Annäherung an das Unfassbare

Die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken organisierten vom 6. bis zum 10. April 2015 zu einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz eine Reise nach Krakau/ Polen. Im Folgenden will ich meine Eindrücke, insbesondere in Hinsicht auf den Besuch der Vernichtungslager, darstellen und versuchs- oder ansatzweise reflektieren. Vielen Dank für die fruchtbare Kritik gilt dem Genossen Philipp. Von Max Unkraut.

I. Unwahre Wirklichkeit

„Dein aschenes Haar Sulamith“ (Paul Celan) blitzte mir, beim Anblick der ca. acht Tonnen Haare vernichteter Jüdinnen und Juden in Auschwitz – wie eine Zauberformel –, immer wieder als Gedanke auf. So als würde man das, was man nicht fassen oder vorstellen kann, weil man nur darüber weiß, sich dadurch begreiflich machen wollen, indem man es geistig reproduziert. Im Terminus „be-greifen“ steckt, sich mittels der Sinne etwas im Bewusstsein anzueignen. Fühlt man nun den Boden unter den Füßen, auf dem der Großteil der europäischen Jüdinnen und Juden von den Deutschen ermordet wurde; sieht man die Haare, die Kleidung, die Koffer derselben; steht man vor den Krematorien und Gaskammern, dann merkt man, dass der menschliche Geist für dieses Grauen kein Verständnis vorgesehen hat. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, so definierte Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft die transzendentale Bedingtheit der Erkenntnis des Subjekts vom Objekt, d.h. die Möglichkeit der Erfassung von Wirklichkeit durch ein Individuum. Bei Auschwitz scheint diese Möglichkeit an ihre Grenze zu treten. Man hat Anschauungen und Begriffe und trotzdem bleibt es unbegreifbar. Als Konsequenz der Unfassbarkeit der Wirklichkeit fühlt man sich aus eben dieser Welt herausgeschnipst und in einen leeren Raum ohne Zeit gestellt, so befremdlich ist es an diesem Ort, so ungeordnet das eigene Denken.

Vielleicht ist es in Ergänzung dazu der Widersinn desselben, der sich vor die Verarbeitung des Gesehenen und Gehörten schiebt. Wir gehen davon aus, zumindest die meisten, dass diese Welt, so wie sie also konstituiert ist, einen Sinn hat. Einige legen ihn in die Lohnarbeit, andere in ihre Hingabe an Gott, die meisten wahrscheinlich in irgendeine Form der Liebe, wieder andere meinen ihn, in einem Hobby zu erfüllen. All diese Illusionen – Erscheinungen von denen man denkt, sie seien wahr und natürlich – werden zerstört durch Auschwitz, für einen Moment allemal. Zur Illusion gehört auch, dass man um sie zwar wissen kann, aber die sinnliche Verarbeitung trotz dessen sich nicht ändert. Wie der scheinbar abgeknickte Strohhalm im Wasserglas, der wahrlich sein Bild der Lichtbrechung verdankt, selbst mit diesem Wissen für die Optik geknickt bleibt, weiß man nach Auschwitz, dass die Wirklichkeit fundamental auf Sinn verzichtet; aber: man lebt weiter, als würde man dies im selben Sinne noch können.

Die Verstandesbegriffe Kants haben als apriorische Bestimmungen des transzendentalen Subjekts universelle Bedeutung. Sie gelten demnach für alle Menschen gleichermaßen. Während bei Kant diese Allgemeinheit jedoch idealistisch konstituiert ist, findet man sie materialistisch betrachtet als Ausdruck der polit-ökonomischen Verhältnisse vor: die Kategorien, die die Synthesis zwischen Anschauung und Begriffen vollziehen sollen und durch die wir die Welt zu fassen suchen, speisen ihre Realität nicht aus einem ideellen Wesen wie dem transzendentalen, d.h. objektiven, Subjekt; sondern sie sind Ideologie, das richtige Bewusstsein der falschen Verhältnisse, d.h. des Kapitalismus.

