Sylt ist überall – Schöner Wohnen in Kackstadt

Diese Stadt, die Erfurt genannt wird, obwohl der Begriff Kackstadt seit der Räumung des Besetzten Hauses am 16. April 2009 bedrückende Gültigkeit behalten hat und immer wieder ernüchternd ins Gedächtnis gerufen wird, hat doch einiges mit Sylt gemeinsam. Hier wie dort setzen die städtischen und kommunalen Entscheidungsträgerinnen erstmal und traditionellerweise auf Ausgrenzungs- und Vertreibungsmechanismen, Tourismus und Verwertung werden hofiert, die Stadt als lebenswerter Raum muss langwierig erstritten werden.

Erst letztes Jahr wurde versucht, all jene, die irgendwie für die Stadt(-wirtschaft) arbeiten in die Ordnungsbehörde einzuziehen, um die Straßen zu patrouillieren und Einhaltung und Umsetzung der in kurzer Zeit aus dem Boden gestampften und selbst für juristisch literate Menschen unübersichtlich gewordenen Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie zu kontrollieren. Da kam es auch schon mal vor, dass eine Person, die in der Bahnhofstraße eine Wurst klaute, von diesen Hilfssheriffs umstellt und festgehalten und von den herbeigerufenen Cops vor die Stadtgrenzen gefahren und dort ausgesetzt wurde. Da dieser ordentliche Bärendienst jedoch im Wesentlichen freiwillig war, scheinen doch die meisten den Absprung geschafft zu haben. Jene, denen der Zugewinn an Macht und Gewalt offenbar zu gefallen scheint, haben sich in Auftreten und Erscheinungsbild den bewaffneten Vorbildern weitestgehend angepasst, sind nur noch durch den unwesentlichen Rückennamen „Ordnungsbehörde“ unterscheidbar und bestreifen z.B. die Straßenbahnen in Viererhorden, um Ordnungsgelder für das Nichttragen von Masken zu kassieren. Das mag unter den Umständen zwar als notwendig erscheinen, verkennt aber die Möglichkeit, stattdessen erstmal solche Utensilien kostenfrei zu verteilen. Da scheinen manche Busfahrerinnen in Südthüringen solidarischer zu sein, da sie genau dies tun.

Aber, um nicht weiter abzuschweifen, denn eigentlich soll es hier im Kern um die Bedrohung einer Hausgemeinschaft gehen, hat doch die Zuspitzung des dauerhaften kapitalistischen Krisenzustands in den vergangenen zwei Jahren auch noch andere Blüten getragen. Hierbei soll es um die Geschichte von etwas weniger als 20 Menschen gehen, die in der Straße des Friedens in der Erfurter Brühlervorstadt noch vergleichsweise günstigen Wohnraum mieten. Es geht um ein Miethaus, welches einst der Stadt gehörte, also Gemeineigentum war, und zu den 5.000 Wohnungen gehörte, welche die Stadt im Jahre 2012 durch Verkauf privatisierte. Seither sind zehn Jahre vergangen; in dieser Zeit sind die Immobilienpreise etwa um das 3- bis 4-fache gestiegen, die Mieten allgemein in dieser Gegend um etwa das Doppelte, etwaige Sozialbindungen ausgelaufen und aus finanzieller Sicht ein Verkauf nun steuerfrei möglich – die einkommenssteuerrechtliche „Spekulationsfrist“ beträgt genau zehn Jahre. Ein lukratives Geschäft also für den neuen Eigentümer und die Zeit scheint gekommen, aus seinem einstigen Betongold nun maximalen Profit zu schlagen.

