfeiern dürfen, bedeutet nicht, dass deswegen die Außengrenzen und das Aufenthaltsrecht durchlässiger geworden sind. Trotzdem kann man festhalten: Das Selbstverständnis der deutschen Nation ist 2022 deutlich inklusiver und diverser, weniger völkisch und exklusiv als 2004.

Das wird noch deutlicher, wenn man mit einbezieht, auf welches politische Klima die „Hass“-Demonstrationen reagiert haben: Ende der 1990er-Jahre hat die CDU mit Nationalismus mehrere Sommerloch-Kampagnen und Wahlkämpfe geführt: gegen die doppelte Staatsangehörigkeit (Koch 1999), gegen das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland (Rüttgers 2000), für eine deutsche Leitkultur (Merz 2000), für mehr Nationalstolz (Meyer 2001) und immer wieder gegen die „multikulturelle Gesellschaft“ – womit in den 1990er-Jahren gemeint war, die postmigrantische Realität der BRD anzuerkennen. Diese relativ unverschleierte Politik mit völkischem Nationalismus und Rassismus ist heute randständiger als vor 20 Jahren. Sie wird von der AfD und dem rechten Rand der CDU vertreten, während die Mehrheit der Konservativen sich mitterweile mit dem liberalen Milieu der Grünen einig ist, dass Deutschland eben doch ein Einwanderungsland ist – schon allein, weil ganze Branchen ausfallen würden, gäbe es keine günstige migrantische Arbeitskraft. Entsprechend die Umgestaltung des Aufenthaltsrecht entlang ökonomischer Kriterien in den letzten Jahren – ein Kompromiss ökonomischer Notwendigkeit und kulturellem Kosmopolitanismus.

Ein neues, diverseres „Wir“ und eine Linke, die weitgehend mitmacht

Auf den Punkt gebracht: 2004 war das „Wir“, dass mit dem nationalistischen Spektakel nicht einverstanden war, sehr viel größer, weil das völkisch und rassistisch bestimmte „Wir“ der Nation viele soziale Gruppen einfach nicht dabei haben wollte. 2022 definiert sich das nationale „Wir“ sehr viel stärker an der realen Bevölkerungszusammensetzung und an Nützlichkeitserwägungen – weniger an völkischen und rassistischen Kriterien. Woraus sich relativ logisch ergibt, dass die (immer kulturell und politisch vermittelte) Motivation, gegen die Nation auf die Straße zu gehen, geringer geworden ist.

Außerdem zeigt sich – so meine ich – in der Entwicklung auch eine Schwäche der Linken. Und zwar in mehreren Punkten:
(1) Sowohl der ideologiekritische als auch der diskurstheoretische Antinationalismus der 2000er-Jahre hat sich vor allem auf die Konstitution einer verkehrten, also imaginierten Wir-Gemeinschaft bezogen, also den exklusiven Charakter des Nationalismus betont. Wird die Nation inklusiver, fällt die Empörung über Ausschlüsse weg.
(2) Damit verbunden: Wurde die Nation als Ideologie oder Konstruktion kritisiert, haben wir immer dazu gesagt, dass ihre Konstitution aus ökonomischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten folgt, aber womöglich zu wenig eben diese Notwendigkeiten kritisiert und analysiert – also kurz gesagt, nur die Denkformen und die kulturelle Vermittlung kritisiert statt die realen Verhältnisse, auf deren Grundlage diese entstehen.
(3) Daraus, dass es gelungen ist, dass der Staat zumindest auf der ideologischen Ebene die offenen Nazis mittlerweile verurteilt (auch hier wieder, ohne dass das großartige Folgen auf juristischer oder institutioneller Ebene hätte), hat ein Gutteil des Antifaschismus sich darauf kapriziert, eben diese Entwicklung weiter zu treiben und sucht den Schulterschluss mit dem Staat – wodurch dann die Nazis zum konstitutiven Außen des demokratischen, zivilisierten, menschenrechtsorientierten „Wir“ werden.

Zu letzterem passt auch, dass viele Antworten auf den aktuellen Nationalismus der AfD und der Nazis mit dem Ruf zur Einheit agieren. „Wir …“ heißt es da immer wieder: Wir sind mehr, wir lassen uns nicht spalten, wir fürchten um den sozialen Zusammenhang, wir sind unteilbar – und wollen eines nicht, nämlich polarisieren. 2001 hat der damalige OB Ruge dem „Fest der Einheit der Menschen“ vorgeworfen hat, es würde polarisieren – zurecht, denn das Fest wollte darauf hinweisen, dass es zahlreiche Spaltungslinien in der Gesellschaft gibt, Konflikte, die der Nationalismus mit der Volksgemeinschaft ideologisch kitten will. Dass der Obrigkeitsstaat uns damit verarschen wollte, war relativ klar und einfach heraus zu arbeiten. Dass der Staat heute Einheit und Zustimmung eben nicht völkisch, sondern mit ideologischem Bezug auf Diversität und Partizipation herstellt, ist ganz offensichtlich weitaus wirksamer für das Verdecken real vorhandener sozialer Spaltungen. Auch, weil viele Linke und Antifaschist*innen dabei sind, aus Angst vor der Gefahr, die von AfD und Schwurblern ausgeht. Eben darin sehe ich einen gewichtigen Grund dafür, warum es nicht gelungen ist, am 3. Oktober eine kritische Masse gegen Deutschland auf die Straße zu bekommen.

Auf dieser Grundlage abschließend eine selbstkritische Einschätzung der Strategie bei der Vorbereitung der letztlich ausgefallenen 3.10.-Proteste: Womöglich war es ein Fehler, vor dem Hintergrund der erfolgreichen Integrationsstrategien der Gegenseite auf Vermittlung zu setzen. Ein plattes, provokatives und affektiv aufgeladenes Reenactment der Hass-Demos und die damit verbundene Polarisierung wäre zumindest ein starkes Zeichen gegen die Gemeinschaftstümelei und das „Wir“-Gefasel gewesen, dass im Moment aus allen Kanälen schallt.

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