In diesem werden Subjekte als gesellschaftliche Objekte durch das Geld – das Ausdruck des Wertverhältnisses ist – synthetisiert. Dies Wertverhältnis selbst aber ist irrational, weil es die Trennung des Menschen in Gattung und Individuum negativ zu bewerkstelligen sucht, indem sich die Totalität (die Gattung) als Münze verdinglicht, zwischen die Einzelnen schiebt und in Beziehung setzt, während diese sich dadurch gegenseitig ausschließen. Denn um als Mensch zu gelten, muss man schließlich alles, d.h. unendlich viel Kapital akkumulieren, was wiederum nur dann möglich ist, wenn andere dafür ausgebeutet werden.

Zeigt daher Auschwitz die Sinnlosigkeit auf, diejenige also der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ordnung, die alles andere als nach dem vernünftigen Plan der Menschen eingerichtet ist, und damit auch der subjektiven Existenz, weil der Tod sich dem Leben nicht als sinnhaft darstellen kann, dann geraten auch die apriorischen Kategorien ins Wanken, wodurch man die eigene Entfremdung, die zuvor noch durch die Fetischisierung des Bestehenden überdeckt wurde, spürt, d.h sich ihr gewissermaßen bewusst wird. Anders gesagt: der Schleier der Ordnung, der durch die Verstandesbegriffe aufrechterhalten wird, fällt mit der Einsicht in die Sinnlosigkeit derselben. Dadurch setzt das Gefühl der Desintegration ein, die schon zuvor bestand. „Dein aschenes Haar Sulamith“ ritusartig zu wiederholen, war vielleicht ein Versuch der Refetischisierung von mir, um wieder zurückzukommen, indem der Begriff hier noch den Anspruch vertreten will (und vielleicht auch kann) das Moment der Sinnlosigkeit durch Lyrik wenigstens fassbar zu machen, ohne es dabei zu rationalisieren.

II. Erinnernde Reflexion gegen reflexhaftes Erinnern

Überhaupt war „Wiederholung“ das zentrale Credo der Auschwitz-Gedenkfahrt der Falken. Diese hat man aber anders als das rituelle Repetieren einer Floskel zu verstehen, nämlich als „Erinnerung“. Das, was passiert ist, denkend wieder-zu-holen, war daher zentraler Bestandteil der Unternehmung. Dazu gehörte nicht lediglich das Gedenken vor Ort, sondern ebenso das theoretische Durchdringen des Vernichtungsantisemitismus, aber auch anderer Themen wie die Kontinuität der Bedingungen desselben, Antiziganismus, der Rolle der Täterinnen usf. Hierzu boten Falken-Mitglieder und Einzelpersonen Workshops an, in denen jene aufgearbeitet werden sollten. Dass eine vollständige Aufarbeitung in diesem Rahmen nicht stattfinden kann, war nach meinem Eindruck den Anbietenden der Workshops klar. Vielmehr konnte es lediglich darum gehen, Fragen aufzuwerfen und Perspektiven einer vernünftigen Kritik aufzuzeigen. Warum ist aber die Reflexion über Auschwitz notwendig?

Ein Indiz hierfür kann man im Umgang mit Auschwitz durch den Staat finden. Der Betroffenheitsethos, der alle Jahre wieder durch den Staat vollzogen wird und mehr eine unangenehme Pflicht darzustellen scheint als vielmehr ein richtiges Interesse am Thema, gibt einen Hinweis darauf, dass es mit dem Niederlegen einer Blume und dem Vortragen einer Rede, nicht getan ist. Mit Adorno und Horkheimer kann man kurzgefasst konstatieren, dass in „der Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt, […] sich erst die Idee verwirklichen [könnte – M.U.], die bisher unwahr blieb, daß der Jude ein Mensch sei“ (Dialektik der Aufklärung). Soll heißen: der Staat als Initiator des Gedenkens an Auschwitz kann gerade deshalb kein vernünftiger sein, weil er erstens die Gewalt (re)produziert, die in Auschwitz kulminiert ausbrach, und zweitens sich die Vernichtung zur Legitimation der eigenen Existenz nutzbar macht, indem er von sich behauptet, der Garant der Nicht-Wiederholung zu sein.