Wenn da nicht die lästigen Mieterinnen wären, die ihm bisher das Eigentum durch Zahlung von Mieten komplett finanziert haben. Denn trotz des vergleichsweise günstigen Mieten, die aufgrund der alten Mietverträge in etwa bei der Hälfte der kiezüblichen Miete für Wohnraum liegen, hatte der Eigentümer schon nach acht Jahren seine Einkaufskosten abgedeckt. Hinzu kamen Mehreinnahmen von etwa 5 Prozent (bezogen auf den Kaufpreis) bei den Nebenkosten, da der Eigentümer schlicht keine Betriebskostenabrechnungen erstellte und, wie sich nun herausstellte, bewusst die umlagefähigen Ausgaben senkte, ohne dies den Mieterinnen mitzuteilen. Dagegen haben mittlerweile drei der vier Mietparteien mehr oder weniger erfolgreich geklagt, das Ergebnis einer Klage steht noch aus. Bei den gewonnenen Klagen haben sowohl das Erfurter Amtsgericht als auch das Landgericht für Recht erkannt, dass sich der Vermieter nun plötzlich bei vier der neun streitgegenständlichen Jahre auf Verjährung berufen könne, obwohl er diese Abrechnungen stets zugesichert hatte. Zu allem Kotzreiz kam hinzu, dass dem Amtsgericht anfangs ein Rechenfehler bei der Fristenberechnung zu Gunsten des Vermieters unterlaufen war, der nach freundlichem Hinweis mittlerweile jedenfalls korrigiert wurde.

An dieser Stelle ist erwähnenswert, das wohl auch an Erfurter Gerichten sehr vermieterinnenfreundliche Richterinnen amtieren. Da wird Eigentum an Wohnraum über das Recht der Bewohnerinnen gestellt, wobei hier mal private Interessen unterstellt und angenommen werden können. Richterinnen vermieten aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse häufig selbst Wohnraum und stehen da schon mal in einem Interessenkonflikt.

Doch zurück zu der Wohnimmobilie in der Straße des Friedens.

Als der Suhler Immobilienmakler das in der Gründerzeit um 1900 erbaute Wohnobjekt aus der Gründerzeit im Jahre 2012 kaufte, war es bereits in einem Zustand, der in dieser Gegend zumindest rein optisch als für nicht sonderlich ansehenswert eingestuft werden kann und schlichtweg sanierungsbedürftig. An der Frontfassade erstrahlten zahlreiche Graffiti, der Putz bröckelte, das Treppenhaus war entsprechend der 120 Jahre abgelatscht, das Dach seit Jahrzehnten nicht neu eingedeckt worden, Elektro- und Wasserleitungen überaltert, die Heizungsanlagen ohnehin ungeeignet, um ungedämmten Wohnraum beheizen zu können. Daran hat sich seither auch nicht viel geändert. Einige Steigleitungen mussten neu verlegt werden und die sichtbare Fassade zur Straßenseite wurde erneuert, allerdings ohne diese zu dämmen. Innerhalb der Wohnungen wurden Wasseruhren eingebaut. Das wars auch schon. Der ansonsten damals schon sanierungsdürftige Zustand hat sich soweit verschlechtert, dass Wohnungen, Brandmauer, Wände und Kellerräume durch das undichte Dach ständig durchfeuchtet werden, sich hier und dort Schwarzschimmel bildet, die völlig überalteten und unzureichend gewarteten Heizungen und Thermen, undichte Türen und Fenster und letztlich die ungedämmten Wände und Decken die Heizkosten in die Höhe des Unbezahlbaren treiben, die nicht mehr den Sicherheitsstandards entsprechenden Elektroleitungen teilweise ausgefallen sind hier und da mal Sicherungen kommen, wenn Staubsauger in Betrieb oder viele Elektrogeräte gleichzeitig genutzt werden sollen, Tauben und deren Beiwerk machen den Dachboden unbenutzbar, die hintere Fassade bröckelt weiter vor sich hin …

An dieser Stelle stellt sich wahrscheinlich für die eine oder andere die Frage: Wieso zieht ihr nicht aus? Tja, es ist schon so, dass die Brühlervorstadt mit zu den Wohngegenden dieser Stadt gehört, die recht lebenswert sind, halt nur ein bisschen überteuert, selbst ein kleines WG-Zimmer kostet zuweilen mehr als im Rahmen der Kosten der Unterkunft bei Sozialtransferleistungsbezieherinnen übernommen werden, neuer Wohnraum wurde nur durch den Bau von Eigentumswohnungen geschaffen, wo der Quadratmeterpreis schon mal 7.000 Euro betragen kann. Dafür feiern viele junge Menschen nachts in den Parks, was zwar für Konflikte mit einigen Anwohnerinnen und Nölärschen sorgen mag, mir jedoch sehr zusagt und der nächste Späti ist von netten Menschen frequentiert. Ansonsten hat sich in den letzten 15 Jahren eine Hausgemeinschaft zusammengefunden, die sonst in Miethäusern eher selten sein dürfte, ebenso wie zahlreiche Bekanntschaften im Kiez über die Jahre entstanden sind. Abgesehen davon ist die Wohraumsituation in dieser Stadt bekanntermaßen und von Jahr zu Jahr beschissen geworden, das von Bausewein zum Wahlkampf herausgeputzte Erfurter Wohnbaulandmodell gnadenlos gescheitert und WG-geeignete Wohnungen sowieso und insbesondere in dieser Gegend entweder unbezahlbar oder schlichtweg nicht mehr vorhanden. Zahlreiche Wohnhäuser wurden in den vergangenen entmietet, um diese dann zu sanieren oder einfach als Anlageobjekte leerstehen zu lassen.

Da die Stadt als ehemalige Eigentümerin sich nun nicht mehr für unser Haus als zuständig betrachtet hat hier also der Vermieter freie Hand. Sein Vorhaben durch Verfallenlassen des Wohngebäudes den Auszug der Mieterinnen quasi passiv voranzutreiben hat sich indes nicht erfüllt.
Aus diesem Grund versucht er nun eine aktive Entmietung. Dies geschah anfangs durch den eher lapidar anmutenden Akt, nämlich durch eine Versperrung des gemeinschaftlich genutzten Hofraums, welche von allen Bewohnerinnen als rechtswidrig angesehen wird. Zeitgleich wurde der Eigenbedarf an einer Wohnung durchgeklagt, die von einem alleinerziehenden Vater, seinen zwei Kindern und einem Hund bewohnt wurde. In Zweiter Instanz ist das Landgericht der Auffassung des Amtsgerichts gefolgt und sieht es als glaubwürdig an, dass der Vermieter diesen Wohnraum für sich brauche, da er zumindest in Erfurt keine Wohnung besäße und es auch gewohnt sei, allein mit seinen teuren Möbeln und Gemälden auf 120 qm zu leben. Außerdem sahen die Gerichte die beabsichtigte Mischnutzung als Wohn- und Geschäftsräume als unproblematisch an. Dies vor dem Hintergrund, dass er subjektiv wohl kaum einziehen wird in ein Haus, wo er es sich mit allen Mieterinnen verscherzt hat und dieses obendrein mehr als sanierungsbedürftig ist und seit seinem Kauf auch eher einer Baustelle ähnelt. Leider war an dieser Stelle nach der Zweiten Instanz Schluss, ein Gang zum Bundesgerichtshof aufgrund der Lektüre der Urteile der vergangenen Jahre aussichtslos und auch finanziell nicht zu stemmen. Tatsächlich hat der BGH stets durchblicken lassen, dass eine Eigenbedarfskündigung nur dann abzuwenden war, wenn die durch Kündigung betroffenen Mieterinnern sehr alt und krank waren. Die üblichen Interessen wie Lebensplanung oder Wunschwohnort wurden ausschließlich zugunsten der Vermieterinnen berücksichtigt.
In der Folge wurden hier drei Menschen dazu verteilt, ihre Wohnung zu räumen, ohne dass vergleichbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung steht.