Aber auch wenn man ergänzend dazu sieht, in welchen mannigfaltigen Formen der Antisemitismus heute noch auftritt: sowohl in seiner irrational-pogromhaften Art als willkürlicher Angriff auf Jüdinnen und Juden, Synagogen usf. als auch in rational-organisierter Form und mal mehr, mal weniger gut getarnt als Antizionismus, angeblicher Antinationalismus, Banken- und Zinshetze, Antiamerikanismus, Islamophilie bspw. bei hippiesken Eso-Gruppen wie den Montagswahnwichteln usf.; dann wird deutlich, dass Auschwitz noch allgegenwärtig ist.

An Auschwitz zu erinnern, müsste demnach heißen, sich dessen Bedingungen in theoretischer Reflexion zu vergegenwärtigen und durch sie hindurch die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten; denn offenbar bestehen jene Voraussetzungen noch immer. Abgesehen von der individuellen Beschäftigung mit dem Thema, stehen hierfür Arbeitskreise zur Verfügung, die das Aufarbeiten erleichtern können. Ich will daher an dieser Stelle darauf hinweisen, dass einerseits dienstags ab 19:30 Uhr der AK Nationalsozialismus sich mit diesem Thema beschäftigt, andererseits, dass die Workshops der Gedenkstättenfahrt vom Landesverband der Falken Thüringen in Thüringen aktuell wiederholt werden.

III. Schuld und Rache

Ich fühlte mich schuldig als ich durch das Stammlager Auschwitz lief, was mir zunächst befremdlich war. Gehört es doch ganz zentral zu meinem Selbstverständnis, mich nicht als „deutsch“ sondern vielmehr als „antinational (im Besten Sinne)/ antideutsch“ zu verstehen. Es kam mir vor, als sähen die mir unbekannten Besucher jenen Vermerk in meinem Personalausweis und blickten mich deshalb finster an. Sicher bin ich mir im Klaren darüber, dass meine Psyche mir in diesem Moment ein Schnippchen schlug, indem sie in andere legte, was ich mir selbst vorwarf, obwohl die geknickten Gesichter wohl nicht gänzlich halluziniert gewesen sein dürften, wenn man davon ausgehen kann, dass sich hierin ebenso das Unverständnis gegen Auschwitz zeigte.

Der „Kommunismus,“ so die Formulierung in Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten, „die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft, verlangt, soll er gelingen, etwas Unmögliches: Rache für die Toten, für die Opfer der Barbarei; zugleich aber auch, daß niemand anders behandelt werde als nach seinem eigenen Maß: Gerechtigkeit für die Lebenden“ (ca ira-Verlag). Ich denke, hierin zugleich Ent- und Belastung dieses Paradox‘ meines Schuldgefühls zu finden. Einerseits artikuliert sich darin, dass man selbst einfach noch zu wenig gelesen und getan hat, um die vernichteten Jüdinnen und Juden zu rächen – eine gewisse Ohnmacht also; das impliziert andererseits die bewusste Ablehnung von jener Gesellschaft, die dies Unrecht hervorrief. Der oder die Ablehnende mit seinem oder ihrem Bedürfnis nach Rache und dem Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, muss sich daher irgendwie zurechtfinden sowie integrieren. Nur so – in der partiellen Verdrängung der Wirklichkeit und das meint auch derjenigen von Auschwitz, d.h. dem Aufrechterhalten der Ideologie, dass zum Beispiel die momentane Liebe eine wahre sei oder die Freude am Abend beim Trinken in der J151 eine unbeschwerte – kann man überhaupt noch so etwas wie leben. Wenn das alles aber für einen Moment zusammenbricht, wie ich oben versucht habe auszuführen, dann scheint es unmöglich noch irgendein Glück zu verspüren.

Und doch ist es notwendig, sich dem Schein nicht ständig zu entziehen. Wer kämpfen will, der muss am leben bleiben – physisch und psychisch. So wird das, was man unter die Terminologie „bürgerliche Kälte“ (Hermann, Thomas/ Schweizer, Philipp: Wie wollen wir gedenken? In der Heft-Reihe: 24h sind kein Tag) subsumieren kann, zynischerweise eine Bedingung zur Rettung; oder umgekehrt: zur Abschaffung derselben. Insofern ist dieser Zynismus gar nicht so weit hergeholt. Schließlich beinhaltet der Kapitalismus die technischen u.a. Bedingungen zur Errichtung des Communismus, die aber in Auschwitz in ihr Gegenteil umgeschlagen sind.

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