Da der Vermieter hier den Eigenbedarf nur einmal geltend machen kann, versucht er nun die nächste Wohnung im Rahmen einer Klage leerzukündigen, mit dem vorgetragenen Grund, dass diese Mietpartei seit mehr als einem Jahr die Zahlung der Miete und der Nebenkosten verweigere.
Ob diese Verweigerung indes begründet ist aufgrund der schwerwiegenden Mietmängel, zu denen sich auch eine über Monate nicht funktionierende Gastherme addierte (mit den entsprechenden Folgen, kein Warmwasser zu haben) wurde nun an mittlerweile zwei Tagen am Erfurter Amtsgericht verhandelt. Immerhin wurde der Vermieter vor seiner Räumungsklage erfolgreich von zwei der vier Mietparteien verklagt und dazu verurteilt, ordnungsgemäße Betriebskostenabrechnungen zu erstellen, die bisher jedoch nur in einer nicht akzeptablen Weise vorgelegt wurden und auch den mittlerweile beweissicheren Verdacht bestätigen, dass Kosten angesetzt worden, die nicht entstandenen sind. Es ist davon auszugehen, dass hier ein Strafverfahren wegen vorsätzlichen Betrugs in mehreren Fällen noch aussteht.
Die derzeitige Räumungsverhandlung geht jedoch weiter und wird sich wohl auch noch einige Monate hinziehen. An dieser Stelle sei allen gedankt, die solidarisch bei den Verhandlungen sowohl im Eigenbedarfsverfahren als auch im derzeitigen im Gerichtssaal anwesend waren und den Betroffenen beigestanden haben.

So exemplarisch diese Prozesse für die aktuelle und an Brisanz gewonnenen Wohnen-zur-Miete-Misere sind, so exemplarisch ist die Situation auf der Insel Sylt.

Das Neun-Euro-Ticket war wohl der Auslöser dafür, dass der Bürgermeister von Westerland, als erste Bahnstation nach dem Hindenburgdamm, welcher das Festland mit der Insel verbindet, meinte, dass er befürchte, dass nun ganz viele arme Menschen in „sein“ Tourismusörtchen einfallen und kein Geld mitbringen würden.
So sollte es dann auch sein. In den drei Monaten des bezahlbaren Reisens mit dem teilprivatisierten Bahnbetrieb waren viele bunte und vielleicht auch arme Menschen dort zum Demonstrieren, Schnorren, Baden und Entprivatisieren eines sonst nur noch Urlauberinnen, Touristinnen und reichen Snobs vorbehaltenen Stückchen Lands. Nachdem der oberste Finanzminister dort und unter Nutzung seines Privatfliegers, denn Bahnfahren ist für ihn wohl zu schnöde, seine Hochzeit unter Ausschluss des Pöbels gefeiert hat, gab es eine Woche später eine schnucklige Demo unter dem Motto „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“. Dafür und zum Schutz des Privateigentums und der besonders gefährdeten Immobilien und deren Reetdächer wurden etliche Bullenwannen mit Inhalt über Hamburg und mit Zügen hingekarrt. Die uniformierten Eigentumsschützerinnen haben auf Staatskosten in den nicht mehr ganz so gut besuchten Hotels in Westerland übernachten dürfen, der Pöbel wie gewohnt, in Decken und Schlafsäcke gehüllt, auf der Straße.

Auch die Fahrt nach Westerland war schon bemerkenswert, da die Schaffnerin oder Zugbegleiterin irgendwie ein Problem mit den zahlreichen Punks in „ihrem“ Zug hatte und kurz vor dem Hindenburgdamm meinte, dass Leute aussteigen müssten, die in den Gängen und vor den Türen saßen, da sonst die Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Also die zwei Stunden bis dahin war das kein Thema, aber so kurz vor der Insel wollte sie sich unbedingt noch beweisen und hat den Zug halten lassen. Das brachte eine halbe Stunde Verspätung und ziemlich verdutzt dreinschauende Cops, als ganz viele Punks auf den Schößen von Menschen saßen, die sich spontan solidarisch zu diesem Kompromiss entschieden hatten. Jedenfalls bis zur Weiterfahrt.

Die Demo hat schließlich bis zur Ankunft unseres Zuges gewartet. Dann ging es über eine Strecke von 6 Kilometern bis nach Kampen, wo die Reichen dieser Welt einen ihrer tollen Nebenwohnsitze haben und immerhin waren es auch einige Hundert, die pöbelnd, lachend und tanzend ihren Spaß dabei hatten. Viele auf der Insel prekär Beschäftigte fanden das wohl auch ganz gut und bekundeten ihre Solidarität, freilich begleitet von missgünstigen Äußerungen vereinzelter Pfeffersäcke.
Es gab auch witzige Sachen, als fünf Uniformierte einen provokanterweise in der Garageneinfahrt stehen gelassenen Ferrari bewachten oder ein Transpi vor der offensichtlich überregional operierenden Immobilienfirma Engel & Völkers präsentiert wurde.

In Kampen gab es die Abschlusskundgebung mit einem mir nicht mehr in Erinnerung gebliebenen Rapper. Von dort aus sollte es eigentlich zu Fuß wieder zurück nach Westerland gehen, aufgrund des länger als geplanten Hinwegs gab es aber die Entscheidung, den Bus-ÖPNV zu wählen, war ja auch im Neun-Euro-Ticket inbegriffen. Einige versuchten, per Anhalterin mitzufahren, aber irgendwie hatten wohl alle Angst vor bunten Menschen und Punks, einzig ein Kurierfahrer mit polnischem Kennzeichen hat ein paar mitgenommen, obwohl die Straßen dort erstaunlich gut frequentiert waren. Der erste Bus fuhr einfach an den Wartenden vorbei, wohl hatte sich das schon rumgesprochen, wer sonst noch auf der Insel ist. Eine daraufhin versuchte Spontandemonstration wurde von den Cops mit Zurückdrängen auf die Gehwege und dummen Sprüchen beantwortet, hier wurde also das Versammlungsrecht mal eben so außer Kraft gesetzt. Das Spiel ging dann bis zur nächsten Bushalte, wo dann doch ein Bus hielt, dessen Fahrer kein Problem damit hatte, dass kein Pappschild zwischen die Punks passte und einige auch übereinander saßen und lagen. Vielmehr hat er an jeder Haltestelle gewartet, damit auch die schon vorausgegangenen Punks noch einsteigen konnten. Eine lustige Fahrt allenfalls. In Westerland zurück dann das gewohnte Bild von Bullenwannen, die auf Fahrradwegen parkten. Es wurde wohl auch das Thüringer BFE gesichtet. Abschließend ein beschauliches Konzert u.a. mit der Band Mülheim Asozial. Vor dem Rathaus, dessen öffentliches Klo aber nicht zugänglich war. Aber zum Pissen gibt es ja auch den kleinen Park davor. Und Bier gab es auch reichlich, obwohl die örtlichen Discounter wohl wegen der unüblichen Kundschaft ihre Schließzeiten auf 18 Uhr geändert haben. Die üblichen Touritrödelläden und Gastros mit teuren Preisen hatten freilich länger auf.

Doch was wäre Sylt ohne die Sandstrände und langläufigen Strandpromenaden und das Versprechen dort mal so richtig entspannen zu können. Der Zugang zu den Stränden ist in den Abend- und Nachtstunden übrigens kostenfrei, ohne zuvor an den Kontrollhäuschen die „Kurtaxe“ zahlen zu müssen. Zu blöd, dass die bunten Leute auch den Strand mögen. Wohl als Reaktion auf diese Selbstverständlichkeit hat die Stadt Westerland einen privaten Sicherheitsdienst aus Goslar eingekauft, der nachts die Promenaden mit einer dunklen Karre und Scheinwerferlicht (aber gefahren durch umso minder belichtete Gestalten) patrouilliert und Menschen, die nicht in deren Weltbild passen, Platzverweise auszusprechen meint. Die alsdann herbeigerufenen Dorfcops – denn wer will sich schon von mafiös auftretenden Hilfssheriffs vertreiben lassen, die weder Namen noch die Firma benennen, für die sie arbeiten – hatten so auch keinen Bock mehr und haben halt ne Verwarnung ausgesprochen. Was es alles gibt… Na wahrscheinlich waren die Dorfknäste doch nicht so geräumig und schon in den Wochen davor zu sehr belegt. Immerhin ein kostenloser Schlafplatz und was zu Fressen.
Auch sonst hat sich die Stadt Westerland, und hier kommen wir wieder auf traditionelle Ausgrenzungs- und Vertreibungspolitik zurück, sich was einfallen lassen. Nachts werden die öffentlichen Klos abgeschlossen. Bleibt also wieder nur der Blumenkübel in der Einkaufsmeile. Der Bahnhof wird ebenso verschlossen. Also wieder zurück in die Einkaufsmeile oder mit etwas Glück in eine windgeschützte Bankautomatenschleuse. Baden im Brunnen geht auch nicht mehr, das Wasser wurde abgestellt. Die eine Handbreit tiefe Suppe darin ist wohl Gerüchten zufolge auch die Folge der verschlossenen Klos.

Das einzige nachts noch Offene ist der örtliche McDoof. Der wird von Sicherheitsdiensten bewacht und aufs Klo gehts auch nur noch, wenn vorher fein konsumiert und der Zahlencode auf dem Kassenbon am elektronischen Schloss eingegeben wird. Freilich mit dem nett gemeinten Hinweis an der Tür, nur einzeln einzutreten.

Immerhin hat das Essen bei McDoof dafür gesorgt, dass noch schön in die Einkaufsmeile gekotzt werden konnte, so in etwa von wegen „Sylt sehen und sterben“, oder eben einfach nur zum Kotzen.
Der erste Zug aufs Festland fuhr um sechs morgens, die Wartehalle des Bahnhofs war noch immer verschlossen, die Bullenwannen wurden auf die Züge gefahren und die ersten Menschen, die auf der Insel prekär arbeiten und sich dort die Mieten nicht mehr leisten können – wenn es denn überhaupt noch Mietwohnungen gibt, die nicht in Plattensiedlungen untergebracht sind – pendeln auf die Insel, um die Touris und Reichen zu bewirten, ihre Häuser zu putzen, ihren Müll wegzuschaffen, ihre Kassen zu besetzen und ihre Hotels, Geschäfte und Luxusimmobilien zu bewachen. Welch ein Paradies.

Die Kurve zurück nach Erfurt gelingt hier wohl durch das Aufzeigen von Parallelen. Auch hier ist die Situation öffentlicher Klos zum Kotzen, in der Innenstadt wohnen kaum noch Menschen, der Tourismus steht an erster Stelle, die arbeitende Bevölkerung muss aus den Randsiedlungen einpendeln und Bauseweins Steckenpferd Alkoholverbot wird hier und dort herausgekramt, trifft aber doch fast nur die Leute, die nicht in das Bild der guten Stube passen. Junge Menschen werden nachts aus den Parks verjagt, zu Zeiten der BuGa auch mal von privaten Sicherheitsfirmen. In den warmen Monaten schlafen Menschen auf Parkbänken anstatt in den zahlreichen Hotels, die nur der zahlenden Kundschaft vorbehalten sind. Menschen sammeln Pfandflaschen und Dosen, schnorren vor den Supermärkten. Das gewohnte Bild halt. Sylt ist überall und allenfalls ein Symbol für die gepriesenen Errungenschaften des Kapitalismus und dessen Verwertungsideologie.
So stellen wir uns sicherlich weiterhin die alte Frage: Wem gehört die Stadt? Sicherlich nicht nur jenen, die das entsprechende Kapital aufbringen und so zum Beispiel die Notwendigkeit von Wohnraum dazu benutzen, um daraus Profit zu schlagen.

Die nächste Verhandlung am Amtsgericht Erfurt in Sachen Wohnraum vs. maximales Profitbestreben findet übrigens am 17.11.2022 um 10 Uhr am Amtsgericht Erfurt, Rudolfstraße 46 statt. Wer uns solidarisch unterstützen möchte ist dazu herzlich eingeladen. Kommt dann etwas eher, da es wie üblich Eingangskontrollen geben wird.

Eure Querulantin Madame Yvette.

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